Buchkritik

01. Mai 2021

Große Erwartungen

Vier Neuerscheinungen zeichnen ganz unterschiedliche Bilder von Deutschland und seinen außenpolitischen Herausforderungen. In einem sind die Autoren sich einig – in der Hoffnung, dass Berlin seiner Führungsverantwortung gerecht werden möge.

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Bild: Illustration eines Buches auf einem Seziertisch
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Vier Bücher zu Deutschland und seiner Außenpolitik sind hier vorzustellen, zwei von ihnen ähneln sich in manchem. In beiden haben es sich die Autoren vorgenommen, die weltpolitische Lage zu erhellen und daraus Schlussfolgerungen für die deutsche Außenpolitik abzuleiten. Verfasst wurden beide von außenpolitischen Praktikern – der eine als Bundeskanzler, der andere als Diplomat und Parlamentarier im Europaparlament und im Bundestag.



Bei der Bestandsaufnahme der Herausforderungen nehmen in beiden Büchern Amerika, China, Russland und die Türkei breiten Raum ein. Und auch bei den Schlussfolgerungen gibt es Überschneidungen: Die Autoren fordern entschieden „mehr Europa“ und verlangen von Deutschland, dabei seiner Führungsverantwortung gerecht zu werden, um ein neues, weltpolitisch handlungsfähiges Europa zu schmieden. Auch in der Dringlichkeit ihrer Mahnungen gleichen sie sich: „Letzte Chance“, tönen Gerhard Schröder und sein Mitautor Gregor Schöllgen, gleichzeitig sein Biograf. Und bei Alexander Graf Lambsdorff lesen wir vom „heraufziehenden kalten Krieg“ insbesondere mit China, bei dem es um einen „fundamentalen Systemkonflikt geht, der uns in unserer Lebensweise bedroht“.



Aber dann beginnen die Unterschiede, und die haben es in sich. Bei Alexander Graf Lambsdorff heißt es: „Mehr Westen“, also: gemeinsam mit Amerika. Bei Schöllgen/Schröder dagegen soll zunächst einmal die NATO abgeschafft werden: Mehr Russland demnach? Der antiamerikanische Reflex zieht sich wie ein roter Faden durch ihre Analyse, konsequent ignorieren sie den entscheidenden Unterschied zwischen Amerika und Europa auf der einen und Russland, der Türkei und China auf der anderen Seite: den zwischen demokratischer und autoritärer (oder neototalitärer) (Außen-)Politik.



Ob Demokratie oder Autokratie, das spielt für die Weltstrategen Schöllgen und Schröder keine Rolle: Ihre Bestandsaufnahme kommt ohne den ethisch-politischen Kompass aus, der bei Lambsdorff zu Recht breiten Raum einnimmt: Außenpolitische Selbstbehauptung ist ja nicht Selbstzweck, sondern rechtfertigt sich aus der politischen Ordnung, in der wir als Deutsche und Europäer leben wollen.



Wenn Gregor Schöllgen und Gerhard Schröder für eine „neue Weltordnung“ plädieren, dann ist ihnen die alte, liberale Weltordnung offenbar nicht gut genug – der Gedanke, sie zu erneuern und fortzuentwickeln, wie Lambsdorff das vorschwebt, kommt ihnen nicht. Ihre normativ-politischen Grundlagen werden schlichtweg ignoriert – und damit auch der entscheidende Unterschied zwischen den großen Mächten: Die Frage nämlich, was sie in ihrer Außenpolitik jeweils antreibt.



Es sind nicht etwa die ehernen Gesetze der Geopolitik, wie bei Schöllgen/Schröder unterstellt wird, sondern die Herrschaftsordnungen im Inneren, die bestimmen, wie ein Staat sich geopolitisch aufstellt und verhält. Der durchgängige Antiamerikanismus und das wohlwollende Verständnis für ein angeblich bedrohtes, gefährdetes Russland führen dazu, dass die wirklich bedeutsamen Unterschiede unter den Tisch fallen. Für die Autoren sind die USA der geopolitische Täter, Russland das Opfer. Die Annexion der Krim und die Destabilisierung der Ukraine waren, nun ja, wohl völkerrechtswidrig, aber irgendwie doch auch Notwehr. Dass Wladimir Putin auf deutschem Boden morden und russische Hacker in den Bundestag einbrechen lässt: geschenkt.



Auch in einem weiteren zentralen Punkt unterscheiden sich die beiden Bücher. Bei Lambsdorff wirkt die Analyse nicht nur normativ fundiert, sondern auch inhaltlich auf der Höhe der Zeit: Hier wird die Diskussion der Beziehungen zu den großen Mächten immer wieder auf die inneren Grundlagen der Außenpolitik zurückbezogen und zugleich der Blick auf neue außenpolitische Herausforderungen wie Klimawandel und Digitalisierung gerichtet. So entsteht ein umfassendes, abgewogenes und insgesamt überzeugendes Bild von dem, was der deutschen Außenpolitik in den kommenden Jahren ins Haus steht.



Die Analyse von Schöllgen und Schröder wirkt dagegen wie aus der Zeit, genauer: aus dem 20. Jahrhundert gefallen. Die beiden wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart, der Klimawandel und die Digitalisierung, fallen hier schlicht unter den Tisch. Kann das ein Versehen sein? Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass das etwas mit der Tätigkeit eines der Autoren für eines der größten fossilen Brennstoff-Unternehmen weltweit zu tun haben könnte. Und beim Thema Technologie gibt es mit den Hacker-Aktivitäten in der Grauzone zwischen russischen Diensten und organisierter Kriminalität ja ebenfalls ein für die Freunde von Wladimir Putin etwas heikles Thema. So entsteht der Eindruck, dass die Lückenhaftigkeit und der etwas antiquierte Beigeschmack der Analyse Methode haben könnten.



Bewundernder Blick

Gerhard Schröder hat übrigens auch bei John Kampfners bewunderndem Blick auf Deutschland einen längeren Auftritt. Kampfner lobt einige der außenpolitischen Entscheidungen des Ex-Bundeskanzlers, besonders die für eine Beteiligung Deutschlands am Kosovo-Einsatz der NATO 1999 und die gegen die Irak-Intervention der Regierung Bush 2003. Schröders Russland-Bilanz dagegen nennt Kampfner, kein Freund von Nord Stream 2, „erschreckend“.



Insgesamt geht es ihm, wie auch dem amerikanischen Historiker Walser Smith, nicht in erster Linie um Deutschlands Außenpolitik, sondern um ihre Grundlagen: um Deutschlands innere Befindlichkeit als Land und seine daraus entspringende Rolle in der Welt.



Im Mittelpunkt stehen dabei die Geschichte und die Erinnerungskultur. Bei Kampfner ist das vor allem die Erinnerung an die deutsche Katastrophe des Nationalsozialismus, des Holocausts und des Krieges. Immer wieder unterstreicht er in seinem Blick auf Deutschland als „Bollwerk der Vernunft und der Stabilität“, dass es seine Stärke zu einem großen Teil aus seinem Erinnerungsvermögen beziehe, aus dem Umgang mit seiner schmerzhaften Geschichte.



Sein Panorama Deutschlands, das er in sechs Kapiteln zeichnet, beginnt daher mit „Wiederaufbau und Erinnerung“, ehe sich der Verfasser dem Osten zuwendet – „Im Osten nichts Neues“. Kampfner arbeitete nach etlichen Jahren in Westdeutschland für kurze Zeit als britischer Korrespondent in der DDR und erlebte dort die Wiedervereinigung. Später kommen die Themen Einwanderung, Wirtschaft, Gesellschaft und ein Kapitel („Den Kinderschuhen entwachsen“), das der deutschen Außenpolitik gewidmet ist. Dabei stimmt auch Kampfner ein in das Plädoyer für eine stärkere Führungsrolle Deutschlands, in Europa und in der Welt und verurteilt die Zögerlichkeit, mit der Berlin sich dieser Verantwortung bislang entzogen habe.



Auch bei Kampfner geht es um viel: Er sieht Freiheit und Demokratie in Gefahr und beschreibt Deutschland als „Europas größte Hoffnung in dieser Ära des Nationalismus, der Gegenaufklärung und der Angst“. Die großen Hoffnungen und Erwartungen an Deutschland leitet der Autor aus dessen Reife ab, wurzelnd in einer „fast schon morbiden Art, immer wieder aufs Neue die Erinnerung aufleben zu lassen“.



Ähnlich sieht das auch Helmut Walser Smith in seiner eindrucksvollen Rückschau auf das komplizierte Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land über die vergangenen 500 Jahre hinweg. Mit einer Fülle von klug zusammengestelltem Material zeichnet er den – für ihn keineswegs unausweichlichen und vorbestimmten – Weg in die Gewaltorgien des Nationalismus und des Nationalsozialismus nach.



Zwei Vorstellungen spielen dabei eine wichtige Rolle: Die Idee, sich selbst, das eigene Leben für das Vaterland aufzuopfern – und dann die weit erschreckendere, der Massenmord als vaterländische Pflicht. Wie Kampfner sieht auch Walser Smith das neue, vereinte Deutschland trotz aller problematischen Tendenzen als gereift und somit auch als gewappnet gegen die Gefahren des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus.



Beide Autoren bringen am Ende ihrer sehr unterschiedlichen Bestandsaufnahmen ein großes Vertrauen in dieses Land zum Ausdruck. Das geeinte Deutschland sei zu einer Nation geworden, die zur Empathie fähig sei, bringt es Walser Smith auf den Punkt. Können wir uns ein schöneres Kompliment wünschen? Und müssen doch auch ein wenig bange hoffen, dass diese Zuversicht gerechtfertigt bleiben möge.

 

Gregor Schöllgen/Gerhard Schröder: Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen. München: DVA 2021, 256 Seiten 22,00 Euro

Alexander Graf Lambsdorff: Wenn Elefanten kämpfen. Deutschlands Rolle in den kalten Kriegen des 21. Jahrhunderts. Berlin: Propyläen Verlag 2021, 304 Seiten 24,00 Euro

John Kampfner: Warum Deutschland es besser macht. Ein bewundernder Blick von außen. Hamburg: Rowohlt 2021, 208 Seiten 12,00 Euro

Helmut Walser Smith: Germany. A Nation in Its Time. Before, During and After Nationalism, 1500 – 2000. New York: Liveright Publishing Corporation, a Division of W. W. Norton & Company 2020, 608 Seiten 39,95 US-Dollar

 

Prof. Dr. Hanns W. Maull ist Senior Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und Senior Associate Fellow beim Mercator Institute for China Studies (MERICS).

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 124-126

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