Globalisierung gestalten
Die G-20 als wichtiges Element der Global Governance
Um die Herausforderungen der Globalisierung zu meistern, muss der bestehende internationale
Ordnungsrahmen – global governance – überprüft und neu justiert werden. Das hat sich die
1999 auf deutsche Anregung hin geschaffene Gruppe der 20 zum Ziel gesetzt. Der deutsche Finanzminister
analysiert, inwiefern dieses Forum der Finanzminister und Notenbanker unter
deutschem Vorsitz im Jahr 2004 nachhaltiges Wachstum fördern kann.
Angesichts der fortschreitenden Globalisierung ist das Thema der Herausbildung eines funktionierenden globalen Ordnungsrahmens (global governance), in dem nach Antworten auf die zentralen gemeinsamen Fragen gesucht wird, unverändert aktuell.
Welche Bausteine benötigt eine effektive Global-governance-Architektur? Bei der Beantwortung dieser Frage werde ich mich auf folgende Thesen konzentrieren:
a) Der Nationalstaat ist und bleibt bis auf Weiteres das Zentrum politischer Gestaltung. Der Erfolg versprechendste politische Weg, zur Lösung globaler Fragen zu gelangen, ist es, die auf nationaler Ebene gebildeten Zielvorstellungen auf internationaler Ebene zu diskutieren, auf dieser Ebene Übereinkünfte zu erzielen und diese dann wieder auf nationaler Ebene umzusetzen und zu überwachen. In einem solchen lockeren Netzwerk bewegen sich neben nationalen Regierungen zunehmend auch nichtstaatliche Akteure.
b) Die bestehende Form der globalen Politik ist eine „zweitbeste Lösung in einer zweitbesten Welt“. Um die globalen Herausforderungen zu meistern, müssen wir in dem bestehenden System arbeiten und es – wenn notwendig – anpassen und verbessern, denn zu diesem System ist derzeit keine realistische Alternative erkennbar.
c) Die 1999 gegründete Gruppe der 20 (G-20)1 ist ein wesentlicher Baustein einer besseren Global Governance. Wenn es der G-20 gelingt, weiter in ihre Aufgabe hineinzuwachsen kann sie einen wichtigen Beitrag zu einer gestärkten globalen Zusammenarbeit leisten.
Im Zuge der Diskussion um die Rolle des Nationalstaats in der Globalisierung wird oft argumentiert: Wachsende Globalisierung führt zu einem Rückgang der Bedeutung des Nationalstaats. Dies ist meiner Ansicht nach jedoch ein Denkfehler. Zwar können Staaten nicht mehr alle Probleme im Alleingang bewältigen, es spricht aber auch nichts dafür, dass sich globale Probleme in absehbarer Zeit ohne Nationalstaaten erfolgreich lösen ließen. Im Nationalstaat konzentriert sich die größte politische Handlungskompetenz. Deshalb macht es Sinn, Nationalstaaten als Kern der Global-governance-Architektur zu betrachten und in verschiedene Formen der globalen Zusammenarbeit einzubinden.
Klar ist aber auch: Globalisierung regelt sich nicht von allein, sie muss politisch gestaltet werden. Gerade weil sich die politische Handlungskompetenz auf der Ebene der Nationalstaaten konzentriert, sind internationale Institutionen und Gremien, die deren Willensbildung aufgreifen, Ideen filtern und die Koordination politischer Maßnahmen fördern, unverzichtbar. Dabei steht der heutige institutionelle Rahmen internationaler Finanz- und Wirtschaftspolitik im Wesentlichen auf zwei Säulen:
– internationale Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank oder die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen (UNCTAD, UNDP),
– informelle Gruppierungen wie die G-7/8, die G-20 oder das Financial Stability Forum (FSF).
Beide Säulen der Global Governance haben ihre Stärken und Schwächen; keine ist verzichtbar.
Politikkoordination
Aus der Souveränität der Nationalstaaten folgt, dass Politikkoordination auf globaler Ebene vor allem über freiwillige Kooperation funktioniert. Gefördert wird eine solche Kooperation insbesondere durch:
– Solidarität und Vertrauen: Beides entsteht nur aus direkten und regelmäßigen Kontakten und positiven Erfahrungen. Die Bedeutung regelmäßiger Treffen, informeller Gespräche und Diskussionen darf deshalb nicht unterschätzt werden. Oft, vielleicht sogar gerade dann, wenn sie kein medientaugliches Ergebnis liefern, sind sie für die Effektivität der Global Governance unersetzlich.
– Ein gemeinsames Verständnis von Globalisierung: Die wesentliche Triebfeder freiwilliger Kooperation sind gemeinsame Interessen, welche ein gemeinsames Verständnis voraussetzen. Nicht ohne Grund geht die Globalisierung ja gerade in der Wirtschaft so schnell voran. Dort herrscht weitgehend Konsens darüber, dass alle Beteiligten ein Interesse an Wachstum, Handel und Austausch haben. Kurzfristig mag es Widerstände von denjenigen geben, die hohe Anpassungskosten tragen müssen; langfristig ergibt sich aber eine Lage, in der alle profitieren.
Wichtig für die Kooperationsbereitschaft ist auch die Frage der Legitimation. Dabei ist die Bewertung der Legitimation von Entscheidungen auf internationaler Ebene sehr komplex. Kommt es zu internationalen Übereinkünften, sind möglicherweise nicht alle beteiligten nationalen Vertreter demokratisch legitimiert. Darüber hinaus bleibt die Frage, ob die Beteiligten an einer Entscheidung auch die davon betroffenen sind – dies betrifft die Gruppenzusammensetzung und die Gewichtung der Stimmen innerhalb der Gruppe.
Hinsichtlich der Zusammensetzung der Gruppe und der Stimmgewichtung innerhalb der Gruppe sind grundsätzlich folgende Varianten möglich:
a) Die Beteiligung aller Länder bei gleicher Stimmgewichtung mit einer „One country, one vote“-Formel, wie sie die UN beispielsweise in ihrer Generalversammlung praktizieren. Dies spiegelt in etwa den demokratischen Gedanken einer gleich gewichteten Stimme pro Individuum; der Nationalstaat wird als kleinste Einheit gesehen. „Gerecht“ ist diese Art der Vertretung angesichts stark unterschiedlicher Bevölkerungszahl der einzelnen Staaten allerdings nur bedingt.2
b) Eine gewichtete Beteiligung durch gewichtete Stimmrechte, wie z.B. bei IWF und Weltbank. Hier handelt es sich um Institutionen mit globaler Mitgliedschaft, die sich bestimmte Regeln gegeben haben, die die Gewichtung der Einzelstimmen festlegt. In IWF und Weltbank ist die wesentliche Determinante für das Stimmgewicht der Mitgliedstaaten die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und das relative weltwirtschaftliche Gewicht – und damit auch die Fähigkeit, im Fall internationaler Krisen tatsächlich finanziell Beistand zu leisten.
c) Eine Beteiligung mit gleichen Stimmgewichten, aber insgesamt beschränkter Mitgliedschaft – viele Länder finden also keine Stimme in dieser Gruppe. Eine solche Gruppe ist eine Auswahl bestimmter Länder, die sich zu einem bestimmten Ziel zusammengeschlossen haben. Ein Beispiel ist die Eurogruppe der EU, in der sich die Finanzminister und Notenbankgouverneure der Länder, die den Euro als Zahlungsmittel eingeführt haben, zur informellen Beratung zusammenfinden.
Bisher haben sich die gewichtete und auch die zahlenmäßig beschränkte Beteiligung als vergleichsweise sehr effektive Gruppenstrukturen erwiesen. Deshalb greift z.B. die gelegentliche Kritik an der Stimmgewichtung in IWF und Weltbank zu kurz: Zwar ist es in der Tat sehr wichtig, dass die Entwicklungsländer eine Stimme haben, die gehört wird. Allein, die Stimme der Entwicklungsländer muss nicht nur stark, ihr Stimmgewicht muss im Interesse der Entwicklungsländer selbst angemessen sein. Genauso wichtig ist es nämlich, dass die Interessen der übrigen Mitglieder an einer effizienten, zielgerichteten Verwendung der zur Verfügung gestellten Mittel entsprechend berücksichtigt werden.
Gruppen und Foren mit beschränkter Mitgliedschaft sind ebenso besonders effektive Elemente der Global Governance. So haben beispielsweise die G-7 als informeller Zusammenschluss wichtiger Industrieländer seit ihrer Gründung eine enge Zusammenarbeit entwickelt, um sich unter anderem hinsichtlich wirtschafts-, finanz- oder handelspolitischer Maßnahmen abzustimmen, die Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft haben. Gleichzeitig aber hat die Erfahrung mit den Finanzkrisen der neunziger Jahre gezeigt, dass gerade in der internationalen Finanzpolitik ein Mangel an Dialog mit den Schwellenländern bestand. Aus diesem Grund entstand die G-20.
Die Bedeutung der G-20
Die G-20 wurde 1999 unter deutschem G-7/8-Vorsitz als ein informelles Diskussions- und Koordinierungsforum der Finanzminister und Notenbanker der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer gegründet. Sie ist ein gutes Beispiel für die Fortentwicklung der internationalen Zusammenarbeit und die Anpassungsfähigkeit des globalen Ordnungsrahmens an neue Herausforderungen.
Die G-20 ist informell und ermöglicht einen direkten Kontakt zwischen hochrangigen politischen Entscheidungsträgern. Der Teilnehmerkreis ist begrenzt und konstant und die Treffen folgen einem regelmäßigen Rhythmus. Der Vorsitz wechselt und es gibt einen Dialog auf gleicher Augenhöhe. All das fördert Vertrauen und den Willen zur Kooperation. So haben unsere bilateralen Kontakte zu den Finanzministerien der Schwellenländer inzwischen spürbar zugenommen. Zugleich fördert die fachliche Verankerung im Bereich der Finanzen (Finanzminister und Notenbankgouverneure) sowohl ein gemeinsames Interesse als auch eine ähnliche Sicht der Dinge.
Die G-20 bringt die wesentlichen Akteure an einen Tisch: Eine Diskussion über Kapitalverkehrsliberalisierung, Finanzstabilität, Ölpreise, Wechselkurse, Terrorismusfinanzierung oder Steuerhinterziehung kann man heute nicht mehr an Ländern wie China, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien oder Südkorea vorbei führen. Es ist beeindruckend, wenn man sich vor Augen führt, für was die G-20 steht: Sie repräsentiert zwei Drittel der Weltbevölkerung, hier finden drei Viertel des Welthandels und 87% der ausländischen Direktinvestitionen statt, und hier werden 93% des globalen BIP hergestellt.3 Alle Regionen der Welt sind vertreten. Dies verleiht der G-20 eine vergleichsweise große Legitimation.
Intensivierung der Zusammenarbeit
Die G-20 hat ihr volles Potenzial jedoch noch nicht ausgeschöpft. Der intensive Austausch in dieser Gruppe hat eine gemeinsame fachliche Basis geschaffen, die weiter verbreitert werden muss. Die Schwellenländer wachsen zunehmend in ihre Rolle und Verantwortung hinein und erkennen immer mehr die realen Einflussmöglichkeiten durch dieses Gremium. Die gewachsene Verantwortungsbereitschaft aller Mitglieder für ihre jeweilige Region und die Weltwirtschaft insgesamt muss noch weiter gestärkt werden.
Auf dieser Grundlage könnte die politische Zusammenarbeit der G-20 vertieft werden. Dies gilt sowohl für die Anzahl und Frequenz der Treffen als auch für eine thematische Arbeitsteilung. Wenn sich die G-20 weiter bewährt und noch schlagkräftiger wird, halte ich theoretisch irgendwann auch ein Gremium der Staats- und Regierungschefs für möglich, wie dies der kanadische Premierminister Paul Martin jüngst gefordert hat.
Allerdings würde ein solcher Schritt erhebliche Anforderungen an alle beteiligten Länder stellen – nicht nur administrative, sondern auch im Hinblick auf die Diskussionskultur und den offenen, vertraulichen Umgang miteinander – denn dies macht den besonderen Wert der G-20 aus. Offene, informelle Gespräche ohne falsche diplomatische Rücksichten haben Tradition im Finanzbereich. Es ist kein Zufall, dass der heutige G-8-Prozess aus einem Forum der Finanzminister entstanden ist. Umso wichtiger ist es, den besonderen Wert der Informalität und Offenheit der G-20 zu schützen und zu festigen, bevor weitere Schritte erwogen werden.
Deutschland als derzeitiger Vorsitz der G-20 und einer ihrer Mitinitiatoren arbeitet daran, das Profil der G-20 zu schärfen, damit sie ihr Potenzial für eine partizipative Gestaltung der Globalisierung voll entfalten kann. Dabei ist unser Leitgedanke die weltweite Förderung des langfristigen Denkens in der Politik.
Die Welt braucht ohne Zweifel starkes Wachstum, aber damit die Vorteile der Globalisierung für möglichst viele Menschen weltweit wirksam werden können, muss dieses Wachstum nachhaltig sein und in einem stabilen Umfeld stattfinden. Die heutigen Schwellenländer werden immer mehr zu globalen Wachstumspolen. Es sollte unser gemeinsames Ziel sein, dass sie künftig auch zu Stabilitätspolen der Weltwirtschaft werden, die in vollem Maße den Einfluss und die Verantwortung wahrnehmen, die ihrem wirtschaftlichen und politischen Gewicht entspricht.
Diese Selbstverpflichtung zur Langfristigkeit spiegelt sich im diesjährigen Arbeitsprogramm der deutschen G-20-Präsidentschaft:4 So arbeiten wir gemeinsam an einem G-20-Konsens zur Stärkung der Wachstumskräfte. Weiterhin diskutieren wir die Herausforderungen, die sich für die Finanzpolitik aus der demographischen Entwicklung ergeben und versuchen, eine langfristige Perspektive zu institutionalisieren. Ebenso wichtiger Bestandteil unseres Arbeitsprogramms ist der Aufbau starker Institutionen für die inländischen Finanzsektoren in Schwellenländern, um das Fremdwährungsrisiko und damit verbundene Gefahren zu begrenzen. Und schließlich dient auch die Diskussion in der G-20 über verschiedener Wege der regionalen Integration dazu, die Globalisierung behutsam und in langfristigen Bahnen zu organisieren.
Anmerkungen
1 Neben der G-7/8 schließt sie auch Argentinien, Australien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Korea, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, die Türkei, die EU (EU-Präsidentschaft und Europäische Zentralbank) sowie die Bretton-Woods-Institutionen (IWF und Weltbank) ein. Für weitere Informationen siehe <http://www.g20.org>.
2 So repräsentiert die Regierung von São Tomé e Príncipe rund 150 000 Bürgerinnen und Bürger, ist aber genauso mit einer Stimme vertreten wie China mit einer Bevölkerung von rund 1,3 Milliarden.
3 Vergl. hierzu: Die G 20 – Ein Dialogforum aus Industrie- und Schwellenländern, BMF-Monatsbericht, 12/2003, Berlin, S. 73-83.
4 Vgl. Globalisierung gemeinsam gestalten: Das Arbeitsprogramm 2004 der deutschen G-20-Präsidentschaft vom Januar 2004, zu finden in der Mai-Ausgabe von Internationale Politik, über: <http://www.internationalepolitik.de/Inhaltsverzeichnis/2004/Dokumente_0…; .
Internationale Politik 10, Oktober 2004, S. 98-102
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