Gegen den Strich

01. Jan. 2017

Globalisierung

Sieben Thesen auf dem Prüfstand

In den vergangenen Jahrzehnten sind weltweit deutlich mehr Geldströme geflossen und Güter gehandelt worden als je zuvor. Politiker und Wirtschaftsvertreter werden nicht müde zu betonen, der Globalisierung gehöre nach wie vor die Zukunft. Doch wächst das Unbehagen in vielen westlichen Gesellschaften. Wer hat recht? Sieben Thesen auf dem Prüfstand.

Die Globalisierung steht zu Unrecht in der Kritik

Wirklich? Sagen wir es so: Viel zu versprechen, von dem dann nur wenig in Erfüllung geht – das ist eine sichere Strategie, eine gute Sache in Verruf zu bringen. So in etwa erging es der Globalisierung.

Seit jeher haben Ökonomen starke Argumente für die Liberalisierung des Handels gefunden. Der Abbau von Handelsbarrieren sollte es Ländern erlauben, sich in Wirtschaftsbereichen zu spezialisieren, in denen sie produktiver arbeiten konnten als andere. Der gegenseitige Güteraustausch würde allen Beteiligten zugutekommen und den Lebensstandard heben. Die Berechtigung dieses Arguments erwies sich, als man die Handelsbarrieren, die während des Zweiten Weltkriegs hochgezogen worden waren, nach Kriegsende nach und nach wieder abbaute. Von der Wiederbelebung des globalen Handels profitierten die Menschen in allen Winkeln der Erde; mit dem Ende des Kommunismus und dem Eintritt Chinas in die Welthandelsorganisation verdoppelte sich die Zahl der Menschen, die aktiv an der Weltwirtschaft teilnahmen.

Doch gerade als es sich anhand verschiedener ökonomischer Modelle abzeichnete, dass die durch eine weitere Liberalisierung zu erwartenden Erträge fast erschöpft waren, beschleunigte sich das Wachstum der internationalen Handelsverflechtungen noch einmal rasant. In den 2000er Jahren ließ man sich von einer „Hyperglobalisierung“ begeistern, einer Globalisierung, die ungeahnten Wohlstand für alle versprach. Mäßigende Stimmen fanden kein Gehör mehr. Das war ein Fehler. Denn nicht die Abschaffung weiterer Handelsbarrieren war es, die den globalen Handel nun antrieb, sondern die steigenden Rohstoffpreise und der Aufstieg Chinas als neuer Wirtschaftsmacht – eine Kombina­tion, von der sich die Arbeiterschaft in den Industrienationen kaum einen besseren ­Lebensstandard erhoffen konnte. Auch die Globalisierung der Finanzwelt resultierte nicht aus der Reduzierung von Kapitalverkehrskontrollen (die waren zwischen den Industrienationen schon lange vorher abgeschafft worden), sondern aus einer überbordenden Expansion des Finanzsektors als Ganzem.

All das schürte Erwartungen, die sich nie erfüllen ließen. Eine Gegenreaktion der Leidtragenden war unter diesen Vorzeichen unvermeidbar. Die politischen Konsequenzen sind überall sichtbar: Die Wahl Donald Trumps, das Brexit-Referendum, die stockenden Verhandlungen über das CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada und der Stillstand der TTIP-Verhandlungen zwischen der EU und den USA sind Ausdruck der Globalisierungsverdrossenheit.

Globalisierung ist gleich Wachstum

Jein. Die Verbindung zwischen Handel und Wachstum ist weitaus komplizierter, als dieser Slogan suggeriert. Es gibt keine allgemeingültige wirtschaftliche Formel, wonach Handel automatisch zu mehr Wachstum und Wohlstand führt. In der Theorie geht man zwar davon aus, dass der Abbau von Handelsbarrieren dem Güterhandel und dem Arbeitsmarkt zugutekomme. Die weitverbreitete Vereinfachung dieser Formel, nämlich dass Handel per se „gut“ sei, trifft aber nicht zu. Wächst der Welthandel aus anderen Gründen als der Reduzierung von Handels- und Investitionsbarrieren, dann ist nicht klar, ob alle davon profitieren.

Die Unterscheidung zwischen einer Globalisierung, die vom Abbau von Zöllen und anderen Handelsschranken angetrieben wird, und einem wachsenden Güter- und Finanzhandel, der durch andere Faktoren bedingt ist, ist keine akademische Haarspalterei. Im Gegenteil: Sie hilft uns dabei zu verstehen, warum die Globalisierung in vielen entwickelten Ländern unpopulär geworden ist. Die Triebkräfte hinter der Globalisierung zu verstehen und die Umstände zu analysieren, in denen sie sich wirklich positiv auf Volkswirtschaften auswirken kann, ist ungemein wichtig – gerade, wenn es darum geht, die richtigen politischen Antworten auf die Globalisierungskritik zu finden.

Von der Globalisierung profitieren alle

In den meisten Fällen stimmt das. Doch das Potenzial der klassischen Profitmaximierung durch Handel für fortgeschrittene Volkswirtschaften ist schon seit einem Jahrzehnt erschöpft. Zölle und andere Handelsbarrieren sind längst entweder auf ein Mindestmaß reduziert oder komplett abgeschafft worden. Der durchschnittliche Zollsatz zwischen der EU und den USA liegt derzeit bei kaum mehr als 2 Prozent; rechnet man bestimmte Abgabenbefreiungen mit ein, dann liegt der effektive Satz gar bei rund 1 Prozent. Und die Wirtschaftstheorie lehrt uns, dass die durch den Abbau von Handelsbarrieren zu erwartenden Profite stark schrumpfen, je weniger Barrieren noch existieren.

Nun ließe sich einwenden, dass es heute noch andere, weniger greifbare Barrieren gibt: die so genannten nichttarifären Handelshemmnisse. Diese sind allerdings meist ein Produkt nationaler Präferenzen, Verbraucherschutzinteressen und anderer sozialer Faktoren. Sie abzuschaffen hieße zumeist, hohe politische Kosten in Kauf zu nehmen – die Verhandlungen über das Transatlantische Freihandelsabkommen (TTIP) haben das nachdrücklich gezeigt.

Hinzu kommt, dass es die Politik im goldenen Zeitalter der Hyperglobalisierung versäumt hat zu erklären, dass die durch steigende Rohstoffpreise angetriebene Globalisierung sich anders auf die Welt auswirken würde als vielfach angenommen. Da Rohstoffe einen großen Teil des globalen Handels ausmachten, schoss auch der Gesamtwert der weltweit gehandelten Waren in die Höhe. Gleichzeitig erlaubten die steigenden Profite den ölproduzierenden Ländern, mehr zu importieren. So vergrößerte sich auch das globale Handelsvolumen.

Doch mit dem globalen Handel wuchsen die Wirtschaften nicht mit. Die höheren Rohstoffpreise schwächten die Kaufkraft der Lohnarbeiter in den OECD-Staaten und senkten den Lebensstandard. Als die Finanzkrise ausbrach, kollabierten die Rohstoffpreise zunächst, stiegen wenig später wieder an und rüttelten so die internationalen Handelsstrukturen einmal kräftig durch.

Die neue Arbeitsteilung hat den Handel revolutioniert

Noch so ein Hype. Wenn heute von der „globalen Wertschöpfungskette“ die Rede ist, dann ist das im Grunde nur eine hochtrabende Beschreibung dessen, was Adam Smith meinte, als er von „Arbeitsteilung“ sprach, nur eben in einem internationalen Kontext. Verschiedene Abschnitte eines Arbeitsprozesses finden in verschiedenen Ländern statt; der Wert eines Produkts entsteht nicht mehr zwangsläufig in dem Land, in dem seine Herstellung abgeschlossen wird.

Das bekannteste Beispiel für so eine globale Wertschöpfungskette ist das iPhone. Zwar wird das Produkt von China aus exportiert, doch der chinesische Beitrag am Wert des Endprodukts beschränkt sich auf die Leistung der Fabrikarbeiter. Die Komponenten stammen aus anderen asiatischen Ländern, die Software aus den USA. Ein extremes Beispiel – allerdings nicht repräsentativ für den Großteil globaler Wertschöpfungsketten. Selbst in kleinen EU-Staaten beträgt der inländische Wertschöpfungsanteil meist noch mehr als 50 Prozent. In großen Volkswirtschaften (USA, Japan, EU als Ganzes) liegt die inländische Wertschöpfungsquote an exportierten Waren oft noch bei 85 bis 90 Prozent, in Deutschland bei 75 Prozent. Damit ist der Anteil heimischer Produktionsschritte an den exportierten Endprodukten zwar geringer als vor 20 Jahren. Doch sollte man angesichts dieser Zahlen statt von „globalen“ Wertschöpfungsketten wohl eher von „regionalen“ Wertschöpfungsketten sprechen – innerhalb der EU, innerhalb der NAFTA-Staaten, innerhalb Ostasiens.

Bestes Beispiel für die Segnungen einer globalisierten Volkswirtschaft sind die USA

Auch das ist bestenfalls eine Halbwahrheit. In den Vereinigten Staaten gestaltet sich der Fall etwas komplexer, weil das Land selbst Öl- und Gasproduzent ist. Die Explosion der Rohstoffpreise war für die USA also in mancherlei Hinsicht weniger relevant als für die EU. Trotzdem traf der Kaufkraftverlust gerade die amerikanische Arbeiterschaft vergleichsweise hart. In den EU-Staaten trugen die hohen Mehrwertsteuersätze dazu bei, dass selbst die zwischenzeitliche Verdopplung des Rohölpreises nur zu einem geringfügigen Anstieg der Benzinpreise an den Tankstellen führte. In den USA war das Gegenteil der Fall. Zudem profitierten nur eine Handvoll Produzenten und wenige in der Rohstoff­industrie beschäftigte Lohnarbeiter von dem Preisboom.

Nun machte man sich in den Vereinigten Staaten allerdings im Vergleich zu den EU-Staaten weniger Sorgen darum, die eigenen Exporte zu steigern, um eine ausgeglichene Handelsbilanz zu erzielen. Stattdessen ließ man die Außenhandelsbilanz verkümmern. Betrachtet man das amerikanische Handelsdefizit, dann haben die USA schlicht weniger Bedarf, Industriegüter zu exportieren als europäische Länder. Amerikanische Beschäftigte in der verarbeitenden Industrie sahen sich somit einer doppelten Belastung ausgesetzt: Die Benzinpreise stiegen und die Herstellungsindustrie stagnierte.

Die jüngste Gegenreaktion desillusionierter Fabrikarbeiter ist also insofern nachvollziehbar, als dass die weitverbreitete politische Lobpreisung der Globalisierung ihren eigenen Erfahrungen, nämlich einem stetig fallenden Lebensstandard, komplett zuwiderläuft. Dieses Problem wird noch dadurch verstärkt, dass es in den USA keine sozialen Auffangnetze für diejenigen gibt, deren Jobs dem Schrumpfen des Industriesektors zum Opfer fallen. Die amerikanische Wirtschaft profitierte im Endeffekt also stark von der Globalisierung, die Profite verteilten sich allerdings um einiges ungleicher, als es in Europa der Fall war.

Dem Abschwung des Welthandels müssen wir mit einer neuen Globalisierungswelle begegnen

Lieber nicht. Auch wenn sich alle großen internationalen Wirtschaftsinstitutionen, vom Internationalen Währungsfonds über die Welthandelsorganisation bis hin zur Europäischen Zentralbank, darin einig sind, dass es an der Zeit sei, die Kräfte der Globalisierung wieder zu entfesseln und damit den natürlichen Kreislauf von Handel und Wachstum anzutreiben: Es wäre falsch.

Dass die Lohnarbeiter in den traditionellen Industriestaaten von der so genannten Hyperglobalisierung der vergangenen zwei Jahrzehnte nicht im Geringsten profitiert haben und folgerichtig diese Form der Globalisierung ablehnen, ist dafür nur einer der Gründe. Hinzu kommt das immense Wachstum grenzübergreifender Finanztransaktionen. In den meisten Fällen ist es nur schwer nachzuvollziehen, wie große und in alle Richtungen fließende Kapitalströme zu einer besseren Verteilung des Kapitals beitragen sollen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die größere internationale Verfügbarkeit von kurzfristigem Kapital das Risiko birgt, finanzielle Krisen globaler Spannweite auszulösen, wenn die Quellen dieses Kapitals plötzlich versiegen.

Historisch gesehen war das vor allem ein Problem der Schwellenländer. Doch spätestens die große Finanzkrise von 2007/08 hat gezeigt, dass selbst die fortschrittlichsten Volkswirtschaften unsteten globalen Kapitalströmen zum Opfer fallen können. Zudem wächst das Volumen der ausländischen Direktinvestitionen, die multinationalen Unternehmen im Wesentlichen dazu dienen, Steuerabgaben zu umgehen. Der Abbau von Handelsbarrieren ergibt natürlich weiterhin Sinn – aber nur dort, wo diese weiterhin eine ernstzunehmende Rolle spielen, das heißt vor allem in den Schwellenländern.

Was bitte soll schlecht an ausländischen Direktinvestitionen sein?

Einiges. Natürlich, im Grundsatz stimmen die meisten Ökonomen darin überein, dass solche Investitionen von beträchtlichem wirtschaftlichen Nutzen sind. Wenn eine ausländische Firma ihre eigene Technologie und das eigene Kapital nutzt, um eine neue Fabrik zu bauen oder wenn ein Unternehmen Anteile an einer ausländischen Firma kauft und sich so die Kontrolle über sie verschafft, dann kann das für beide Seiten lohnend sein. Die Kontrollübernahme geht zumeist mit der Einführung neuer Technologie und neuer Managementstrukturen einher, die wiederum für gesteigerte Produktivität sorgen. Das Kapital fließt dabei vor allem von fortgeschrittenen in weniger entwickelte Volkswirtschaften.

Von dieser Warte aus betrachtet scheinen ausländische Direktinvestitionen also die „gute“ Globalisierung zu repräsentieren. Doch damit vernachlässigt man die Rolle der so genannten „Zweckgesellschaften“, die – speziell in Europa – einen immer größeren Teil der ausländischen Direktinvestitionen tätigen. Dabei handelt es sich in der Regel um Dachunternehmen, die dazu genutzt werden, große Kapitalmengen im Ausland zu verwalten, ohne eine wirkliche physische oder wirtschaftliche Präsenz aufzubauen. Der Verdacht liegt nahe, dass dies nur geschieht, um Steuerzahlungen zu vermeiden, bilaterale Steuerabkommen auszunutzen oder steuerliche Sonderbehandlungen zu erwirken.

Der Grund für solche Investitionsmanöver ist also fast immer das, was man, euphemistisch gesprochen, als „Steueroptimierung“ bezeichnen könnte. Das zeigt wiederum, dass wir eindeutig zwischen „produktiven“ und strikt „bilanziellen“ oder „finanziellen“ ausländischen Direktinvestitionen unterscheiden müssen. Dass ein Großteil letzterer Transaktionen vor allem in Ländern mit niedrigen Unternehmenssteuern (Irland) oder vorteilhaften internationalen Steuerabkommen (Niederlande, Luxemburg) abgewickelt wird, versteht sich von selbst.

Das führt teilweise zu ganz erstaunlichen Statistiken. So ist die EU laut offizieller europäischer Handelsstatistiken der größte Nettoexporteur von Computerdienstleistungen – noch vor den USA. Dass ein großer Teil dieser vermeintlichen EU-Exporte aus Irland stammt, legt allerdings die Vermutung nahe, dass amerikanische Technologiekonzerne ihre Profite mittels Direktinvestitionen nach Irland umleiten, um von den dortigen Steuergesetzen zu profitieren. Die jüngste Entscheidung der EU-Kommission, von Apple eine beträchtliche Steuernachzahlung einzufordern, weist in diese Richtung. Makroökonomisch betrachtet ist klar, dass eine solch abgekartete Kapitalflucht unter dem Strich keine positiven gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen haben kann.

Kurz: Es wäre klug, das Loblied auf die Globalisierung künftig deutlich leiser zu singen. Das heißt nicht, dass es nicht von Nutzen wäre, CETA oder TTIP zu ratifizieren. Doch es ist ebenso wenig klug, die vermeintlichen wirtschaftlichen Vorteile rhetorisch überzustrapazieren wie auf den Nachteilen rumzureiten. Gerade die Investitionsregelungen, also das „I“ in TTIP, sollten von EU-Seite genau überdacht werden, um zu vermeiden, dass amerikanische Konzerne ihre Auslandsinvestitionen in Europa künftig vorrangig dazu nutzen, Steuerzahlungen zu umgehen. Die unterschiedlichen nationalen Unternehmenssteuerregelungen müssen in Einklang gebracht werden, um dem „Steuer-Shopping“ multinationaler Konzerne ein Ende zu bereiten. Die Grenzen der Globalisierung als Wachstums- und Arbeitsmarktmotor anzuerkennen heißt nicht, für die Wiedereinführung von neuen Handelsbarrieren zu plädieren. Im Gegenteil: Die Politik sollte sich darauf verlegen, die letzten verbleibenden Mauern einzureißen, ohne gleichzeitig ihren Realitätssinn bei der Beurteilung der zu erwartenden Gewinne zu verlieren.

Daniel Gros ist Direktor des Centre for European Policy Studies in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2017, S. 62-67

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