Titelthema

31. Okt. 2022

Gekommen, um zu bleiben

Während der Westen in Afrika lange nur Probleme sah, hat China seine Chancen dort genutzt. Wirtschaftlich wie politisch dürfte Peking hier dauerhaft eine Hauptrolle spielen.

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Bild: Ein Arbeiter in Warnweste schaut auf einen von China finanzierten Staudamm in Guinea
Wasser statt Werte: Bei der zügigen Umsetzung von Infrastrukturprojekten wie dem Souapiti-Damm in Guinea ist China den Europäern überlegen.
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Es war der damalige britische Premierminister Tony Blair, der im Jahr 2001 erklärte, der Zustand Afrikas sei „eine Narbe auf dem Gewissen der Welt“.

Nur fünf Jahre später empfing China im Rahmen des „Forums für die Zusammenarbeit zwischen China und Afrika“ (FOCAC) über 40 Staatsoberhäupter und hochrangige Vertreter von damals 53 Nationalstaaten und präsentierte Afrika als einen Kontinent dr Möglichkeiten. Während der Westen Afrika als zerrüttete und stagnierende Region wahrnahm, nutzten die Länder des Kontinents die Gelegenheit, auf China zuzugehen. Dank des chinesischen Engagements wächst Afrikas Bruttoinlandsprodukt um 4,9 Prozent pro Jahr; das ist eine der höchsten Quoten weltweit.



Weiche Werte versus Hardware

Die Geschichte von Chinas Engagement in Afrika lässt sich mit dem Sprichwort „Ein neuer Besen kehrt gut, wenngleich ein alter Besen alle Ecken kennt“ umschreiben. Der Westen, insbesondere Europa, kennt dank seines über zwei Jahrhunderte währenden Einflusses in Afrika alle Ecken auf dem Kontinent. In den nur gut 20 Jahren aber, in denen China seine wirtschaftlichen Aktivitäten in Afrika verstärkt ausgebaut hat, ist das Reich der Mitte zum wichtigsten Handels­partner fast aller Länder des Kontinents geworden.



Was kann China besser als Europa? Eine kürzlich von der Friedrich-Naumann-Stiftung veröffentlichte Studie, für die mehr als 1000 afrikanische Entscheidungsträger zu Europas und Chinas Einfluss befragt wurden, kommt zu einem bemerkenswerten Ergebnis. Bei 13 der 17 untersuchten Indikatoren lag Europa vorn, allerdings vornehmlich bei „weichen“ Themen wie Kultur und Werten. China lag nur in vier Bereichen vorn, die sich aber auf „Hardware-Fragen“ konzentrierten, vor allem Infrastrukturprojekte. Afrikas Staats- und Regierungschefs befinden sich also im Dilemma zwischen europäischen Werten und der Aufgabe, Millionen von Menschen aus der Armut zu befreien.



Sollte Europa die erfolgreiche Durchsetzung seines (Software-)Wertesystems in Afrika feiern oder den chinesischen Fokus auf (Hardware-)Projekte beklagen, welche die dringend benötigte Infrastrukturent­wicklung auf dem Kontinent betreffen?



Wenn Europa sich dafür entscheiden sollte, die Implementierung seiner liberalen Werte in Afrika zu zelebrieren, kann dieser Schuss nach hinten losgehen. Europa muss bereits jetzt prüfen, ob es in Sachen Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit das praktiziert, was es dem Rest der Welt predigt. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine hat deutlich gemacht, dass Europa in Fragen wie der Achtung der Souveränität anderer Nationen mit zweierlei Maß misst. Denn Europa und seine Verbündeten haben die Souveränität anderer Länder bekanntlich immer wieder unter dem Vorwand der Förderung von Werten verletzt. Der amerikanische Soziologe und Bürgerrechtler William E. B. Du Bois hat das einmal auf die elegante Formel gebracht, Europa neige bei der Definition und den Parametern seines Wertesystems zur „Unschärfe“.



Nimmt man hinzu, dass Prozesse, die auf diesem Wertesystem beruhen, keine Garantie für gute politische und wirtschaftliche Ergebnisse in Afrika bieten, steht das ganze Konzept auf wackligen Füßen. Der illiberale Ansatz Chinas nutzt diese Schwäche aus, um in Afrika an Einfluss zu gewinnen.

Während China beim Thema Werte nicht besonders gut abgeschnitten hat, versteht es sich offenbar darauf, die vorgefundenen Wertvorstellungen zu nutzen, um seine Ziele auf dem Kontinent möglichst schnell zu erreichen. Die Chinesen schließen ihre Projekte in Rekordzeit und vor Ablauf der politischen Kampagne ab. Wenn es um Korruption geht, antworten sie achselzuckend mit Weisheiten wie „Wasser nimmt die Form des Behälters an“ und wälzen so die Verantwortung auf die Zielländer zurück.



Wettbewerb der Großmächte

Es steht zu erwarten, dass China weiterhin und auf Dauer eine wichtige und vielschichtige Rolle in Afrika spielen wird. Das gilt etwa für innerafrikanische Infrastrukturprojekte, für technologische Fortschritte insbesondere im digitalen Bereich und für die Verdrängung der westlichen liberalen Ordnung in Afrika. Diese Verdrängung wird nicht notwendigerweise durch einen chinesischen „Kill Switch“, einen Notausschalter, erfolgen. China wird eher die Oberhand gewinnen, indem es einen Zugang zu digitalem Schnickschnack ermöglicht, der die Illusion einer Dezentralisierung von Macht bietet, während er in Wahrheit zur Zentralisierung des Denkens in intellektuellen Blasen beiträgt.



China dürfte aber auch dabei helfen, die Vision eines umfassenden kontinentalen Marktes für Afrika umzusetzen, da es die Entwicklungsziele der Region aus einer regionalen Perspektive angeht. Welche Bedeutung China ansonsten für die Gestaltung der Zukunft Afrikas haben wird, hängt davon ab, wie es mit der komplexen Situation auf dem Kontinent klarkommt, die sich aus den Interessen auch anderer Großmächte ergibt – und ob es ihm gelingt, die Afrikaner dabei einzubinden, gemeinsam diese Komplexität zu managen.



Nicht leichter wird es für China in Afrika insofern, als es zahlreiche internationale Systeme für Sicherheit, Finanzen, Handel, Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit gibt. Der Westen und Europa werden weiterhin eine Schlüsselrolle als Sicherheitsgaranten sowohl für afrikanische Diktatoren als auch für Demokraten spielen. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass China sich in diesen Bereich einmischt; es wird sich stattdessen auf die Sicherung seiner langfristigen Interessen konzentrieren, etwa durch Stimmenthaltungen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Als die NATO 2011 beschloss, Libyen anzugreifen, protestierte China und ließ seine Bürger evakuieren.



Der Westen kontrolliert die globale Finanzarchitektur, allen voran die USA. China tut alles, um dem entgegenzuwirken, indem es seine Währung internationalisiert. Da die meisten afrikanischen Länder Kredite von China erhalten, ist es wahrscheinlich, dass der US-Dollar hier durch den chinesischen Yuan abgelöst wird. Im Jahr 2018 haben mehr als 14 afrikanische Länder, darunter Kenia und Ruanda, darüber diskutiert, Yuan als Währungsreserve in ihren Zentralbanken zu halten.



An der Handelsfront muss China sich mit dem Versuch des Westens auseinandersetzen, Afrika die chinesische Digitaltechnologie auszureden. Das chinesische Unternehmen Huawei hat über 50 Prozent der afrikanischen 3G-Netze und 70 Prozent der 4G-Netze gebaut. Ein vom chinesischen Staatsrat veröffentlichtes Weißbuch mit dem Titel „China und Afrika in der neuen Ära: eine gleichberechtigte Partnerschaft“ hebt Pekings Absicht hervor, „mehr als die Hälfte der WLAN-Spots und mobilen Hochgeschwindigkeits-Breitbandnetze des Kontinents“ zu bauen, „mehr als 200 000 Kilometer Glasfaserkabel“ zu verlegen und „sechs Millionen Haushalte mit Breitband-Internet zu versorgen“. Daneben heißt es im Weißbuch, dass 29 afrikanische Länder sich für digitale Verwaltungslösungen von chinesischen Unternehmen entschieden hätten.



Und weiter: Auf China entfielen im Jahr 2020 mehr als 16,2 Prozent des gesamten afrikanischen Handelsvolumens, fast dreimal so viel wie auf die USA im selben Zeitraum. Seit 2018 stellte China rund 45 Prozent seiner Auslandshilfe – geschätzte 7,5 Milliarden Dollar – Afrika zur Verfügung und avancierte zum wichtigsten bilateralen Handelspartner des Kontinents, wenn man alle 54 Nationalstaaten bilanztechnisch als ein Land behandelt.



Infrastruktur und Austausch

Zu den liebgewonnenen „Framing Bubbles“ des Westens, die China hat platzen lassen, gehört die Vorstellung, dass nur liberale Demokratien in der Lage seien, Menschen aus der Armut zu befreien. Peking untergräbt die Positionierung des Westens als universelle Kraft des Guten, indem es sich in seinen Beziehungen zu Afrika nicht nur auf seine Hardware-Kompetenz verlässt. Die Kommunistische Partei Chinas hat offizielle Kontakte zu über 110 politischen Parteien in 51 afrikanischen Ländern geknüpft; ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Parteien die Wahl haben, sich nach Osten oder Westen zu orientieren oder flexibel mit allen zusammenzuarbeiten, von denen sie sich einen Nutzen versprechen.



Einer der wichtigsten Faktoren, die Chinas Etablierung in Afrika fördern werden, ist die Tatsache, dass die Politik auf dem afrikanischen Kontinent – zumindest oberflächlich betrachtet – dem europäischen Wertesystem pluralistischer Demokratien entspricht. So entsteht ein offener Wettbewerb um die intelligentesten Lösungen – und hier hat China einiges zu bieten, vor allem bei der zügigen Umsetzung symbolträchtiger Infrastrukturprojekte.

Die zweite treibende Kraft sind Austausch und Ausbildung – Themen, die 45 Prozent der afrikanischen Zusammenarbeit mit China ausmachen. So vergibt Peking jährliche Stipendien und verschickt Einladungen an über 10 000 afrikanische Fachleute zu Seminaren und Workshops in China. Im Rahmen des Projekts „Zukunft Afrikas“ werden afrikanische Techniker vor allem in den Bereichen Bauwesen, Mechanik, Elektrotechnik, Agrartechnik und Informationstechnologie ausgebildet. Die chinesische Regierung sorgt dafür, dass afrikanische Studenten Praktika und Jobs bei Unternehmen in China finden, um direkte Verbindungen zu knüpfen und die Studenten nach der Rückkehr in ihre Heimat bei der Arbeit für Firmen aus dem Reich der Mitte zu unterstützen.



Der dritte Punkt sind Chinas strategische Investitionen in die digitale und physische Infrastruktur. Peking hat auf die wachsende Nachfrage reagiert und spielt heute eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung der digitalen Infrastruktur, die man braucht, um die Verbreitung von Internet und Mobiltelefonie in Afrika voranzutreiben. Rund 90 Prozent der chinesischen Exporte nach Afrika sind hochtechnologische und wissensbasierte Produkte mit hoher Wertschöpfung wie Elektronik, Maschinen und Technikequipment.



Jahrhundertelang haben die Großmächte Afrika als ihr Hinterland und als „Narbe auf dem Gewissen der Welt“ behandelt. Heute macht sich China die negativen westlichen Vorstellungen über Afrika zunutze, um seine eigenen kurz- und langfristigen Interessen voranzutreiben und sich Zugang zu einem Markt mit 1,4 Milliarden Menschen zu verschaffen, um die natürlichen Ressourcen des Kontinents zu nutzen und die afrikanischen Stimmen bei den Vereinten Nationen als Gegengewicht zu seinen Wettbewerbern einzusetzen.



Vermutlich wird China die kolonialen Grenzen, die Frankreich, Spanien, Portugal, Deutschland oder Großbritannien einst in Afrika gezogen haben, in einen einzigen Monolithen umschreiben, der China einbezieht. Das zeigt sich etwa in den FOCAC-Dokumenten, in denen Afrika stets als Einheit bezeichnet wird, wenn es um die Beziehungen zu China geht. Obwohl Peking beteuert, sich nicht in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten einmischen zu wollen, wird die Tatsache, dass Afrikas Staaten nach Schätzungen Schulden in Höhe von bis zu 150 Milliarden Dollar bei China aufgehäuft haben, dazu führen, dass es bei der Gestaltung des afrikanischen wirtschaftlichen und politischen Raums mitreden möchte. 

   

Aus dem Englischen von Joachim Staron

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 54-57

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Mehr von den Autoren

James Shikwati ist Gründer und Direktor des Inter Region Economic Networks (IREN), einem Thinktank zur Entwicklung von Strategien für die Verbesserung der Lebensquali- tät in Afrika. Daneben ist Shikwati u.a. Gründer und Herausgeber des Online-Wirtschafts- magazins The African Executive.

 

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