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01. Juni 2009

Große Verantwortung für Kleine

Nach Prag, vor Stockholm: Die EU vor dem Wechsel der Ratspräsidentschaft

Die kleinen EU-Mitglieder sind, so zeigt die Erfahrung mit Tschechien, nicht in der Lage, die gestiegenen Anforderungen an die EU-Ratspräsidentschaft zu erfüllen. Schweden wird vor allem auf die Ratifizierung des Lissabonner Vertrags hoffen, um erste konkrete Akzente setzen zu können und die Außenwirkung der EU zu verstärken.

Tschechien

Der Wechsel von der tschechischen zur schwedischen EU-Präsidentschaft in Zeiten der größten Finanzkrise, die die moderne Welt je gesehen hat, macht vor allem eines klar: Die EU braucht klarere Strukturen, mehr Integration und eine bessere Außenvertretung. Kleine EU-Länder sind der Koordinierungs- und Führungsaufgabe, die die EU in diesen Krisenzeiten hätte übernehmen müssen, nicht mehr gewachsen. Und selbst der Lissabonner Vertrag, sollte er denn unter schwedischer Ratspräsidentschaft angenommen werden, greift schon heute zu kurz im Hinblick auf die institutionellen Voraussetzungen, die ein einheitliches und konsequentes Handeln der EU erst ermöglichen würden.

Dies ist nur eine verhaltene Kritik an den Tschechen. Denn es ist einfach unglücklich, wenn man einen Staatspräsidenten wie Václav Klaus hat, der aus seiner Fundamentalkritik am Maastrichter Vertrag und damit an den Grundfesten der europäischen Integration keinen Hehl macht. Aber mit der Rede vom 19. Februar vor dem Europäischen Parlament hat Klaus seine Kritik derart überzogen, dass er sich lächerlich gemacht und als nicht ernst zu nehmenden Akteur diskreditiert hat. Und es ist natürlich unglücklich, wenn die eigene Regierung mitten in der Ratspräsidentschaft stürzt. Ministerpräsident Mirek Topolánek, der schon seit längerem schwächelte, konnte die EU allenfalls strauchelnd führen. Quasi als Ehrenrettung hat der tschechische Senat dann noch am 6. Mai dem Lissabonner Vertrag zugestimmt.

Aber selbst wenn die innenpolitischen Voraussetzungen entspannter gewesen wären: Hätte Tschechien eine wirklich überzeugende EU-Ratspräsidentschaft durchführen können? Hätte es gegenüber Russland im russisch-ukrainischen Gasstreit zu Beginn des Jahres energisch auftreten können? Hätte es – wenn die Iren den Wert des Euros und damit ihre europapolitischen Überzeugungen nicht durch die Wirren der Finanzkrise wieder von alleine entdeckt hätten – die irische Diskussion mit Blick auf den Lissabonner Vertrag überzeugend und mit ein wenig Druck beeinflussen können? Hätte es eine entschlossene europäische Führung in der Finanzkrise übernehmen können? Wohl kaum!

Dies liegt nicht daran, dass kleine Länder prinzipiell keine guten Ratspräsidentschaften durchführen können, sondern daran, dass die Anforderungen an die EU und damit an Ratspräsidentschaften gestiegen sind. Jenseits der weitgehend technischen Agenda (Energiepolitik, Klimaschutz, Wachstum und Modernisierung der europäischen Volkswirtschaften), die immer weiter fortgeschrieben wird und in ihrer Fülle kaum zu überschauen ist, steht jedes EU-Land im Moment der Ratspräsidentschaft in der Verantwortung, Führung in globaler Dimension zu übernehmen: Das gilt für einen Krieg in Georgien ebenso wie für die Finanzkrise. Ausreichende personelle Ressourcen sind dabei ebenso wichtig wie Akzeptanz und auch das notwendige Gewicht in einem internationalen Umfeld. All dies ist bei kleinen EU-Staaten immer weniger gegeben.

In der Finanzkrise wie im Gaskonflikt richteten sich die Augen darum wieder auf die großen nationalen Akteure innerhalb der EU, allen voran auf Deutschland und Frankreich, ohne die auf dem G-20-Gipfel Anfang April kein überzeugender europäischer Impuls entstanden wäre (der ohnehin schon schwach genug war). Die Unzulänglichkeit des europäischen Systems, das in entscheidenden Krisensituationen nicht ergebnisorientiert genug ist, fördert die zentripetalen Kräfte innerhalb Europas und damit die Renationalisierungs- und Desintegrationstendenzen, die derzeit mit Blick auf die Finanzkrise in Europa mit den Händen zu greifen sind.

Es wäre falsch, diese Probleme allein den Tschechen anzulasten, die immerhin versucht haben, ein paar wichtige Impulse zu setzen. Am überzeugendsten ist das mit dem Gipfel vom 7. Mai in Prag gelungen, der die neue Östliche Partnerschaft der EU begründet hat. Mit sechs Ländern, die alle für die Stabilität der EU im Osten von zentraler Bedeutung sind (und darüber hinaus auch für grundlegende Eigeninteressen der EU, z.B. ihre Energiesicherheit), hat die EU neue, engagierte Partnerschaftsabkommen geschlossen. Moldawien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine und Weißrussland sind damit ein Stück näher an die EU gerückt – nicht mit Blick auf eine Mitgliedschaft, aber im Sinne einer Verantwortung, die die EU für diese Region übernehmen will.1

Das ist umso wichtiger, weil die NATO als Stabilitätsanker ausfällt: Denn die Idee der NATO-Erweiterung um diese Staaten wird in Russland als Provokation empfunden. Die EU muss in diese Bresche springen, davon sind inzwischen auch die Amerikaner überzeugt. Das ist wohl der entscheidende Impuls, der von Prag ausgegangen ist. Die Grauzone zwischen der EU und Russland schafft ein Machtvakuum, das kooperativ, zusammen mit Russland, gefüllt werden muss. Hoffentlich entstehen aus der Östlichen Partnerschaft der EU konstruktive Ideen, mit denen die Geostrategie des europäischen Kontinents, insbesondere das schwierige Verhältnis zwischen Russland und der EU, neu geordnet werden kann – und zwar nicht auf Kosten der Nachbarstaaten. Dabei darf nicht vergessen werden, dass die östlichen Nachbarn der EU besonders stark (und unverschuldet!) von der Finanzkrise betroffen sind, allen voran die Ukraine. Diesen Staaten jetzt die Solidarität zu entziehen, wäre das falsche Signal.

Schweden

Ab Juli obliegt es dann Schweden, diesen Impuls aufzunehmen und zu vertiefen. Ministerpräsident Carl Bildt strebt an, Georgien und vielleicht auch Moldawien zu „Vorzeigeländern“ erfolgreichen EU-Engagements zu machen; beide Länder, die in den vergangenen Monaten in Krieg und Unruhen versunken sind, verlangen geradezu nach europäischer Einmischung. Beide bieten sich an, um auszutesten, wie die EU aus ihrem de facto bereits bestehenden, aber teilweise technischen Engagement noch mehr politisches Kapital schlagen kann. Dabei geht es nicht um Solidarität oder gar Altruismus, sondern darum, dass die EU ihr Engagement in Friedensmissionen und politischen Aufbau in transformativen Einfluss ummünzt.

Gleiches gilt für die Ukraine mit ihrer enormen geostrategischen Bedeutung. Ein wirtschaftliches oder politisches Wegbrechen, selbst nur dauerhafte Instabilität und Ost-West-Zerrissenheit der Ukraine könnten einen destabilisierenden Dominoeffekt auslösen, den sich die EU, vor allem aber das westliche Nachbarland Polen, wahrlich nicht wünschen kann. Demokratieförderung mit der Rute ist dabei nicht das Mittel der Wahl. Die nach Demokratie und Stabilität dürstenden Zivilgesellschaften in diesen Ländern könnten sehr leicht für die EU gewonnen werden, wenn die EU ganz praktische und sichtbare, auch symbolische Schritte ergreifen würde (z.B. Stadionbau in Kiew), an denen Europa zumal selbst verdienen würde. Leider liegen die Ukraine, wie auch Moldawien oder Georgien, noch immer ganz am Rande der Europa-Karten, wie sie vor allem in Paris und Berlin gezeichnet werden.

Jenseits der Ausformung und Vertiefung der Östlichen Partnerschaft der EU, die unter schwedischer Ratspräsidentschaft in hartnäckiger und konkreter Kleinarbeit (Infrastruktur, Straßenbau, Verwaltungshilfe, Jugendaustausch, Handelsabkommen) unterfüttert werden muss, hatten die Schweden ursprünglich geplant, die „zweite Erweiterungswelle“ der EU anzustoßen, insbesondere mit Blick auf den Balkan und auf die Türkei, mit der die Verhandlungen derzeit festgefahren sind. Auch dies ist kein einfaches Unterfangen in Zeiten, in denen Europa von einer Welle des nationalen und protektionistischen Rückzugs erfasst wird und in denen vor allem die europäischen Zugpferde, Deutschland und Frankreich, keinen Zweifel daran lassen, dass neue Erweiterungsdiskussionen derzeit (und eigentlich generell) nicht erwünscht sind. Die Schweden wissen, dass die Wahlen in Deutschland diese Diskussion zunächst auf Eis legen werden. Dabei bräuchten die Staaten des westlichen Balkans dringend neue positive Signale von der EU, z.B. die klare, schnelle und unbürokratische Zustimmung zu den visafreien Reiseregelungen, um den proeuropäischen Kurs ihrer Regierungen halten zu können. Gerade Deutschland mutiert hier jenseits der großen Öffentlichkeit von einem Erweiterungszauderer zu einem Erweiterungsobstrukteur – sehr zum Kummer von Ministerpräsident Bildt.

Die Schweden wissen auch, dass sich die operative Zeit ihrer Präsidentschaft auf wenige Wochen gegen Jahresende reduzieren wird, bis das neue Parlament und die neue Kommission etwas fester im Sattel sitzen – und ein zweites irisches Referendum hoffentlich gut überstanden ist. Carl Bildt macht sich darum keine Illusionen über die Schlagkraft der schwedischen EU-Präsidentschaft. Er möchte die transatlantische Agenda vorantreiben, jetzt, da die USA in vielen Politikbereichen, z.B. Afghanistan oder Klimaschutz, formuliert haben, wohin die Reise gehen soll. Aber er weiß, dass sich die transatlantische Agenda erst 2010 unter spanischer Ratspräsidentschaft und im Vorfeld des EU-USA-Gipfels im Juni 2010 in Madrid voll entfalten wird. Er möchte die EU auch als Akteur im Nahost-Konflikt positionieren, wo sie mehr denn je als Vermittler, Perspektiv- und Geldgeber gebraucht werden könnte. Er möchte die EU möglichst geschlossen und als internationale Leitfigur in die Klimakonferenz in Kopenhagen am Jahresende führen; die Chancen stehen nicht schlecht, dass die EU hier überzeugend auftreten kann. Er muss die Finanzkrise dafür nutzen, die Governance-Strukturen der Eurozone zu verbessern und die europäische Bankenaufsicht und die Regulierung der Finanzmärkte zu gestalten. Vor allem aber möchte er eines: die nächste schwedische Ratspräsidentschaft (und die anderer überforderter Kleinstaaten) vermeiden.

Sollte der Lissabonner Vertrag ratifiziert werden, werden die Schweden laut Carl Bildt möglichst früh klare Akzente setzen für die Ausgestaltung des Europäischen Auswärtigen Dienstes und damit für die Ausgestaltung der Kompetenzen des Hohen Beauftragten für die Außen- und Sicherheitspolitik sowie des zukünftigen Europäischen Präsidenten. Damit soll beiden möglichst viel Raum und Volumen im europäischen System gegeben werden – vor allem mit Blick auf die Außendarstellung und Außenwirkung der EU. Keinen besseren Dienst könnte man der Union erweisen, damit sie möglichst geeint und gestärkt durch die aktuelle und alle zukünftigen Krisen kommt.

Dr. ULRIKE GUÉROT leitet das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations.

  • 1Vgl. dazu den Beitrag von Armando García Schmidt und Yannis Tsantoulis, S. 79 ff.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 68 - 71.

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