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01. Mai 2013

Georgische Kohabitation

Gelingt im Südkaukasus erstmals ein demokratischer Machtwechsel?

Von friedlichem Zusammenleben kann in Georgien nicht die Rede sein: Präsident Saakaschwili muss sich seit den Parlamentswahlen vom Oktober 2012 mit seinem schärfsten Gegner, Premier Iwanischwili, arrangieren. Trotz der Machtkämpfe, die bis zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst noch ausgetragen werden, gibt es Anzeichen für Kooperation.

Seit einem halben Jahr erlebt Georgien ein bislang ungekanntes politisches Schauspiel: das eines (noch) amtierenden Präsidenten Micheil Saakaschwili, der gezwungen ist, gemeinsam mit seinem schärfsten innenpolitischen Gegner, Premierminister Bidsina Iwanischwili, zu regieren. Bei den Parlamentswahlen vom 1. Oktober 2012 hatte Iwanischwili einen Erdrutschsieg feiern können. Das von seiner Partei „Georgischer Traum“ angeführte Bündnis errang 85 von insgesamt 150 Mandaten.

Saakaschwilis Versprechen nach der unerwarteten Schlappe, den Machtwechsel „auf zivilisierte Weise“ zu vollziehen, klang honorig. Wie zivilisiert es tatsächlich zugehen wird, steht noch dahin. Bis zu den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2013, bei denen Saakaschwili nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten darf, gibt es in Georgien nun ein doppeltes Machtzentrum, was eine Ko­habitation zwischen Präsident und Regierung unumgänglich macht – ein Novum in der Geschichte Georgiens in einem Moment, in dem das Land vor großen Problemen steht. 

Innenpolitische Machtkämpfe

Seit der 1991 neu errungenen Unabhängigkeit waren Wahlen in dem Land stets manipuliert; bestehende Machtverhältnisse wurden lediglich bestätigt. Nun ist auf einmal eine Politik der Kompromisse gefragt. In der politischen Kultur nicht nur Georgiens, sondern auch der anderen südkaukasischen Staaten gilt ein Kompromiss als Zeichen der Schwäche: Wer ihn anbietet, signalisiert Unterlegenheit und Bereitschaft zum Nachgeben. 

Die Vorzeichen für eine Kohabitation sind damit nicht sehr günstig. Tatsächlich tobt seit den Parlamentswahlen ein Machtkampf, dessen Ausgang schwer vorhersehbar ist. Besorgnis erregen strafrechtliche Ermittlungen gegen mehrere frühere Regierungsmitglieder; der Verdacht liegt nahe, dass hier mit dem politischen Gegner abgerechnet werden soll. 

Jedenfalls konnten die Widersacher für eine dauerhaft praktizierbare, vom Willen zur Zusammenarbeit inspirierte Kohabitation bislang keine tragfähige Formel finden. Vielmehr scheinen die Regeln einer funktionsfähigen Demokratie mit konstruktivem Wechselspiel zwischen Präsident und Parlament und dabei kritisch mitwirkender, verantwortlich handelnder Opposition bisher nur eingeschränkt zu gelten. Auch wirken die im Wahlkampf geschlagenen Wunden nach. Man belauert sich in tiefem Misstrauen, das sich in gegenseitiger Blockade und entsprechenden Beschuldigungen artikuliert. 

Saakaschwili, der Ende Dezember 2012 fünf kaum erfüllbare Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit Iwanischwili formuliert hat, scheut auch nicht davor zurück, Vorurteile gegen die armenische Minderheit im Lande zu schüren oder internationale Foren für seine Attacken gegen die neue Regierung zu nutzen. Seine Rede vor dem Europarat am 22. Januar 2013 war ein Beispiel dafür. Damit zählte er auf den politischen Kredit, den er im Ausland, und dort vor allem in angelsächsischen Ländern, nach wie vor genießt.

Die Machtfülle, über die Saakaschwili weiterhin verfügt, ist nicht zu unterschätzen: Laut georgischer Verfassung ernennt der Präsident den Stabschef der Streitkräfte, die Botschafter, die Vorsitzenden von Oberstem Gericht und Verfassungsgerichtshof und den Generalstaatsanwalt – und die Gouverneure aller georgischen Provinzen. Infolge der jüngsten Gemeindewahlen – die nächsten stehen erst 2015 an – sind auch die lokalen Verwaltungsposten noch überwiegend mit Gefolgsleuten Saakaschwilis besetzt. Zuletzt begann diese Machtbasis allerdings durch zahlreiche ­Seitenwechsel und Rücktritte zu bröckeln. Im Parlament nähert sich Iwanischwilis Bündnis wegen der Überläufer inzwischen der verfassungs­relevanten Zweidrittelmehrheit von 100 Sitzen.

Entmachtung des Präsidenten

Derweil bemüht sich Iwanischwili beharrlich darum, seinen politischen Spielraum zu erweitern. Eine bereits 2010 beschlossene Verfassungsänderung sieht vor, die Befugnisse des Premierministers erheblich zu stärken. In Kraft treten sollen entsprechende Bestimmungen jedoch erst nach der Neuwahl des Präsidenten. In einem wesentlichen Punkt hat Iwanischwili jedoch bereits jetzt eine ­Verfassungsänderung erreicht: Am 21. März votierte das Parlament einstimmig für die Streichung einer Klausel, die es dem Präsidenten bisher erlaubte, das Parlament aufzulösen und ohne dessen Mitwirkung eine neue Regierung zu ernennen. Für die Zukunft zielt Iwanischwili anscheinend auf eine Verfassungsänderung, bei der der Präsident nicht, wie bisher, durch das Volk, sondern durch das Parlament gewählt würde. 

Wie unter diesen Rahmenbedingungen der politische Reformprozess weiter vorangebracht werden kann, über dessen Notwendigkeit beide Lager sich grundsätzlich einig sind, bleibt eine offene Frage. Defizite gibt es insbesondere im Justiz- und Strafvollzugswesen; auch sie waren ein Grund für Saakaschwilis Wahlniederlage. Die Regierung Iwanischwili bemüht sich nun darum, den Reformstau in kleinen Schritten aufzulösen. Ein Ende Dezember 2012 gegen heftigen Widerstand Saakaschwilis im Parlament schließlich mit Zweidrittelmehrheit durchgesetztes Amnestiegesetz war ein überfälliger Schritt, der auch bezweckt, die Überbelegung georgischer Gefängnisse – proportional eine der höchsten der Welt – zu reduzieren. Im Kampf gegen die Korruption gilt der Ende Januar 2013 vorgestellte „Neue Ethik-Kodex“ für die georgische Polizei. Eine Initiative zur Revision der Wahlgesetzgebung ist ebenso angekündigt wie eine Reform der lokalen Selbstverwaltung.

Es gibt aber auch durchaus Zeichen einvernehmlichen Handelns zwischen Regierung und Präsident, die den Geist einer Kohabitation erahnen lassen. Dies gilt etwa für die Ernennung eines von der Regierung Iwanischwili bestimmten neuen Stabs­chefs der Streitkräfte, den Saakaschwili gemeinsam mit dem neuen Verteidigungsminister Irakli Alasania Mitte Dezember 2012 vorstellte, oder für die angelaufene Ablösung auf Schlüsselposten der georgischen Diplomatie, von der auch die bisherige Botschafterin in Berlin betroffen ist. 

Dringender Handlungsbedarf besteht bei der Wirtschafts- und Sozialpolitik, die schon im Wahlkampf eine bedeutende Rolle spielten. Auch hier bietet sich ein Feld für die Kohabita­tion, da die Gegensätze weniger ausgeprägt sind als in anderen Politikbereichen. In Statistiken werden zwar bedeutende Steigerungen beim Bruttoinlandsprodukt ausgewiesen – so wuchs die Volkswirtschaft 2011 angeblich um 7,2 Prozent. Allerdings wuchsen Armut und Arbeitslosigkeit beträchtlich – laut offiziellen Angaben liegt letztere bei 15,3 Prozent, Schätzungen von NGOs siedeln sie eher bei 40 Prozent an. Es ist bezeichnend für die gegenwärtige Lage, dass der landwirtschaftliche Sektor, in dem über die Hälfte der Bevölkerung tätig ist, lediglich 10 Prozent zum BIP beiträgt und nur rund 20 Prozent der für die Versorgung des Landes benötigten Agrargüter produziert. Derweil werden die Haushalts­lücken größer, das Außenhandelsdefizit wächst, die Investitionen aus dem Ausland gehen zurück.

Allgemein wird Iwanischwili auf wirtschaftspolitischem Gebiet hohe Kompetenz zugetraut; schließlich hat er es verstanden, sich in frühen Jahren ein Milliardenvermögen zu erwerben. Die Hoffnungen auf eine schnelle Besserung sind daher groß. Iwanischwili steht hier unter Druck, noch bis zu den Präsidentschaftswahlen im Herbst Fortschritte zu erreichen.

Sezessionen als Kernproblem

Die Konflikte um die Sezessionsgebiete Abchasien und Südossetien bleiben aber das politische Kernproblem des Landes. Auch nach dem Antritt der Regierung Iwanischwili gilt der bis­herige parteiübergreifende Grundkonsens, dass am Prinzip der territorialen Integrität Georgiens nicht gerüttelt wird. Allerdings ist nach dem russisch-georgischen Krieg von 2008 und den daraufhin erfolgten, von Russland ermunterten Unabhängigkeitserklärungen beider Gebiete vielen bewusst, dass eine Lösung in weite Ferne gerückt ist – und dass neue Politikansätze erforderlich sind.

Denn die Bilanz der bisher unternommenen Lösungsbemühungen ist ernüchternd. Nach dem Augustkrieg von 2008 wurde das Forum der Genfer Verhandlungen geschaffen. In bisher 23 Sitzungen haben die Gespräche kaum Fortschritte gebracht, da die von den Konfliktseiten vertretenen Standpunkte einander diametral gegenüberstehen. Auch nach dem Regierungswechsel ist es bislang nicht gelungen, dort in eine Diskussion über eine zukunftsgerichtete Regelung der Konflikte einzutreten. Die unter Saakaschwili Anfang 2010 mit viel Getöse präsentierte „Strategie für die besetzten Gebiete“, im Kern ein Programm vertrauensbildender Maßnahmen, blieb ebenfalls wirkungslos. 

Im Wahlkampf und danach haben es beide Seiten vermieden, die Sezessionskonflikte zum Thema einer internen Auseinandersetzung zu machen. Dies lässt hoffen, dass der Konsens zu dieser zentralen Frage auch für die übrige Zeit der Kohabitation hält. Allerdings ist offenbar geworden, dass Iwanischwilis Regierung neue Politik­ansätze erwägt, bei denen Maßnahmen der Vertrauensbildung und grenzüberschreitenden Projekten bei Landwirtschaft und Infrastruktur Vorrang gegeben werden soll. Das unter Saakaschwili im Kriegsjahr 2008 angenommene „Gesetz über die besetzten Gebiete“ soll flexibler angewandt, der Zivilgesellschaft größerer Raum gegeben werden. 

Saakaschwilis Konzept war darauf angelegt, eine politische Konfliktregelung mit Unterstützung von Seiten der USA und der EU notfalls auch gegen Russland zu erzwingen. Hin­gegen setzt Iwanischwili auf einen flankierenden Dialog mit Russland, wobei wirtschaftliche Themen zunächst im Vordergrund stehen. 

Kontinuität in der Außenpolitik 

Wiederholt hat die Regierung Iwanischwili vor allem durch die neue Außenministerin Maja Pandschikidse klargestellt, dass sie außenpolitisch unverändert am Ziel einer schnellstmöglichen Westintegration in die Institutionen von EU und NATO festhalten werde. Dass Iwanischwili seine erste Auslandsreise nach Brüssel unternahm, ist als Signal zu verstehen. Bis Ende 2013 erhofft sich Georgien durch den Abschluss zweier Abkommen mit der EU einen Durchbruch: das eine über die Assoziierung, das andere über einen vertieften Freihandel.

Strittiges Element ist jedoch die Absicht Iwanischwilis, die seit dem Krieg 2008 abgebrochenen Beziehungen zu Russland wiederzubeleben. Allerdings soll dabei die Frage der territorialen Konflikte vorerst ausgeklammert bleiben. Ein von Iwanischwili kurz nach den Wahlen ernannter persönlicher Russland-Beauftragter hat seine Arbeit aufgenommen. Russlands Präsident Wladimir Putin sprach von ­„bescheidenen positiven Signalen Geor­giens“. Mit der angekündigten Auf­hebung des Boykotts georgischer Waren durch Russland hat diese Politik einen ersten Erfolg erzielt. 

Dies alles traf jedoch auf den erbitterten Widerstand Saakaschwilis, der schon bei seiner Wahlniederlage erklärt hatte, Iwanischwilis Sieg sei ein Sieg Moskaus. Über seine Partei UNM ließ Saakaschwili die Aufnahme einer Klausel in die Verfassung empfehlen, die die prowestliche Orien­tierung des Landes dauerhaft festschreibt. Iwanischwili lehnte dies ab, man brauche keine derartige Verfassungsänderung, da die Westorientierung nicht strittig sei. In einer einstimmig verabschiedeten Parlamentsresolution vom 7. März wurde dieser Zwist gelöst: Georgiens Integration in euroatlantische Strukturen genieße absolute Priorität, aber auch der Dialog mit Russland sei wichtig.

Für die Kohabitation dürfte dieses Thema aber eine Bewährungsprobe bleiben, während sich das innen­politische Klima vor den Präsidentschaftswahlen verschärft. Bisher ist nicht erkennbar, dass Saakaschwili und seine Partei sich mit der Oppositionsrolle zufriedengeben werden. Iwanischwili wird derweil darauf zu achten haben, dass das von ihm angeführte Bündnis zusammenhält. 

Die georgische Kohabitation bleibt ein Experiment mit offenem Ausgang. In sorgfältiger Abwägung ihrer Interessen haben beide Seiten bisher einen offenen Bruch vermieden. Sollte dieser Kurs eines eingeschränkten Dialogs bis zu den Wahlen durchgehalten werden, wäre das ein beachtlicher Erfolg für Georgiens Demokratieaufbau. Er würde seine Wirkung nicht verfehlen – in einem regionalen Umfeld von meist straff autokratisch regierten Staaten. Auch in den Sezessionsgebieten könnte Georgien so an Attraktivität und Ansehen gewinnen.

Dr. Dieter Boden ist Botschafter a.D. und ehemaliger Sondergesandter des UN-Generalsekretärs in Georgien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2013, S. 97-101

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