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01. Mai 2021

Going Global

Die britische Regierung hat eine neue Marschrichtung für die Wirtschaft ausgegeben. Die City of London soll den Weg nach Übersee bahnen. Doch bis dahin ist es weit.

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Bild: Nächtliche Skyline der City of London
Zu einem Exodus biblischen Ausmaßes, wie ihn manche nach dem Brexit-Votum prophezeit hatten, ist es bislang nicht gekommen: Trotz Verlusten bleibt London ein wichtiges globales Finanzzentrum.
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Die über 2000-jährige Geschichte der City of London, heute Synonym für das Finanzviertel, ist nicht gerade arm an Schlüsseldaten. Die Gründung der ersten Börse 1571 trug wesentlich dazu bei, dass London bald Amsterdam als wichtigsten Finanzplatz in Europa überholen konnte. Als 1801 die London Stock Exchange als Institution begründet wurde, ebnete dies nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich den Weg für die zweite industrielle Revolution, in der gewaltige Kapitalsummen durch London geschleust wurden.



1945 war gleichfalls von Bedeutung. Es markierte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Beginn des Wiederaufbaus der Weltwirtschaft, bei dem die City eine wesentliche Rolle spielte. Dann kam 1986: der „Big Bang“. Die Regierung von Margaret Thatcher deregulierte den Finanzplatz. Der Handel wurde computerisiert und eine Ära begann, in der gigantische Geldströme global gehandelt wurden. Der Boom dauerte bis zum Finanzcrash von 2008. Großbritanniens Steuerzahler mussten nahezu 500 Milliarden Pfund (560 Milliarden Euro) aufbringen, um die britischen Banken vor dem Einsturz zu retten und die drohende Kernschmelze des globalen Finanzsystems zu verhindern.



„Londons Ende“?

Geschichte ist ein effektiver Disruptor. Jedes Datum bedeutete eine neue Zukunft. Das gilt auch für 2021, das erste Jahr nach dem Brexit. Wieder einmal steht die City of London vor einer ungewissen Zukunft. Die einen prophezeien den Niedergang, die anderen versprechen den Aufstieg zu neuen Höhen. Bis zum Ende seiner Amtszeit im Dezember 2020 warnte der Gouverneur der Bank of England, Mark Carney, vor den Folgen des Brexit: Er würde „das Ende von Londons Position als Europas wichtigster Finanzplatz“ bedeuten. Dagegen versprach Premier Boris Johnson, die City werde „mit ungeahnter Leichtfüßigkeit und Einfallsreichtum neue Märkte erschließen und ihre Stellung an der Spitze der Finanzwelt weiter ausbauen“.



Wer hat recht? In welche Richtung bewegt sich die City? Wohin steuert das Land wirtschaftlich? Seit dem Brexit-Referendum im Juni 2016 waren Vorhersagen und Unkenrufe unweigerlich mit den beiden konkurrierenden politischen Positionen „Leave“ oder „Remain“ verknüpft. Anhänger des Brexit versprachen das Blaue vom Himmel, die Gegner eine abgründige Zukunft. Nun sind die Propheten verstummt. Die neue Realität ist mehr als ein Quartal alt und erlaubt damit eine nüchterne Sicht in die Zukunft.



Finanzdienstleistungen spielen eine große Rolle für die britische Wirtschaft. Im Jahr 2019 trugen sie rund 132 Milliarden Pfund (152 Milliarden Euro) oder 7 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung des Landes bei. Dass diese Zahlen sich durch den Brexit ändern würden, stand lange schon außer Frage. In den Brexit-Verhandlungen spielte der Finanzdienstleistungssektor keine Rolle, und das war vor allem für amerikanische und asiatische Banken von Bedeutung, denn für die war London traditionell der Brückenkopf für das Europageschäft. Eine Lizenz zum Geldhandel in London bedeutete Zugang zum EU-Binnenmarkt. Seit das Vereinigte Königreich für die EU zum Ausland geworden ist, gilt dieses „Passporting“ nicht mehr. Brüssel erkennt die britische Finanzaufsicht nicht länger automatisch als Äquivalent zum europäischen Aufsichtssystem an. So waren bereits im Oktober des vergangenen Jahres Vermögenswerte in Höhe von 1,3 Billionen Pfund (1,5 Billionen Euro) von Großbritannien in die EU verschoben worden.



Und weil die Londoner Börse seit dem 1. Januar 2021 nicht länger mit Aktien von EU-Unternehmen handeln darf, sank das tägliche Handelsvolumen von 14,6 Milliarden Euro auf 8,6 Milliarden Euro. Damit gab London die Position als größter europäischer Aktienhandelsplatz an Amsterdam ab. Auch bei den Derivaten büßte die City einen erheblichen Teil ihres täglichen Handelsvolumens ein. In diesem Fall profitierte vor allem die Wall Street, wo sich der Handel mit Swaps, die zur Absicherung gegen Zinsänderungen von Euro und Pfund verwendet werden, im Januar verdoppelte. Gemeinsam mit Geld und Handelspapieren verlagerten sich auch viele Jobs. Nach Schätzungen der Buchhaltungs- und Beratungsfirma EY waren dies am Ende des ersten Quartals 2021 rund 7600 Arbeitsplätze.



In Europa außen vor

Für die City of London hat der Brexit zum schlechtesten aller denkbaren Szenarien geführt. Banken aus den USA und aus Singapur haben derzeit leichteren Zugang zum europäischen Markt als britische, und das wird bis auf Weiteres auch so bleiben. Solange Brüssel keine Äquivalenz zwischen den Regulierungsbehörden beider Seiten anerkennt, bleibt Banken aus London der Zugang verschlossen. Die EU hat lediglich einem Memorandum zugestimmt, das „die Rahmenbedingungen für eine freiwillige regulatorische Zusammenarbeit bei den Finanzdienstleistungen“ definiert.

Die zuständige EU-Kommissarin, die Irin Mairead McGuinness, hält dies „momentan für die beste Lösung“. Als Drittland müsste Großbritannien zunächst nachweisen, „dass die Finanzaufsicht nicht den Weg der ‚Light-Touch‘-Regulierung einschlägt, die beim Finanzcrash 2008 so immensen Schaden angerichtet hat“. Erst dann könne man über die Vergabe von Äquivalenzrechten reden. Im Klartext heißt das: Was die City angeht, ist die EU mit dem neuen Status quo zufrieden.



Neue Standards setzen

„Going Global“ – nun muss der Slogan aus dem Brexit-Wahlkampf zwingendermaßen Programm werden. Dafür hat der ehemalige EU-Kommissar Jonathan Hill für die Downing Street einen Bericht über die Zukunft der Regulierung des Finanzsektors geschrieben, in dem er eine wesentliche Richtungsänderung vorschlägt. Die britische Aufsichtsbehörde solle künftig „weniger mit dem Blick in den Rückspiegel agieren, sondern vorausschauend“, schreibt er.



Anders gesagt: Hill definiert Regulierung als ein wirtschaftspolitisches Mittel, um neue Unternehmen nach Großbritannien und in die City zu locken. Damit meint er nicht die „Light Touch“-Regulierung, vor der Mairead McGuinness warnt. Als globales Handels- und Finanzzentrum soll London ein globales Vorbild für eine Marktregulierung werden, das Wettbewerb und Innovation fördert und damit neue Standards definiert.



FinTech-Start-ups sind ein gutes Beispiel. Am Rande der City haben sich in den vergangenen zehn Jahren knapp 1400 Start-ups etabliert, die effizientere und flexiblere Ideen für den einfachen Bankkunden haben, als sie derzeit in der Schalterhalle zu haben sind. Zugang zu Kurz- und Kleinkrediten oder schnelle und billige Bezahlmethoden für Einzelunternehmer: Dem traditionellen Bankgeschäft steht in diesem Jahrzehnt eine Revolution bevor, und Londoner Start-ups haben dafür bereits an die 20 Milliarden Pfund Kapital gesammelt. An welche Regeln diese neue Industrie sich halten muss, könnte in London definiert werden.



„Green Finance“ ist ein weiterer Wachstumsmarkt im Visier der Londoner Aufseher. An die 200 verschiedene Anleihen für ökologische und sozial nachhaltige Unternehmen aus 23 Ländern werden bereits in der City gehandelt. Zuletzt erreichten sie ein jährliches Handelsvolumen von 51 Milliarden Pfund (59 Milliarden Euro). Doch angesichts der politischen und öffentlichen Brisanz, mit der Umweltfragen heute behandelt werden, ist den Wachstumsmöglichkeiten der Branche kaum eine Grenze zu setzen.



Ähnlich vielversprechend, allemal in Zeiten einer Pandemie, ist der Life- Science-Sektor, der sich im Laufe des vergangenen Jahrzehnts um die Bahnhöfe Kings Cross und St. Pancras ausgebreitet hat. Dort steht das Francis Crick Institute, das größte biomedizinische Forschungsinstitut in Europa mit einem Jahresetat von mehr als 100 Millionen Pfund (116 Millionen Euro). Dazu kommen international renommierte Institute wie der Wellcome Trust, University College und das Kinderkrankenhaus Great Ormond Street Hospital. In derselben Nachbarschaft wird der amerikanische Pharmakonzern Merck seine neue Europazentrale bauen, und vom Bahnhof Kings Cross fährt die Bahn die kurze Strecke nach Cambridge. Dort sind neben den wissenschaftlichen Einrichtungen der Universität mehr als 20 000 Jobs durch die Medizin- und Pharmaindustrie entstanden. „Die Branche braucht in Zukunft engagiertere Finanzdienstleister“, sagt Jonathan Hill. „Und wenn die Regierung am Ball bleibt, kann sie auch hier mit einem Regelwerk, das agil und flink operiert, internationale Standards setzen und weitere Unternehmen anlocken.“



Hills Vorschläge sind eine detaillierte und durchaus sinnvolle Blaupause für die Zukunft. Doch der Regierungsberater übersieht ein grundsätzliches Problem für Großbritanniens Verhältnis zu seinem wichtigsten außenpolitischen Partner. Als EU-Mitglied beruhten die Wirtschaftsbeziehungen zwischen London und Washington auf Komplementarität. Die City erreichte die Premier League der globalen Finanzzentren nicht zuletzt deshalb, weil sie der Wall Street den Zugang zu Europa ermöglichte.



Neue Konkurrenz

Durch den Brexit wird aus Komplementarität Konkurrenz. FinTech, Green Finance, Life Sciences oder jeder andere Sektor mit Wachstumspotenzial wird derzeit von den USA dominiert, und selbst wenn die barsche „America First“-Rhetorik der Trump-Jahre verhallt ist, wird sich auch die Biden-Regierung gegen Wettbewerb aus London zur Wehr setzen. Und die Verhandlungen über ein britisch-amerikanisches Freihandelsabkommen, das in der Downing Street höchste Priorität hat, stehen damit schon jetzt unter einem ungünstigen Stern.



Auch anderswo klingt der Ruf der Briten in die Welt hinaus eher hohl. Im Februar stellte die Regierung einen offiziellen Antrag auf Mitgliedschaft in der transpazifischen Freihandelszone CPTPP. Die Mitgliedstaaten reichen von Kanada und Mexiko bis Vietnam und Australien.



Was von der Downing Street als „genialer Coup“ von Premierminister Johnson verkauft wird, wurde schnell auf ein realistisches Format zurechtgestutzt. Die Ökonomin Sarah Hill hält die Wachstumschancen für Großbritannien in der Region für überschaubar. „Für den britischen Außenhandel sind der Weg zu weit und die Märkte zu unbekannt, als dass sie die etablierten Ein- und Ausfuhrströme mit der EU übertreffen könnten“, sagt sie. Und für die City of London sieht sie wenig Chancen, sich in einer Gegend zu etablieren, die von Singapur und den Finanzzentren Chinas dominiert wird. Abgesehen davon gibt es freilich gute geopolitische Gründe, sich nicht zu sehr auf einen Wirtschaftsraum zu stützen, in dem ein Land nach der Vormachtstellung strebt, das im Westen immer stärker als eine feindliche Macht wahrgenommen wird.



Welche Seite wird also Recht behalten, Brexit-Anhänger oder -Gegner? Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass es für den Finanzsektor keine Brexit-Dividende geben wird. Im Gegenteil: Der Anteil der City an der gesamten Wirtschaftsleistung wird auf absehbare Zeit geringer ausfallen als bisher. Gleichzeitig ist der so oft prophezeite Finanz-Exodus biblischen Ausmaßes bislang ausgeblieben. Am Ende sind die Summen an Kapital, die nach Dublin verschoben wurden, das Handelsvolumen, das nach Amsterdam ging, oder die Jobs, die von London nach Frankfurt verlegt wurden, auf einem Level geblieben, der Londons Status als globales Finanzzentrum nicht ernsthaft gefährdet.

 

Dr. John F. Jungclaussen war 20 Jahre lang Großbritannien- Korrespondent der ZEIT und arbeitet heute als freier Autor in London.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 74-78

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