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01. Okt. 2005

Großmannssucht – oder aufgeklärte Interessenpolitik?

Deutschlands Rolle in den Vereinten Nationen

60 Jahre nach Kriegsende ist das wiedervereinigte Deutschland stärker als je zuvor mitverantwortlich für internationale Stabilität und Ordnung. Diese Aufgabe hat es angenommen. Aber wer Verantwortung übernimmt, sollte auch am Entscheidungsprozess teilhaben. Daher bewirbt sich Deutschland um einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Es wird von einer großen Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten unterstützt.

Die Bedingungen für internationale Sicherheit und Stabilität haben sich in den letzten 15 Jahren grundlegend verändert. Das gilt im besonderen Maße für Deutschland und Europa. Die wichtigsten Parameter sind hier die Überwindung des Ost-West-Konflikts, in dem Deutschland „Frontlinienstaat“ an der Grenze der beiden höchstgerüsteten militärischen Bündnisse der Nachkriegswelt war, die Wiedervereinigung Deutschlands und die Erweiterung der Europäischen Union, ein Prozess, der zwar – wie die gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden zeigen – Probleme mit sich brachte und für viele Bürger Westeuropas zu schnell verlief, aber unbestreitbar zu einem immensen Zuwachs an Sicherheit und Stabilität führte.

Deutschland hat wieder seine „Mittellage“ in Europa eingenommen – aber es ist, erstmals in seiner Geschichte, von Partnern und Freunden umgeben. Denn anders als in früheren Jahrhunderten ist die „deutsche Frage“ gelöst. Mit diesen Partnern und Freunden ist es im Prozess der europäischen Integration durch ein immer enger werdendes Netzwerk politischer, wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Beziehungen verbunden. Nicht Gleichgewicht – das Konzept Bismarcks –, sondern europäische Integration hat sich als der Königsweg zur Sicherheit in Europa erwiesen.

Deutschland liegt folglich nicht mehr im Zentrum eines weltpolitischen Krisenszenarios. Damit ist – auch das gehört zur Analyse – zugleich ein gewisser Aufmerksamkeitsverlust seitens der globalen Ordnungsmacht USA verbunden. Die USA brauchen Deutschland weniger denn zu Zeiten der Ost-West-Auseinandersetzung. Aber Deutschland braucht auch die USA weniger als Schutzmacht, was die Spielräume deutscher Außenpolitik vergrößert. Deutschland ist nicht mehr automatisch ein „Ja-Land“, wie es Eckart Lohse in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausdrückte.1

Diesem Sicherheitszuwachs steht jedoch auch ein Verlust an Sicherheit, oder, genauer gesagt, an Sicherheiten gegenüber. Der 11. September 2001 ist das Menetekel, das die Abgründe der neuen Gefahren markiert. Die Eisglocke des bipolaren, atomar aufgeladenen Ost-West-Konflikts hatte nationalistische, ethnische, religiöse und andere Spannungen gleichsam eingefroren. Diese Spannungen haben sich seitdem – auf dem Balkan, im Kaukasus, in Afghanistan und Zentralasien, in Indonesien und in Afrika – zum Teil explosiv entladen. Mittels des Netzwerks des international agierenden fundamentalistischen Terrors sind sie in die westlichen Staaten hineingetragen worden. Neu und erschreckend an diesem Terrorismus ist zum einen, dass diese asymmetrische Bedrohung das im Verhältnis zwischen Staaten bewährte Rezept der Sicherheit, die Abschreckung, unterlaufen hat. Zum anderen hat diese Gefahr – insofern Ausdruck und Symbol der Globalisierung – die klassische Unterscheidung von äußerer und innerer Bedrohung und damit die Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Sicherheit problematischer, wenn nicht obsolet gemacht.

Was folgt aus den veränderten Rahmenbedin-gungen für die Rolle Deutschlands im internationalen System? Heute ist das vereinigte, wieder voll souveräne Deutschland aufgrund seines Gewichts, seiner geostrategischen Lage und nicht zuletzt seiner Geschichte in stärkerem Maße als je zuvor mitverantwortlich für internationale Stabilität und Ordnung. Die beiden deutschen Teilstaaten waren lange Jahre Importeur von Sicherheit. Heute aber ist das wiedervereinigte Deutschland dazu aufgerufen, Sicherheit zu „exportieren“ – und das in einem ganz umfassenden Sinn, nämlich im Einklang mit der Erkenntnis, dass Sicherheit längst nicht mehr rein militärisch definiert werden kann. Gefordert ist ein aktives Einstehen für den Dreiklang von Frieden, nachhaltiger Entwicklung und Schutz der Menschenrechte weltweit, den Kofi Annan zu Recht zum Leitmotiv seines Reformberichts „In größerer Freiheit“ gemacht hat.2 Ein solches Engagement erwartet die Welt von uns, es entspricht aber auch unserem eigenen Interesse an Frieden und Stabilität in Europa und darüber hinaus. Dazu engagieren wir uns im Rahmen der EU, der NATO und der Vereinten Nationen.

Der Reformprozess der Vereinten Nationen

Alle diese Organisationen müssen kontinuierlich den sich ändernden Rahmenbedingungen angepasst werden, um ihren Aufgaben und Zielen gerecht werden zu können. Neue Herausforderungen erfordern nicht nur neue Antworten, sie erfordern zum Teil auch neue Strukturen. Nur ein Multilateralismus, der effektiv ist, findet Akzeptanz. Eine Organisation, der der Vorwurf gemacht wird, Millionen zu verschlingen, von korrupten Vertretern aus aller Herren Länder dominiert zu werden und dabei nichts weiter zustande zu bringen als blutleere Resolutionen, wird insbesondere denjenigen einen Vorwand bieten, sich zurückzuziehen, die ohnehin mehr auf die eigene Stärke bauen als auf die Kraft breit abgestützter Legitimation. Organisationen, die so zentral für Frieden und Entwicklung weltweit sind wie die Vereinten Nationen, dürfen diesen Vorwand nicht bieten. Die Herausforderungen sind zu ernst, als dass es die internationale Staatengemeinschaft sich leisten könnte, den erforderlichen Anpassungsprozess zu verschlafen. Darum ist es so essenziell, den von Kofi Annan geforderten Prozess einer umfassenden Reform der Vereinten Nationen nach Kräften zu unterstützen.

Die Menschheit steht vor globalen Gefahren, die keine Rücksicht nehmen auf nationale Grenzen. Dazu gehören der bereits erwähnte internationale Terrorismus, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, die international operierende Kriminalität ebenso wie zahlreiche Bürgerkriege, die oftmals Flüchtlingsströme, Staatszerfall und regionale Instabilität mit sich bringen. Dazu gehören aber auch extreme Armut, sich rasch verbreitende Infektionskrankheiten wie HIV/AIDS sowie die globale Umweltzerstörung und der Klimawandel. Gemeinsam ist diesen Herausforderungen, dass die Staaten dieser Welt sie nicht im Alleingang, sondern nur in globaler, zumindest regionaler Zusammenarbeit bewältigen können. Kein Staat kann also für sich allein Sicherheit und damit Frieden und Wohlstand gewährleisten. Deshalb ist die Entwicklung eines funktionsfähigen Systems kooperativer Sicherheit auf globaler Ebene die zentrale politische Aufgabe für das 21. Jahrhundert. Den Vereinten Nationen als Entscheidungsgremium zur Lösung globaler Fragen kommt hier die Schlüsselrolle zu.

Dabei geht es darum, das gesamte UN-System effizienter und transparenter zu machen. Die umfassenden Reformvorschläge des Generalsekretärs beziehen sich deshalb auf die interne Verwaltung, die Generalversammlung und den Wirtschafts- und Sozialrat, den Menschenrechts- und Entwicklungsbereich und den Bereich der völkerrechtlichen Normensetzung. Sie zielen selbstverständlich auch auf die Reform des Sicherheitsrats, dem zentralen Gremium für die Wahrung des internationalen Friedens. Der Generalsekretär selbst hat mehrfach unterstrichen, dass jede Reform der UN ohne eine Reform des Sicherheitsrats unvollständig sei. Doch es geht Deutschland nicht primär und erst recht nicht ausschließlich um die Reform des Sicherheitsrats. Jeder Schritt, der die UN effektiver macht, ist aus deutscher Sicht ein Gewinn: für die Vereinten Nationen, aber auch für Deutschland selbst.

Warum Deutschland einen ständigen Sitz anstrebt

Der Sicherheitsrat im Jahre 2005 entspricht grosso modo dem Sicherheitsrat des Jahres 1945. Trotz seiner Erweiterung um vier nichtständige Mitglieder im Jahre 1965 reflektiert er die internationalen Kräfteverhältnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs. Seine ständigen Mitglieder, die P-5, sind die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs, Staaten des „Nordens“ und Kernwaffenmächte. Die Regionen des „Südens“ dürfen lediglich als nichtständige Mitglieder in der „Holzklasse“, befristet auf zwei Jahre, Platz nehmen. Doch im Gründungsjahr hatten die UN 51 Mitglieder, heute sind es mit 191 fast vier Mal so viel. Die meisten kommen aus den Regionen des Südens.

Es ist also nicht verwunderlich, dass die Staaten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas den Sicherheitsrat nicht als „ihren“ Sicherheitsrat betrachten. Dies ist kein kleiner Mangel angesichts der Tatsache, dass seine Agenda weitgehend von den Krisenherden der Dritten Welt bestimmt wird. Im Gegenteil, die mangelnde „ownership“ des Südens beeinträchtigt ganz wesentlich die Akzeptanz, die Legitimität und damit auch die Effizienz seiner Beschlüsse. Daraus ergibt sich umgekehrt, dass die Regionen des Südens zu „Teilhabern“ des Sicherheitsrats gemacht werden müssen, will man dessen Wirksamkeit stärken. Dazu genügt keine kurzfristige Mitgliedschaft; wir brauchen ihr kontinuierliches Engagement, auch in der Kategorie der ständigen Mitglieder.

Um es zusammenzufassen: In Anbetracht der neuen Herausforderungen können wir es uns nicht länger leisten, dass das zentrale Gremium, das über Frieden und Sicherheit in der Welt entscheidet, ein Gremium des letzten Jahrhunderts ist. Der Sicherheitsrat muss die Realitäten der Welt von heute widerspiegeln, um handlungsfähiger zu werden. Das erfordert die Mitsprache auf gleicher Augenhöhe für die Länder des Südens. Der wachsenden Bedeutung wichtiger Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ist also Rechnung zu tragen und zwar in einer Weise, die ihre beständige Teilhabe sicherstellt.

Doch wie das von Kofi Annan einberufene Hochrangige Expertengremium in seinem Abschlussbericht im Dezember 2004 hervorgehoben hat, sollen auch diejenigen Industrieländer stärker an den Entscheidungen des Sicherheitsrats beteiligt werden, die wesentliche Beiträge zur Wahrung des Weltfriedens leisten.3 Dies trifft in besonderem Maße für Japan und Deutschland zu. Beide Staaten zusammen tragen etwa 20 Prozent der staatlichen Entwicklungshilfe und sogar 30 Prozent des UN-Haushalts. Sie gehören zu den großen Truppenstellern für UN-mandatierte Friedens-missionen. Und doch erklären diese Fakten nur zum Teil, warum Deutschland einen ständigen Sitz anstrebt. Sie erklären noch viel weniger, warum uns andere Staaten darin unterstützen sollten.

Entgegen der gelegentlich zu lesenden Häme geht es bei Deutschlands Kandidatur für einen ständigen Sitz keineswegs um „Großmannssucht“4 oder um ein auftrumpfendes „Wir sind wieder wer!“. Es geht darum, dass zur größeren Mitverantwortung, in die das ungeteilte Deutschland genommen wird, auch eine verstärkte Teilhabe am Entscheidungsprozess gehört. Es geht also um Interessenwahrung für unser Land und für Europa. Es geht um Mitsprache bei Entscheidungen, die auch uns unmittelbar betreffen. Dazu gehören die Mandate für Friedenseinsätze und die internationale Normensetzung. In beiden Bereichen hat der Sicherheitsrat seit Ende des Kalten Krieges stark an Bedeutung gewonnen.

Nachdem Auslandseinsätze der Bundeswehr noch bis in die neunziger Jahre ein Tabuthema waren, ist Deutschland inzwischen einer der bedeutendsten Truppensteller für UN-mandatierte Friedens-missionen. Derzeit sind rund 8000 deutsche zivile und militärische Experten vor allem auf dem Balkan und in Afghanistan, aber auch in vier UN-Missionen in Afrika sowie in Georgien im Einsatz. Da wir ein „Parlamentsheer“ haben, erfordert der Einsatz deutscher Streitkräfte die Zustimmung des Deutschen Bundestags. Als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat könnte Deutschland bereits bei der Formulierung der Mandate für diese Missionen seine Interessen besser wahren.

Von Bedeutung ist auch ein Mitspracherecht bei Entscheidungen, die direkt in unsere Rechtsordnung eingreifen. Denn der Sicherheitsrat betätigt sich zunehmend als „Weltgesetzgeber“. Sicherheitsratsresolutionen wie Resolution 1373 zur Unterdrückung der Finanzströme von Terroristen (Oktober 2001) und Resolution 1540 zur Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen an nichtstaatliche Akteure (April 2004) enthalten bindende Regelungen zur Sperrung von Konten und Vermögenswerten von Terrorismusverdächtigen, zu verstärktem internationalen Informationsaustausch, zur Gesetzgebung gegen Proliferation von Massenvernichtungswaffen sowie zu entsprechenden Kontrollmechanismen, die alle direkt die Arbeit von deutschen Ministerien betreffen. Ein ständiger Sitz würde uns also die Möglichkeit geben, kontinuierlich für die Werte und Ziele einzustehen, die unsere Außen- und Sicherheitspolitik charakterisieren.

Eine größere Mitsprache sind wir auch unserer Bevölkerung schuldig, die immer direkter von den in internationalen Gremien getroffenen Entscheidungen betroffen wird – nicht nur in ihrem Geldbeutel. Ein Mehr an Mitsprache wird zweifellos ein Mehr an Auseinandersetzung über Deutschlands internationales Engagement hervorrufen, was notwendig und wünschenswert ist. Denn das Fehlen eines breiten öffentlichen Diskurses über Deutschlands Platz in der Welt wird zu Recht bedauert. Dem vagen Unbehagen über unkontrollierbar erscheinende globale Prozesse muss eine informierte Debatte entgegengestellt werden, in der auch klar wird, welche Einwirkungsmöglichkeiten wir haben. Ansonsten riskieren wir, dass die grundsätzlich positive Einstellung der Deutschen zum Multilateralismus ins Wanken geraten könnte. Ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat wäre ein besonders sichtbares Instrument der Mitsprache. Als solches würde er langfristig größeres Verständnis dafür schaffen, dass Deutschland seine Interessen in der Globalisierung nur wahren kann, wenn es über den nationalen Tellerrand hinausschaut und mitbaut an unserer „einen Welt“.

Neben diesen Gründen, warum wir einen ständigen Sitz anstreben, gibt es aber auch Gründe, warum die große Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten eine stärkere Rolle Deutschlands befürwortet. Das gilt nicht nur für deren Regierungen: Laut einer BBC-Umfrage von Anfang 2005, durchgeführt unter 30 000 Personen in 23 Ländern, unterstützt die deutliche Mehrheit einen ständigen Sitz für Deutschland.5 Der zentrale Grund für diese weltweite Unterstützung ist Deutschlands Ruf als glaubwürdiger Multilateralist. Dieser begründet sich zum einen an unserem Umgang mit der eigenen Geschichte. Wir haben nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur seit 1945 ein demokratisches Staatswesen aufgebaut, das vielen Ländern Vorbild ist. Anders etwa wäre die ungeheure Nachfrage nach deutschen Verwaltungsexperten, Juristen und Polizeiausbildern in Postkonfliktsituationen kaum zu erklären.

Da Deutschland keine jüngere koloniale Vergangenheit hat, sind wir auch neokolonialer Aspirationen unverdächtig. Wir können deshalb unbefangener auf viele Staaten des Südens zugehen als etwa die derzeitigen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Dabei hilft auch unser Ansehen als einer der größten Geber von bi- und multilateraler Entwicklungshilfe. Zudem zeigen wir als Hochtechnologieland mit dem unbestreitbaren Potenzial zur Herstellung von Nuklearwaffen durch unseren generellen Verzicht auf ABC-Waffen, dass wir unsere Nichtverbreitungs-Verpflichtungen ernst nehmen.

Vor allem Deutschlands Eintreten für die Einhaltung und Stärkung des Völkerrechts und die Achtung der Menschenrechte tragen zu unserem Ansehen bei. Beispiele sind hier unsere Unterstützung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, aber auch unsere am Völkerrecht orientierte Haltung im Vorfeld des Irak-Kriegs von 2003.

Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum sich Deutschland mit Japan, Brasilien und Indien zu der so genannten G-4 zusammengetan hat – auch um nach Außen zu signalisieren, dass es hier um ein Reformvorhaben geht, das alle, die Staaten des Nordens wie des Südens, gleichermaßen betrifft. Nach ausgiebigen Konsultationen mit den UN-Mitgliedstaaten haben die G-4 zusammen mit 23 weiteren Staaten am 6. Juli 2005 einen Resolutionsentwurf für eine Erweiterung des Sicherheitsrats um ständige und nichtständige Mitglieder in die Generalversammlung eingebracht.

Dass dieser Entwurf nicht auf die ungeteilte Zustimmung aller UN-Mitglieder treffen würde, ist wenig überraschend, ebenso wenig, dass es in der Frage von Teilhabe und Mitsprache wohl nie zu einer Konsens-lösung kommen kann. Wie die Debatten in New York und den Hauptstädten der UN-Mitgliedstaaten jedoch gezeigt haben, wird der G-4-Entwurf von einer Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten unterstützt. Im Gegensatz zu den von den Staaten des so genannten „Coffee-Club“ oder der Afrikanischen Union kurz darauf eingebrachten Resolutionsentwürfen hat lediglich der G-4-Entwurf Aussicht darauf, die für eine Charta-Änderung erforderliche Zweidrittel-Mehrheit in der Generalversammlung zu erhalten. Es gibt also bis auf Weiteres nur die Alternative zwischen dem G-4-Vorschlag und der Erhaltung des Status quo.

In seiner Rede vor der 58. Generalversammlung im September 2003 hat Kofi Annan die Situation der Weltgemeinschaft mit der nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen und festgestellt, dass wir uns auch heute wieder an einer fundamentalen Wegscheide befinden. Immer mehr UN-Mitgliedern wird klar, dass die Reform der Vereinten Nationen die Zukunft des internationalen Systems für die nächsten 50 Jahre bestimmen könnte. Die Alternativen sind Stagnation und Bedeutungsverlust der Weltorganisation – oder handlungsfähige Vereinte Nationen, die Weltinnenpolitik gestalten können.

Die Herausforderungen für Europa

Die neuen Herausforderungen erfordern auch in anderen multilateralen Strukturen Anpassungen. Das hat Auswirkungen auf Europa und auf die transatlantischen Beziehungen. Deutsche Politik war und ist immer zuerst europäische Politik, schon aufgrund unserer Geschichte und unserer geographischen Lage. Die Förderung des europäischen Integrationsprozesses war daher – unabhängig von der jeweiligen Regierung – ein Merkmal deutscher außenpolitischer Kontinuität. Ein starkes, einiges Europa, das als „global player“ seine Werte und Ziele vertreten kann, liegt stets auch in deutschem Interesse.

Europa muss handlungsfähiger gegenüber den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit werden. Mit der Verabschiedung der Europäischen Sicherheitsstrategie im Dezember 2003 hat sich die EU konzeptionell auf die neuen globalen Herausforderungen eingestellt. Jetzt geht es um die Implementierung, d.h. die Anpassung gerade auch der militärischen Strukturen der EU-Mitgliedstaaten an die neuen Aufgaben. Dazu gehören die Ausrichtung auf Teilnahme an internationalen Friedensmissionen und auf Bereitstellung von schnellen Reaktionskräften im EU-, NATO- und UN-Rahmen sowie eine überzeugende Arbeitsteilung innerhalb der EU und der NATO.

Die große Stärke der EU liegt darin, dass sie über eine einzigartige Kombination von wirtschaftlichen, diplomati-schen und sicherheitspolitischen Instrumenten verfügt, die dazu beitragen können, dauerhaften Frieden zu schaffen. Beispiele sind der Stabilitätspakt für den Balkan und der Barcelona-Prozess. Die Frage, ob und wann Europa zu einer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fähig ist, hat auch Bedeutung für die UN. Denn zweifellos wäre ein ständiger Sitz für die EU im UN-Sicherheitsrat ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung europäischer Interessen. Er war und bleibt langfristig auch das Ziel der Bundesregierung. Doch abgesehen davon, dass Frankreich und Großbritannien auf absehbare Zeit nicht zum Verzicht auf ihren nationalen Sitz bereit sind, zeigt der Ausgang der Referenden in Frankreich und den Niederlanden in bedrückender Deutlichkeit, dass die EU noch nicht „reif“ ist für einen europäischen Sitz.

Solange Europa in Fragen von Krieg und Frieden nicht mit einer Stimme sprechen kann, dient es europäischen Interessen, bei einer Erweiterung des Sicherheitsrats auch die „europäische Bank“ zu vergrößern. Deutschland wäre als überzeugter Fürsprecher der politischen Union bis dahin bereit, im Sicherheitsrat treuhänderisch europäische Interessen zu vertreten. Diese Bereitschaft haben wir bereits während unserer nichtständigen Sicherheitsratsmitgliedschaft 2003/04 unter Beweis gestellt, als wir uns für eine möglichst weitgehende Einbeziehung der EU-Partner in die Sicherheitsratsarbeit eingesetzt haben. Diese Praxis würden wir als ständiges Mitglied vertiefen. Derzeit loten wir mit den EU-Partnern die Möglichkeiten zu einer noch stärker EU-freundlichen Ausgestaltung eines deutschen Sitzes aus. Das Vertrauen in unsere europäische Ausgestaltung eines „deutschen“ Sitzes zeigt sich darin, dass die Mehrzahl der EU-Mitglieder die deutsche Kandidatur unterstützt, darunter acht von ihnen als Miteinbringer des G-4-Resolutionsentwurfs.

Die Anpassung des transatlantischen Bündnisses

Neben der EU bleibt die transatlantische Partnerschaft ein Grundpfeiler deutscher Außen- und Sicherheitspolitik. In partnerschaftlicher Zusammenarbeit mit den USA und Kanada lassen sich die globalen Fragen zumindest leichter lösen – ohne sie mit Sicherheit nicht. Aber anders als zu Zeiten des Kalten Krieges liegen die strategischen Herausforderungen heute vor allem jenseits der alten Beistandszone des Nordatlantikpakts. Sie erfordern oftmals auch eher politische als militärische Antworten. Beispielsweise werden so genannte Failing States ein immer größeres Problem für die internationale Sicherheit. Die Gefahren, die von diesen Staaten ausgehen können – regionale Instabilität und humanitäre Katastrophen, organisiertes Verbrechen und Terrorismus – erfordern Politikkohärenz nicht nur auf nationaler, sondern multilateraler Ebene. Das umfasst militärische, polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit, Entwicklungs- und Handelspolitik. Von strategischer Bedeutung ist auch das Heranwachsen Chinas und Indiens als neue Weltmächte, deren wirtschaftliches und militärisches Gewicht die gesamte Weltpolitik auf lange Zeit prägen wird.

Doch das transatlantische Bündnis hat neuen Herausforderungen wie diesen bislang nur unvollkommen Rechnung getragen. Gerade vor diesem Hintergrund hat der Bundeskanzler Anfang dieses Jahres dazu aufgerufen, die NATO wieder zu dem zentralen Forum zu machen, in dem über gemeinsame strategische Vorstellungen beraten und entschieden wird. Ebenso hat er die Notwendigkeit unterstrichen, einen umfassenden strategischen Dialog zwischen NATO und EU zu führen. Der Bedarf dafür wächst, denn die EU übernimmt – in enger Abstimmung mit der NATO – immer mehr sicherheitspolitische Aufgaben, z.B. in Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und seit Mai 2005 bei der Unterstützung der Friedensmission der Afrikanischen Union im sudanesischen Darfur. Vor diesem Hintergrund wächst auch in den USA die Erkenntnis, dass ein „starkes“, zu echter Partnerschaft, Solidarität und Lastenteilung fähiges Europa im Interesse der USA ist. 

Ähnlich wächst im traditionell UN-kritischen Washington die Einsicht, dass die „globale Ordnungsmacht“ von effizienten Vereinten Nationen nur profitieren kann. Zu diesem Ergebnis kam eine vom US-Kongress beauftragte Expertengruppe unter Leitung des früheren republikanischen Sprechers des Repräsentantenhauses Newt Gingrich und des früheren demokratischen Senators George Mitchell.6 Aus diesem Grund hat die US-Regierung großes Interesse an Reformen des UN-Systems, wenngleich mit anderen Schwerpunkten. Doch selbst wenn sich die USA bislang einer umfassenden Reform des Sicherheitsrats verschließen, sollten auch sie ein Interesse daran haben, die europäische Bank im Sicherheitsrat zu stärken. Denn Europa ist und bleibt engster Verbündeter der USA. Beide stehen für gemeinsame Werte wie Menschenrechte, Demokratie und offene Märkte ein. Ähnlich äußerte sich kürzlich der ehemalige US-Botschafter bei den UN, Karl F. Inderfurth.7

Kein Land der Welt ist allein in der Lage, den neuen internationalen Herausforderungen zu begegnen. Wir brauchen dafür ein starkes und effektives multilaterales System, das einen verlässlichen Rahmen für Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Staaten bietet. Dazu müssen vor allem die Vereinten Nationen handlungsfähiger gemacht werden, aber auch die EU und die NATO bedürfen weiterer Anpassungen. Deutschland hat in besonderem Maße von diesen Organisationen profitiert und ist deshalb zu einer der treibenden Kräfte für ihre Stärkung geworden. Als selbstbewusste europäische Mittelmacht sind wir bereit, konstruktiv an den notwendig gewordenen Reformen mitzuwirken und damit unserer internationalen Verantwortung gerecht zu werden. Das geschieht nicht nur, weil unsere Partner dies erwarten, sondern auch im Bewusstsein, dass wir letztlich nur in multilateraler Zusammenarbeit unsere Interessen wahren können. Deshalb ist auch für Deutschland die Entwicklung eines effektiven Systems globaler kooperativer Sicherheit die zentrale politische Aufgabe für das 21. Jahrhundert.

Das Jahr 2005, der 60. Jahrestag der Vereinten Nationen, kann als einzigartiges Reformjahr in die Geschichte der Weltorganisation eingehen. Während der 60. Generalversammlung haben es die Mitgliedstaaten in der Hand, bedeutende Reformen zu beschließen und die Grundsteine für deren Umsetzung zu legen. Dabei wird auch die Reform des Sicherheitsrats unabdingbar sein. Denn die veränderten weltpolitischen Rahmenbedingungen, die eine Reform erforderlich machen, werden weiter bestehen. Die kommenden Wochen und Monate werden zeigen, ob die Mitgliedstaaten die Chance zur Stärkung der Vereinten Nationen ergreifen oder ob sich das „window of opportunity“ wieder – und dann wohl für sehr lange Zeit – schließt.

1 Eckart Lohse: Deutschland ist kein Ja-Land mehr, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.2.2005.

2 Vereinte Nationen: In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle. Bericht des Generalsekretärs. New York, 21. März 2005. Auszüge abgedruckt in Internationale Politik (IP), Mai 2005, S. 138–141.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 34 - 41

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