IP

01. März 2015

Ground Zero of Rape

Im Osten Kongos und im Norden Nigerias ist Gewalt gegen Frauen endemisch

1994 begannen die aus Ruanda geflüchteten Völkermörder der FDLR damit, Massenvergewaltigungen im Ostkongo „strategisch“ ein- zusetzen – mit unvorstellbarer Brutalität. Der Krieg ist heute abgeflaut, die Verbrechen an Frauen gehen aber unvermindert weiter – und finden im Norden Nigerias in der Terrorkampagne der Boko Haram Nachahmer.

Kavumu ist ein Ort, wie es sie zu Tausenden in den Hügeln von Südkivu gibt: zwei Dutzend Lehmhütten, rostige Wellblechdächer, kein Strom und keine geteerte Straße. Was den Weiler in die Schlagzeilen gebracht hat, ist eine Reihe von Vergewaltigungen, denen ausschließlich Mädchen im Alter zwischen zwei und zehn Jahren zum Opfer fallen. 29 solcher Fälle sind inzwischen dokumentiert. Die Panzi-Stiftung aus der Regionalstadt Bukavu, die dort ein Hospital speziell für Vergewaltigungsopfer betreibt, hat schon vor langer Zeit Strafanzeige erstattet. Passiert ist trotzdem nichts. Dabei gehen die Täter unglaublich brutal vor. Die Mädchen werden nicht nur vergewaltigt, sie werden regelrecht verstümmelt. „Die Verletzungen sind häufig so verheerend, dass diese Mädchen als Erwachsene keinen sexuellen Verkehr mehr haben können“, sagt Yvette Kabuo, die Rechtsanwältin der Panzi-Stiftung.

Der Osten Kongos hatte über viele Jahre den Ruf, die für Frauen gefährlichste Region der Welt zu sein. „Ground Zero of Rape“ wird sie in Anlehnung an die Terroranschläge von New York genannt. Der Albtraum begann mit dem Genozid in Ruanda 1994 und der Flucht der Völkermörder nach Kongo. Deren Miliz, die sich „Forces Démocratiques de Libération du Rwanda“ (FDLR) nannte, errichtete in den beiden Provinzen Nord- und Südkivu ein regelrechtes Terrorregime.

Eine ihrer Methoden waren Massenvergewaltigungen. Dahinter steckte die Absicht, die soziale Kohäsion der eroberten Dörfer zu zerstören. Frauen stehen für den familiären Zusammenhalt – und sie garantieren den Fortbestand eines Volkes, weil sie Kinder gebären und großziehen. Zerstört man diese soziale Klammer, zerstört man die Zukunft. Diese „Strategie“ wurde systematisch angewandt und führte dazu, dass es in den von der FDLR kontrollierten Gebieten ganze Dörfer gab, in denen jede Frau mindestens einmal vergewaltigt worden war. Die Vorgehensweise dabei war von unvorstellbarer Brutalität: Die Täter penetrierten die Frauen mit allem, was sie finden konnten: mit abgebrochenen Flaschenhälsen, glühenden Eisenstangen und Gewehrläufen.

Das schiere Ausmaß dieser Verbrechen ist unbekannt. Doch alleine die Zahlen der Panzi-Klinik in Bukavu machen schaudern. Das von dem kongolesischen Gynäkologen Denis Mukwege gegründete Hospital hat sich auf die plastische Wiederherstellung von zerstörten Geschlechtssteilen spezialisiert. 40 000 solcher Operationen haben Mukwege und sein Team in den vergangenen 16 Jahren vorgenommen, was dem Arzt den Ruf einbrachte, der weltweit führende Spezialist auf seinem Gebiet zu sein. Weil Mukwege aber nicht nur operiert, sondern auch die Umstände der Verletzungen recherchiert, lebt der Mann gefährlich. Im Oktober 2012 entkam er nur knapp einem Mordanschlag. Vermutlich stand das Attentat im Zusammenhang mit seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, in der er einmal mehr alle Kriegsparteien im Ostkongo der Massenvergewaltigung beschuldigt hatte.

Der Krieg ist zu Ende, die Vergewaltigungen gehen weiter

Der Krieg im Osten Kongos ist inzwischen nahezu beigelegt. Die FDLR ist von ihrer einstigen Truppenstärke von nahezu 20 000 Mann auf vielleicht noch 1500 Kämpfer zusammengeschrumpft. Auch die restlichen Rebellengruppen in Ostkongo haben nicht zuletzt aufgrund eines robusten Auftretens der UN-Schutztruppen drastisch an Schlagkraft eingebüßt. Dennoch nimmt die Panzi-Klinik nach wie vor im Schnitt zehn vergewaltigte Frauen am Tag auf, von denen jede dritte so schwer verletzt ist, dass sie sich plastischer Chirurgie unterziehen muss. Denn die Vergewaltigungen haben nicht aufgehört, nur weil der Krieg abgeflaut ist. Sie gehen unvermindert weiter. Lediglich die Täter haben gewechselt.

In dem Maße, in dem die Untaten von Soldaten beziehungsweise Rebellen zurückgehen, nehmen „zivile“ Vergewaltigungen zu. Einer Studie der Harvard Humanitarian Initiative (HHI) zufolge wuchs die Zahl der „gewöhnlichen“ Vergewaltiger in Kivu binnen vier Jahren um einen zweistelligen Wert. Aus diesem Befund lässt sich ableiten, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen von Teilen der kongolesischen Gesellschaft offenbar akzeptiert wird. Der Grund dafür ist eine soziale Verrohung, die eine direkte Folge der Barbarei der vergangenen 20 Jahre ist. Die Forscher aus Harvard begründen diese Entwicklung mit einem „Zusammenbruch traditioneller Strukturen“.

Früher, sagt Jocelyn Kelly, eine der Autorinnen der Studie, sei es so gewesen: „Wenn ein erwachsener Mann einem minderjährigen Mädchen nachstellte, kam der Ältestenrat zusammen und sanktionierte diesen Mann.“ Heute sei die althergebrachte Autorität buchstäblich vom Faustrecht abgelöst worden. Das habe auch damit zu tun, dass Gewalt, insbesondere sexuelle Gewalt, so gut wie nie geahndet werde. Zwar hatte das kongolesische Parlament schon 1996 drastische Strafen für sexuelle Delikte beschlossen, doch sind diese bislang Absichtserklärungen geblieben. Die Anwaltsvereinigung „American Bar Association“ hat in den vergangenen Jahren mehr als 200 Klagen wegen Vergewaltigung vor kongolesischen Gerichten betreut, und das Ergebnis ist niederschmetternd: In lediglich 30 Fällen wurde ein Urteil gefällt, 28 davon waren Schuldsprüche.

Ein Markt für die „Ware“ Mädchen

Immerhin wird im Kongo die Existenz dieser Form von Gewalt gegen Frauen nicht mehr geleugnet. Völlig anders stellt sich gegenwärtig die Situation im Nordosten Nigerias dar, der seit mehr als fünf Jahren von den Islamisten von Boko Haram mit einer beispiellosen Terrorwelle überzogen wird. Der Name Boko Haram bedeutet: „Bildung ist Sünde“, und dass die Steinzeitislamisten dies ernst meinen, wurde im April vergangenen Jahres in der Ortschaft Chibok deutlich: Mehr als 200 Mädchen im Alter von 13 bis 18 Jahren wurden dort aus einem Internat entführt, wo sie sich auf ihre Prüfungen vorbereitet hatten. Der Anführer der Islamisten, Abubakar Shekau, kündigte anschließend an, die Mädchen zu „versklaven und zu verkaufen“. Es gebe einen Markt für diese „Ware“, prahlte Shekau.

Das war psychologische Kriegsführung der besonders perversen Art. Nicht nur, dass Boko Haram den Eltern dieser Mädchen seine Allmacht demonstrierte, indem die Terrorgruppe ihre Kinder entführte; die Islamisten degradierten sie zu einer Ware, deren Preis sich nach Angebot und Nachfrage richtet. Mit anderen Worten: Die Opfer wurden nicht nur ihrer Freiheit beraubt, sie wurden auch entmenschlicht. Von den 219 Schülerinnen fehlt bis heute jede Spur – trotz großangelegter Suchaktionen, an denen sich unter anderem auch Einheiten der US-Armee beteiligten, bis sich diese frustriert von der Unfähigkeit und Unwilligkeit ihrer nigerianischen Kameraden zurückzogen. Niemand weiß, was aus den Mädchen geworden ist und wo sie sich befinden. Im Herbst vergangenen Jahres hieß es aus Nigeria, die Regierung habe sich mit Boko Haram auf eine Freilassung der Geiseln im Austausch gegen inhaftierte Islamisten geeinigt. Der Deal platzte, weil Boko Haram angeblich für jede Schülerin einen Gefangenen eintauschen, die nigerianische Regierung aber nur rund ein Dutzend Islamisten freilassen wollte.

Unterdessen gehen die Entführungen von Frauen und Mädchen in Nord­nigeria unvermindert weiter. In jeder Ortschaft, die von Boko Haram überfallen und zerstört wird, wird die weibliche Bewohnerschaft systematisch verschleppt. Zuletzt war das Anfang Januar in Baga am Tschad-See so, wo nach unbestätigten Informationen mehr als 100 Frauen als „Kriegsbeute“ entführt worden sein sollen. Ihr Schicksal ist unbekannt.

Verlässliche Informationen über die Gesamtzahl dieser Entführungen liegen schon deshalb nicht vor, weil sich offenbar niemand die Mühe macht, sie zu zählen. Das beste Beispiel dafür war die Freilassung von insgesamt 192 Frauen und Mädchen am 23. Januar 2015 in Damaturu. Sie waren Anfang Januar bei einem Überfall auf die Ortschaft Katarko von Boko Haram verschleppt worden. Außer ihren direkten Angehörigen wusste niemand von diesen Geiseln. Auch die Hintergründe ihrer Freilassung liegen im Dunkeln. Mutmaßlich haben die Dorfbewohner ihr gesamtes Vermögen für das Lösegeld aufgebracht.

In jüngster Zeit hat sich Boko Haram zudem auf Selbstmordattentate verlegt, die von Frauen begangen werden. Der Grund dafür ist einfach: Die potenziellen Anschlagsziele – Wochenmärkte – sind für Frauen leichter zugänglich als für einen schnell verdächtig wirkenden Mann. In der Logik der Islamisten ist eine Frau außerdem entbehrlicher als ein Mann, der kämpfen kann. Über die Motive dieser Selbstmordattentäterinnen ist nichts bekannt. Dass sie sich freiwillig in die Luft sprengen, darf allerdings bezweifelt werden, wie zwei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen. Bei einem Anschlag im Januar 2015 in der Stadt Potiskum versuchte die zweite Attentäterin zu fliehen, nachdem der Sprengsatz der ersten Frau detoniert war. Sie flog nur wenige Schritte entfernt in die Luft, was Beobachter an ferngezündete Sprengsätze glauben lässt. Das Gleiche spielte sich einen Tag später in der Stadt Maiduguri ab. Die dortige Attentäterin soll nach Aussagen von Überlebenden höchstens zehn Jahre alt gewesen sein.

Thomas Scheen ist Afrika-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Johannesburg.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2015, S. 30-34

Teilen

Mehr von den Autoren