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01. März 2013

Abwarten und Gas importieren

Verschlafen wir eine Revolution? Die Schiefergas-Debatte in Europa

Niedrige Preise, Autarkie, CO2-Bilanz: Die Vorzüge von Schiefergas klingen bestechend. Soll sich Europa dem US-Trend so rasch wie möglich anschließen? Langsam. Unsere Vorkommen sind kaum mit denen der USA vergleichbar. Wir sollten uns zunächst einmal darauf konzentrieren, unsere Energieversorgung nachhaltig zu sichern.

Die globale Energiegemeinschaft ist in heller Aufregung: Dank des Fracking-Booms in den USA ist das Land inzwischen in der Lage, seinen Erdgasbedarf fast vollständig selbst zu decken. Europa dagegen hinkt hinterher. Die Erkundungen potenzieller Gasvorkommen schreiten nur zögerlich voran, eine Schiefergas-Förderung hat noch nicht begonnen. Kritiker halten Europa vor, es verschlafe die nächste Revolution auf dem Energiesektor.

Was einige Kritiker jedoch zu übersehen scheinen, sind die fundamental unterschiedlichen Rahmenbedingungen. Zunächst einmal sind die geologischen Gegebenheiten deutlich andere. Anders als in Amerika, wo man weiß, wo das Schiefergas steckt, gibt es in Europa nur rudimentäres Datenmaterial. Was man hat, sind lediglich Vermutungen, dass in vergleichbaren Schieferformationen auch vergleichbare Vorkommen zu finden sein müssten. Zudem scheinen Schiefergas-Formationen in Europa nicht nur kleiner zu sein, sondern auch tiefer zu liegen. Dies erschwert ihre wirtschaftliche Ausbeutung.

Schätzungen, Erfahrungen, Vermutungen

Schätzungen der Internationalen Energieagentur legen nahe, dass die größten abbaufähigen Schiefergas-Vorkommen in den USA und China liegen – nicht in Europa. Freilich sind selbst diese Schätzungen kaum mehr als auf Erfahrungen gründende Vermutungen. Denn gründlich erkundet wurden Schieferformationen bisher hauptsächlich in den USA. Dort wurden bereits tausende von Probebohrungen gemacht, auch weil im Zuge der konventionellen Erdölförderung die Geologie in vielen Gegenden viel genauer untersucht wurde. In Europa beginnt dieser Prozess dagegen gerade erst. Polen scheint auf dem europäischen Kontinent die günstigsten geologischen Voraussetzungen mitzubringen und könnte sich, im lokalen Maßstab, in etwa zehn Jahren zu einem wichtigen Produzenten entwickeln.

Auch die rechtlichen und regulatorischen Rahmenbedingungen sind grundverschieden. So liegen die Eigentumsrechte an natürlichen Ressourcen in den USA in der Regel beim Eigentümer des Grundstücks, unter dem sich die Rohstoffe befinden; in Europa ist dagegen der Staat im Normalfall Eigentümer der Rohstoffvorkommen. Damit ist lokaler Widerstand gegen Fracking in Europa eine sehr viel ernster zu nehmende Hürde als in den USA, nicht nur, weil die Europäer in Umweltfragen sensibler scheinen, sondern auch, weil schlicht die Anreize fehlen. Daher neigen Europäer, die sich mit unsicheren ökologischen Folgen konfrontiert sehen und keine wirtschaftlichen Vorteile erwarten können, dazu, sich gegen Fracking in ihrer Nachbarschaft auszusprechen. Zudem wurde die Schiefergas-Erschließung in den USA steuerlich gefördert; ein Modell, dem Europa nicht nacheifern wird.

Eine wichtige Rolle bei der Investitionsentscheidung dürfte die Frage spielen, inwieweit sichergestellt ist, dass das Schiefergas von der Quelle zu den Absatzmärkten gelangen kann. Während die USA die Liberalisierung des Gasmarkts erfolgreich vorangetrieben haben, hat Europa hier noch Nachholbedarf. Offiziell soll der europäische Energiemarkt bis 2014 vollendet sein, doch Marktbeobachter haben Zweifel, ob alle Handelshindernisse bis dahin beseitigt sind. Oftmals fehlt es noch an der notwendigen Infrastruktur. Viele Gasnetze sind für den Import aus Russland ausgelegt und nicht unbedingt in der Lage, Gas von Westen nach Osten zu befördern.

Man sollte auch nicht vergessen, dass es die USA, gerade in den Anfangs­tagen der Schiefergas-Revolution, mit den Umweltstandards nicht immer so genau genommen haben. Umweltstandards in Europa sind deutlich schärfer, und das dürfte sich nicht nur auf die Wirtschaftlichkeit der Schiefergas-Produktion auswirken, sondern auch auf die Anforderungen an die verwendeten Technologien sowie den Einsatz und die Offenlegung der Chemikalien.

Gespaltener Kontinent

Kritiker wie Befürworter der Ausbeutung von Schiefergas in der EU scheinen Klärung von Seiten der Europäischen Union zu erwarten. Allerdings ist der Einfluss der EU auf die Förderung von Schiefergas in Europa begrenzt. Zwar müssen europäische Umweltstandards eingehalten werden, doch über die konkrete Lizensierung und Regulierung von Erkundung und Förderung entscheidet jedes Land selbst. Ähnlich wie bei der Kernenergie gehen die Ansichten der Mitgliedstaaten weit auseinander. Während Frankreich bereits ein Fracking-Verbot erlassen und Bulgarien zumindest ein zeitweises Moratorium verhängt hat, setzen andere Mitgliedstaaten, allen voran Polen, aber auch Rumänien, Litauen, Spanien und Großbritannien durchaus Hoffnungen auf das Schiefergas. Deutschland ist noch unschlüssig. Angesichts dieser Meinungsverschiedenheiten wird sich die EU-Kommission hüten, sich in der Schiefergas-Frage allzu weit aus dem Fenster zu lehnen. Sollte es zu groben Verletzungen europäischer Umweltstandards oder der Beihilferichtlinien kommen, ist ein Eingreifen der EU vorstellbar. Ansonsten wird sich die Kommission wohl darauf beschränken, bestehende Gesetzeslücken zu schließen und die Verwirklichung des gemeinsamen Marktes für Energie voranzutreiben.

Wenig beachtet sind auch die Unterschiede in der Industriestruktur. Die USA haben eine hochkompetitive Gasförderindustrie vorzuweisen, in der kleine, risikofreudige „Independents“ mit den globalen „Majors“ konkurrieren. Interessanterweise waren es gerade die kleinen Firmen, die sich für den Ursprung der Schiefergas-Revolution verantwortlich zeigten; die Großen sind in der Regel erst später auf den Zug aufgesprungen. In Europa dagegen liegt die Gasförderung meist in der Hand der multinationalen integrierten Öl- und Gasunternehmen. Wenn es diesen internationalen Großunternehmen nicht gelingt, auch kleinere, lokal verwurzelte Firmen einzubinden, könnte sich das nachteilig auf die Zustimmungswerte in der Bevölkerung auswirken.

Und dann ist da noch das Thema der Forschung und Entwicklung von Schiefergas-Technologien. Während die Vereinigten Staaten hier bereits in den achtziger Jahren ein Forschungsprogramm aufgelegt haben, ist in Europa in dieser Hinsicht bislang wenig zu sehen. Und das, obwohl die unterschiedlichen geologischen Gegebenheiten den Schluss nahelegen, dass man neue Technologien benötigen wird, um Schiefergas in Europa in großem Stil zu fördern, ohne europäische Umweltstandards zu verletzen. Auch wegen der Meinungsunterschiede bezüglich der Schiefergas-Förderung ist hier wenig Unterstützung von Seiten der EU-Kommission zu erwarten.

Läuft Europa die Zeit davon?

Schiefergas-Befürworter sind oftmals davon überzeugt, dass die Schiefergas-Förderung auf europäischem Boden einen wichtigen Beitrag zu allen drei Elementen des Energie-Trilemmas – bestehend aus Wettbewerbsfähigkeit, Versorgungssicherheit und Nachhaltigkeit – leisten kann. Der dabei entscheidende und fast immer übersehene Punkt ist jedoch, dass Schiefergas wie alle Rohstoffe nur einmal verbraucht werden kann. Die wahre Frage ist daher nicht, ob das Schiefergas in Europa erschlossen werden sollte, sondern, wann dies gegebenfalls geschehen sollte: heute oder zu einem späteren Zeitpunkt?

Europa ist bereits ein starker Gasverbraucher, sein Verbrauch aber stagniert (zusammen mit der wirtschaftlichen Entwicklung). Die Förderkosten von konventionellem Gas liegen nach wie vor in der Regel unter denen von Schiefergas. Hinzu kommt, dass die Kosten für den Transport nach Europa dank der vorhandenen Pipeline-Infrastruktur sehr niedrig sind. Nicht zu vernachlässigen ist auch die so genannte Flüssiggas-Revolution. Aufgrund der sinkenden Transportkosten entwickeln sich ehemals regionale Gasmärkte hin zu einem globalen Markt. Schon bis 2020 könnte die EU genug Importkapazitäten für Flüssiggas aufgebaut haben, um drei Viertel des zu erwartenden Importbedarfs zu decken.

Es ist daher zweifelhaft, ob es möglich wäre, Schiefergas unter den derzeit gezahlten Importpreisen und potenziell konkurrenzfähig zu einem Weltmarktpreis für Gas zu produzieren. Länder wie Russland oder die USA besitzen hier erhebliche Standortvorteile. Wirtschaftlich gesehen dürfte die heimische Schiefergas-Produktion den Europäern also keinen wesentlichen Nutzen bringen.

Trügerisches Sicherheitsgefühl

Wichtiger als die Frage der Produktion erscheint die Rolle der Vernetzung innerhalb der Mitgliedstaaten und der davon abhängigen Verwirklichung eines europäischen Binnenmarkts für Energie. Ein solcher Binnenmarkt würde die Verhandlungsposition der EU gegenüber den Gaslieferanten stärken. Damit wäre Europa endlich in der Lage, sich seine Lieferanten frei auszusuchen. Es wäre Gaslieferanten dann nicht mehr so leicht möglich, einzelne Mitgliedstaaten gegeneinander auszuspielen.

Bei näherem Hinsehen erweist sich auch das oft bemühte Argument der erhöhten Versorgungssicherheit mittels heimischer Schiefergas-Produktion als wenig überzeugend. Vordergründig mag eine Ausbeutung der einheimischen Gasreserven das Gefühl der Sicherheit erhöhen. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU selbst in einem optimistischen „Schiefergas-Szenario“, wie es von der Internationalen Energieagentur durchgespielt worden ist, nach wie vor einen Großteil seines Gasbedarfs wird importieren müssen.

Dabei erscheint es durchaus sinnvoll, Probebohrungen und anderweitige geologische Erkundungen durchzuführen, um genauer zu wissen, wo Schiefergas vorhanden ist und mit welchen Methoden es gegebenenfalls abgebaut werden könnte. Mit dem Wissen, dass man zur Not zumindest einen größeren Teil des Gasbedarfs aus heimischer Produktion decken könnte, wäre die Verhandlungsposition gegenüber Gaslieferanten gestärkt. So könnte man im Falle eines Handelskriegs verstärkt auf eigene Produktion umsteigen.

Hierbei sollte man nicht vergessen, dass die Nachfrageelastizität für Gas zumindest mittel- und langfristig hoch ist. So lässt sich etwa in der Stromproduktion, die weltweit der Hauptgasverbraucher ist, gegebenenfalls auf andere Energiequellen wie Kohle, Atomstrom oder die erneuerbaren Energien zurückgreifen. Gaslieferanten haben also, selbst wenn sie in einer monopolartigen Stellung sind, nicht unbedingt ein Interesse daran, den Gaspreis beliebig hochzutreiben. Die erwähnte Flüssiggas-Revolution im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Schiefergas (und andere schwer zugängliche, so genannte unkonventionelle Gasresourcen wie Flözgas) in vielen Regionen der Welt vermutet werden, wird die Marktmacht der Gasexporteure in Zukunft aller Voraussicht nach begrenzen.

Abwarten und den Markt arbeiten lassen

Abwarten könnte sich auch aus ökologischer Sicht als vorteilhaft erweisen. Fracking ist als Technologie noch nicht ausgereift und dürfte daher im Laufe der Zeit noch erhebliche Verbesserungen erfahren. Vielleicht wird Europa irgendwann einmal führend sein – wenn die Fracking-Methoden hochentwickelt sind und die Schiefergas-Vorkommen in den USA langsam zur Neige gehen.

Natürlich hat Erdgas einen günstigeren CO2-Fußabdruck als etwa Kohle, doch sollte Europa seine Dekarbonisierungsziele ernst nehmen, müsste auch Gas in den 2030er Jahren dekarboniert oder durch andere CO2-freundliche Technologien ersetzt werden. Und das oft zu hörende Argument, Schiefergas trage schon heute dazu bei, den Klimawandel aufzuhalten, indem es für eine Einschränkung des Kohlekonsums sorge, stimmt nur, wenn man einige Regionen isoliert betrachtet. So hat Schiefergas in der Tat dabei geholfen, die Klimabilanz Amerikas zu verbessern (und das ganz ohne ein flächendeckendes Emissionshandelssystem). Es ist jedoch falsch anzunehmen, dass die Kohle jetzt unverbrannt im Boden bleibt und das Klima entlastet. Die Kohle wird jetzt vermehrt exportiert, unter anderem nach Europa. Der Zusammenhang zwischen Schiefergas und Klimawandel ist kompliziert und verschließt sich Schwarz-Weiß-Denken.

In einem Umfeld ultraniedriger Zinsen kostet es fast nichts zu warten. Europa mag also kurzfristig etwas verlieren, wenn es nicht sofort in die neuen Gasquellen investiert, aber wenn der reale Zinssatz negativ ist (wie zurzeit in Deutschland), wird das Warten bezahlt. Das Gas, das heute im Schiefer bleibt, geht nicht verloren. Es kann morgen immer noch gefördert werden, wahrscheinlich mit einer umweltverträglicheren Technologie. Die beste Alternative dürfte für Europa darin bestehen, abzuwarten und den Markt arbeiten zu lassen. Was die Ausbeutung heimischer Schiefergas-Ressourcen betrifft, besteht also wenig Grund zur Eile. Von zentraler strategischer Bedeutung ist hingegen die Verwirklichung eines europäischen Energiebinnenmarkts. Das ist auch das Gebiet, wo der EU eine bedeutendere Rolle zukommt als beim Schiefergas. 

Daniel Gros ist Direktor des Centre for European Policy Studies in Brüssel, Jonas Teusch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Energie- und Klimapolitik am Centre for European Policy Studies.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2013, S. 24-29

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