Gerechtigkeitslücken im Gemütseuropa
Wer alles der Euro-Zone beitreten müsste, wenn Kultur das Kriterium ist
Eine Bitte an alle Krisendebattierer. Es gibt im Wesentlichen einen guten Grund, Griechenland im Euro zu halten. Der Grund lautet: Wir wissen nicht, was letztlich auch uns passiert, wenn die Griechen aus dem Euro fliegen.
Man drückt keinen Knopf, der eine Atombombe auslösen könnte, nur um zu sehen, ob sie tat sächlich hochgeht. Rationale Risikoaversion, sozusagen.
Kein guter Grund hingegen, Griechenland im Euro zu halten, ist die Tatsache, dass Griechenland zu Europa gehört. Genau diesen Zusammen hang stellt ein anschwellender Chor von Journalisten, Schriftstellern und anderen Regierenden her. Sie rufen: Mensch! Hellas Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte! Wiege der Demokratie! Heimat der Muse! Sophokles! Platon! Alles vergessen?
Bitte. Bitte. Lasst. Das. Es ist so ganz neben der Sache.
Es sei denn, wir hätten uns lange Zeit geirrt, und es sind in Wahrheit fundamentale Beiträge zur europäischen Kultur, die zur EuroMitgliedschaft berechtigen. Dann dürfen diese Beiträge offenbar auch gerne länger als 2000 Jahre zurückliegen. Das würfe allerdings eine Reihe von bisher ungestellten, dringenden Fragen auf.
Wie, beispielsweise, kann es angehen, dass Israel, den Palästinensergebieten, Libanon und Syrien die Mitgliedschaft im EuroRaum bislang nicht einmal angeboten wurde? Hat man deren Gründungsbeitrag zur jüdischchristlichen Kultur vergessen?
Was sich unter anderem abspielte, da Quirinius Statthalter in Syrien war? Muss wohl so sein, anders ist diese tiefe Gerechtigkeitslücke im geomonetären Raum kaum zu erklären.
Und gehen wir mal davon aus, dass Grass et al. in ihrem Gemütseuropa auch jüngere Errungenschaften zählen lassen. Dann drängt sich die Frage auf, wie unsere kulturfiskalische Schicksalsgemeinschaft ohne diejenigen auskommt, denen wir den modernen Freiheitsbegriff, Shakespeare und Monty Python verdanken. Ist es nicht unerträglich, dass Großbritannien die allerallerwichtigste europäische Gemeinschaftsstiftung ablehnt?
Und jetzt haben wir noch gar nicht über den nordamerikanischen Beitrag zu Europas kultureller Höhe nachgegrübelt; man könnte das tun und Hollywood, das Internet, Apple und die Befreiung vom Nationalsozialismus dazu zählen. Aber wahrscheinlich ist das abwegig, und EuroLänder wie Slowenien oder Luxemburg haben wesentlich mehr getan, um Europa zu dem werden zu lassen, das es heute ist.
Ach, so sehr ich mich auch mühe, die Sorge, dass Europa seine Wurzeln verriete, wenn Griechenland die Währung wechselte, will mich nicht recht erfassen. Natürlich, Griechenland hat Unverzichtbares geleistet für unser aller ideengeschichtliche Entwicklung. Europa. Demokratie. Risiko. Chaos. Alles griechische Wörter. Aber vielleicht bin ich zu kaltherzig. Und Geld ist am Ende doch alles.
JOCHEN BITTNER ist Redakteur der ZEIT.
Internationale Politik 4, Juli/August 2012, S. 144