Demokratie unter Lockdown
Serbien wurde von den schwersten Protesten seit Jahren erschüttert. Das reicht noch lange nicht für einen Machtwechsel. Doch es kratzt das Image von Präsident Vučić an, dessen Regierung immer mehr wie ein Regime agiert.
Eine Horde Polizisten prügelt auf einen Mann am Boden ein. Drei Jugendliche, die friedlich auf einer Parkbank sitzen, werden aus dem Nichts mit Schlagstöcken angegriffen.
Die verwackelten Videos, die kürzlich spät nachts auf Twitter und Instagram hochgeladen wurden, zeigen eine Polizeigewalt, wie sie Serbien schon lange nicht mehr erlebt hat. Viele sagen sogar: seit den Protesten gegen den Machthaber Slobodan Milosević nicht mehr.
20 Jahre später ist es sein ehemaliger Propaganda-Minister, gegen den tausende Menschen protestierten, und das mitten in der Corona-Pandemie. Aleksandar Vučić – seit 2017 Präsident, eigentlich nur mit repräsentativen Funktionen ausgestattet, aber de facto der starke Mann Serbiens – steht in der Kritik, zwei Dinge in kurzer Zeit manipuliert zu haben. Erstens, die am 21. Juni abgehaltene Wahl, von manchen als demokratiepolitische Farce bezeichnet, unter anderem deswegen, weil Vučić die Medien dominierte, obwohl er gar nicht als Kandidat zur Wahl stand. Zweitens, die Zahlen der an Corona infizierten und gestorbenen Menschen, die in Serbien angeblich viel höher sein sollen als von den Behörden kommuniziert. In intakten Demokratien würde nur eines davon ausreichen, um sofort zurückzutreten.
Gewalt hilft dem Präsidenten
In Serbien ist es umgekehrt. Dort hilft die eskalierende Gewalt dem Präsidenten, Feindbilder und Verschwörungstheorien zu bedienen. So etwa die Warnung, dass der Protest von ausländischen Agenten gesteuert werde.
Diese Rhetorik ist nicht neu. Seit Jahren gehen in Serbien Regierungsgegner auf die Straße. Und seit Jahren werden sie vom Präsidenten und seiner rechtsnationalen Fortschrittspartei (SNS) ignoriert, denunziert oder belächelt. Ein Beispiel sind die Samstags-Kundgebungen die 2018 ausgelöst wurden, nachdem der linke Oppositionspolitiker Borko Stefanović krankenhausreif geprügelt worden war. Sie fanden unter dem Slogan „#1od5miliona“ (Einer von 5 Millionen“) statt. Der Spruch spielt auf ein berühmt gewordenes Zitat von Vučić an: „Selbst, wenn sich fünf Millionen von euch versammeln, werde ich nicht eine einzige eurer Forderungen erfüllen.“ Damit hat er klargemacht, dass ihn der überwiegende Großteil der Wahlberechtigten (6,6 Millionen) nicht weiter interessiert.
Demonstrieren – das ist also durchaus noch möglich in Serbien, einem Land, das von der US-amerikanischen NGO „Freedom-House“ unlängst von einer Demokratie auf ein „Hybrides Regime“ herabgestuft wurde. Die Frage ist, ob das, was auf der Straße gefordert wird, auch wirklich oben ankommt. Sind die jüngsten Proteste anders?
Der Südosteuropa-Experte Florian Bieber von der Universität Graz sieht zwei Punkte. Zum einen gebe es diese unverhältnismäßig ausgeübte Polizeigewalt. Zum anderen demonstrierten die Menschen spontan, ohne dass sich eine Führungsperson, etwa aus den Kreisen der Opposition, an ihre Spitze stellte. „Die Gewalt hat gezeigt, wie blank die Nerven des Regimes liegen und dass es sich längst nicht mehr an rechtsstaatliche Regeln hält“, sagt Bieber.
Zweifelhafter EU-Aspirant
Offiziell ist Serbien ein EU-Beitrittskandidat mit Aussicht auf Mitgliedschaft, vorausgesetzt, der seit 20 Jahren schwelende Konflikt mit dem Kosovo wird endlich gelöst und Reformen werden umgesetzt. Mittlerweile scheint Vučić eher bereit, sich mit Pristina zu einigen, als Pressefreiheit, Opposition und faire Wahlen zuzulassen. Vučić regiert Serbien im Stil eines Viktor Orbán, des ungarischen Miniterpräsidenten. Nirgendwo hat das tiefere Spuren hinterlassen als im Mediensektor. Öffentlich-rechtliche TV-Sender sowie reichweitenstarke Boulevardzeitungen sind der Regierungspartei hörig. Oppositionspolitiker kommen kaum zu Wort, was der Fortschrittspartei im Wahlkampf einen enormen Wettbewerbsvorteil beschert, wie die EU-Kommission zuletzt offen kritisierte. Regierungskritische Enthüllungen gibt es zwar, aber sie erreichen die Mehrheitsgesellschaft schon lange nicht mehr.
Marija Vučić – nicht verwandt mit dem Präsidenten – arbeitet für KRIK, eines der letzten verbleibenden Medien, die nicht von Regierung oder ihr nahestehenden Geschäftsleuten kontrolliert werden. Sie erzählt, dass es 2019 rund 120 Attacken auf Journalisten gegeben habe, darunter neben verbalen Drohungen auch 17 physische Angriffe. Sie beklagt, dass staatliche Behörden und Ministerien immer häufiger ihre Anfragen ignorieren.
So geht es auch Journalisten des investigativen Netzwerkes „BIRN“, die im Juni über manipulierte Corona-Statistiken berichteten und auf eine Mauer des Schweigens stießen, als sie Minister beziehungsweise Experten des Krisenstabes damit konfrontieren wollten.
Das war aber noch nicht der Auslöser für den Protest. Das Fass zum Überlaufen brachte eine
Pressekonferenz am 7. Juli, in der Vučić eine Ausgangssperre für das Wochenende verkündete. Um zu verstehen, warum das so viele Menschen wütend gemacht, muss man einige Monate zurückblicken, an den Beginn der Pandemie.
Der wechselhafte Umgang mit Corona
Die serbische Regierung hielt es mit Covid-19 wie mit einem Lichtschalter, der sich nach Belieben ein- oder ausschalten lässt. Ende Februar sprach ein medizinischer Berater des Präsidenten vom „lächerlichsten Virus der Geschichte“. Mitte März wurde dann doch ein Ausnahmezustand inklusive Ausgangssperre verhängt – das Militär patrouillierte in den leeren Straßen, Menschen über 65 durften ihre Wohnung gar nicht mehr verlassen. Am Wochenende galt eine totale Ausgangssperre, die in Extremfällen bis zu vier Tage anhielt. Nur wenige europäische Länder haben so drastischere Corona-Maßnahmen verhängt wie Serbien.
Dann, ein Monat vor der Wahl am 21. Juni, wurden die Maßnahmen plötzlich gelockert. 25 000 Fußballfans standen dicht an dicht im Stadion. Discos und Restaurants durften wieder öffnen, ohne Abstandsregeln und Maskenpflicht. Vučić verkündete den Sieg über das Virus und versprach, jedem volljährigen Bürger umgerechnet 100 Euro auszuzahlen. Trotz niedriger Wahlbeteiligung und dem Boykott der Opposition erreichte die Fortschrittspartei mit rund 63 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit. Marija, die serbische Journalistin, erzählt, wie sie am Wahlabend die Nachrichten verfolgte: „Parteimitglieder küssten und umarmten sich gegenseitig, ohne Maske und Sicherheitsabstand. Später stellte sich heraus, dass sich mehrere von ihnen mit Corona angesteckt hatten.“
Einen Tag nach der Wahl, so Marija, drehte sich die Stimmung erneut. Das vermeintlich besiegte Virus war zurück. Die Menschen beschlich das Gefühl, dass die Maßnahmen nur gelockert worden waren, um Wahlen abzuhalten. Auch dann, als Vučić ankündigte, dass es doch keinen Lockdown geben werde, ging der Protest weiter. Das zeigt, dass der Frust sich nicht gegen ein weiteres Wochenende ohne Spaziergänge und Fußballspiele richtete, sondern gegen den maroden Zustand der Demokratie im Allgemeinen. Und gegen das Gefühl, belogen und ausgetrickst worden zu sein. Wie kann es dann sein, dass all das dennoch im Sand verlaufen ist?
Der schwer zu greifende Protest
Dem Protest fehlt es einerseits an Führung, andererseits an einem „klaren, ideologischen Profil“, wie es Bieber von der Universität Graz ausdrückt. Unterschiedliche, zum Teil verfeinde Gruppen strömten auf die Straße – linke Reformer, Studenten und Proeuropäer ebenso wie Nationalisten, gewaltbereite Hooligans und ultraorthodoxe Priester. Manche fordern mehr Demokratie, andere die Rückeroberung des Kosovo, jene ehemalige Provinz, die sich 2008 für unabhängig erklärte, ein Schritt, den Serbien nie anerkannt hat.
Bis heute ist außerdem unklar, wer die gewaltbereiten Hooligans waren, die sich gezielt unter die Menge mischten. „Es gibt das Gerücht, dass sie vom staatlichen Geheimdienst entsandt wurden, um Gewalt zu schüren und den Protest als illegitim erscheinen zu lassen“, sagt Marija, die Journalistin. Bieber sagt, beweisen lasse sich das freilich nicht; es gebe nur Indizien, die darauf hinweisen, dass gewisse Fußball-Hooligans der Regierung traditionell nahestehen.
Rückblickend waren die Hooligans für Vučić ein Geschenk. Sie lenkten vom friedlichen Widerstand gegen ihn ab.
Zwei Tage, nachdem der Protest losgebrochen war, es ist Donnerstag der 9. Juli, sitzt Vučić in einem Privatjet und nimmt ein Video für seine Instagram-Seite auf. Er ist auf dem Weg nach Paris, um sich mit dem französischen Präsidenten Macron zu treffen. Es ist dieselbe Woche, in der die EU den Dialog zwischen Belgrad und Pristina wiederbeleben will, der zuletzt 20 Monate ausgesetzt worden war. In dem kurzen Video auf Instagram bezeichnet Vučić die Demonstranten als kriminelle Hooligans und verspricht, Stabilität und Frieden wiederherzustellen.
Zu jenem Zeitpunkt sitzen tausende Demonstranten friedlich vor dem Parlament. Sie tragen Gesichtsmasken und weiße T-Shirts, um sich von den vermummten, oft ganz in Schwarz gekleideten Hooligans zu distanzieren. Wie immer tut Vučić so, als gäbe es sie nicht.
Im Serbien des Jahres 2020 stellt sich die Frage eines Machtwechsels gar nicht. Vučić sitzt fester im Sattel, denn je. Er genehmigt seinen Kritikern kleine Freiräume – im Parlament, den Medien, auf der Straße. Doch sie erweisen sich als schalldichte Echokammern – egal wie laut man schreit, niemand hört es mehr.
Franziska Tschinderle, geboren 1994, ist Journalistin mit Südosteuropa Schwerpunkt. Im September erscheint ihr erstes Buch, eine Reportage-Reihe über Albanien.
Internatipnale Politik, Juli 2020, Online exklusiv