IP Wirtschaft

01. Nov. 2019

Geheimnisse des roten Kapitalismus

Seit einigen Jahren münzt Chinas Regierung ihre ökonomische Macht systematisch in politischen Einfluss um. Nur: Woher kommt das ganze Geld?

Der Film erzählt rührende Geschichten. Etwa die von dem zwölfjährigen Mädchen in Kenia, das von seinem Dorf aus in die Hauptstadt fährt, um dort einen Kunstlehrer zu finden und sein zeichnerisches Talent zu entwickeln. Dem Narrativ des Filmes zufolge wollte das Mädchen eigentlich zu Fuß gehen, doch dann wurde ihm klar, dass die Strecke viel zu weit ist. Möglich wurde ihre Reise erst durch die neue Bahnstrecke von Mombasa nach Nairobi, gebaut mit chinesischem Geld und chinesischem Material.

Im Verlauf des Streifens wird dem Zuschauer klar, dass die Schienen, Flughäfen und Brücken dessen eigentliche Stars sind. Denn der Propaganda-Dokumentarfilm „Gemeinsames Schicksal“ zeigt sechs Geschichten entlang der Neuen Seidenstraße, dem Großprojekt der Volksrepublik. Das Produktionsteam ist dafür 300 000 Kilometer gereist. Die Botschaft: Chinas Bauvorhaben rund um den Globus verbessern das Leben der Menschen dramatisch.

Tatsächlich hat die neue Bahnstrecke in Kenia die Reisezeiten zwischen den zwei Bevölkerungszentren des Landes drastisch verkürzt. Eine chinesische Förderbank, die China Exim-Bank, hat dafür gut drei Milliarden Euro an zinsgünstigen Krediten vergeben. Ähnliche Projekte laufen derzeit in 70 Ländern. China steigert mit den hohen Investitionen jedoch nicht nur den Lebensstandard in den Empfängerländern, sondern treibt damit auch seine Ambitionen auf weltweiten Einfluss voran. Westliche Politiker müssen derweil mit Neid zusehen, wie China ein Großvorhaben nach dem anderen hinklotzt, während in ihren Ländern die Schwimmbäder verfallen und die Bahngleise verrosten.



Mut zum Ausfallrisiko

Wie schafft China dieses Finanzwunder? Schließlich war es 1974 noch so arm, dass Vizepremier Deng Xiaoping im ganzen Land nur mit Mühe die Kosten von 38 000 Dollar für eine Delegationsreise nach New York zusammenkratzen konnte. Heute, so scheint es, spielt Geld für das Reich der Mitte keine Rolle. Einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge hat China zwischen 2013 und 2017 etwa 260 Milliarden Euro entlang der Seidenstraße ausgegeben.

Die Antwort liegt in einer Mischung aus wirtschaftlichem Erfolg, staatlicher Finanzbewirtschaftung – und einer guten Portion Mut, um Ausfallrisiken zu tragen. „In Schwellenländern akzeptiert China ein Risikoniveau, das andere Investoren nicht in Kauf nehmen würden“, schreibt Chinaökonom Christopher Balding von der Fulbright University Vietnam. Es zähle also nicht die reine Finanzkraft – die sei im Westen immer noch deutlich höher –, sondern die Bereitschaft, das Geld zielgerichtet für ein Großprojekt einzusetzen. Die Seidenstraßeninitiative habe in China Verfassungsrang. Damit seien die regierende Partei und folglich auch alle Finanzakteure auf ihren Erfolg eingeschworen.

Die Finanzierung der großen chinesischen Projekte läuft dabei fast ausschließlich über staatliche Banken. Davon gibt es zwei Arten: die Förderbanken und die Geschäftsbanken. Die wichtigsten Förderbanken sind die China Development Bank (CDB) und die China Exim-Bank. Die CDB heißt wegen ihrer grenzenlosen Bereitschaft, alles zu finanzieren, was Peking vorhat, in der Branche auch der „Geldautomat der Regierung“. Doch auch die normalen Banken überbieten sich mit Finanzierungsideen für die Seidenstraße, allen voran die Industrial and Commercial Bank of China (ICBC). Die ICBC ist nach Bilanzsumme das größte Kreditinstitut der Welt. Rein private Banken kennt China nicht.

Wenn ein Auslandsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regierung des Empfängerlands die Zustimmung erhalten hat, dann ist die Freigabe der Gelder nur noch eine Formalität. Die Banken finanzieren die Kreditvergabe in der Regel ihrerseits durch die Ausgabe von Anleihen. Sie borgen sich dazu also scheinbar am Markt Geld. Doch tatsächlich sind es wieder die staatlichen Banken des Landes, die hier investieren. Wer der Spur des Geldes folgt, findet hier den Ursprung der Mittel, die China so freigiebig verleiht. Die Geschäftsbanken investieren die Einlagen ihrer Kunden in die Anleihen. Die Mittel stammen also aus den Ersparnissen der chinesischen Normalbürger.

Dieser Vorgang ist grundsätzlich nicht weiter bemerkenswert. Keine Bank der Welt lässt die Kontoeinlagen einfach herumliegen, sie alle lassen das Geld arbeiten, indem sie es weiterverleihen. Chinas Banken machen auch nichts falsch, indem sie das Geld an andere Staatsinstitutionen vergeben. Diese haben schließlich volle Rückendeckung der Regierung. Wenn etwas nicht nach Plan läuft, dann steht die Zentralbank bereit, rettend einzugreifen. Im Prinzip handelt es sich um ein System ohne Verlierer.



Vom Handy bis zum Tomatenketchup

Die Grundlage für die Fähigkeit, Auslandsmittel in einem solchen Umfang zu mobilisieren, ist allerdings der hohe Export – sonst würde es dazu an Devisen fehlen. „Die chinesische Volkswirtschaft war hier sehr erfolgreich“, sagt Markus Taube, Professor für chinesische Wirtschaft an der Universität Duisburg-Essen. Weil China der weltgrößte Produzent so vieler Warengruppen ist, von Rohstahl und Schiffen über Handys bis hin zu Tomatenketchup, fließen schon seit Jahrzehnten jede Menge Einnahmen aus dem Außenhandel auf die Konten der Zentralbank.

So steht ein erhebliches Reservoir zur Verfügung, um Fremdwährungen in Renminbi zu tauschen. Dank der lebhaften Teilnahme am Welthandel erwirtschaftet China auch im laufenden Betrieb ständig Überschüsse, die sich wiederum investieren lassen. Mittlerweile gelten die allzu hohen Produktionskapazitäten aus Sicht vieler Beobachter sogar als Problem. Die Baufirmen könnten noch viel mehr bauen, die Elek­troindustrie noch viel mehr Flachbildfernseher oder Solarzellen herstellen. Die Stahlhütten und Zementwerke des Landes könnten den weltweiten Bedarf notfalls ganz allein decken. Die Auslandsmärkte, die Xi entlang der Seidenstraße erschließen lässt, sind nun willkommene Exportziele zur Auslastung der Kapazitäten.



Tiefer Schluck aus der Kreditpulle

In diesem Kontext sind auch die häufig gehörten Warnungen vor hoher Verschuldung in China zu sehen. Die einheimische Wirtschaft hat in den vergangenen 20 Jahren einen besonders tiefen Schluck aus der Kreditpulle genommen. Dabei handelt es sich zum allergrößten Teil um Inlandsschulden von Firmen bei chinesischen Banken. Diese Schulden gefährden das Land nicht, denn auch im Fall riesiger Ausfälle drohen keine Bankenpleiten – schließlich gehören die Institute dem Staat, der zu ihrer Rettung bereitsteht. „Das Geld geht in China höchstens von einer Tasche in die andere“, sagt der unabhängige Ökonom Andy Xie aus Schanghai. „Oft kreist es aber sogar in derselben Tasche.“ Er meint damit, dass die Kreditempfänger ihrerseits oft Regierungsbetriebe sind: Die Darlehen gehen von staatlichen Banken an staatliche Unternehmen.

Tatsächlich war es ein Kreislauf der Kreditausweitung und der Investitionen, der Chinas Wachstum seit den 1980er Jahren maßgeblich gefördert hat. Im Inland ist dieser Mechanismus ausgereizt, wie die Überkapazitäten zeigen. Jetzt geht es im Ausland weiter. Das weltweite Engagement ist also auch so etwas wie eine Flucht nach vorn. Indem China im Rahmen der Seidenstraßeninitiative noch mehr Kredite vergibt, riskiert es daher erst einmal keine Überstreckung, sondern ermöglicht eine Auslastung der vorhandenen Ressourcen.

Doch auf den zweiten Blick ist die Lage alles andere als ideal. Denn statt auf eine gesunde Wirtschaftsstruktur hinzuarbeiten, verschleppt China das Problem. Schlimmer noch: Die Auslandskredite könnten sich als schlecht angelegtes Geld erweisen. Brücken im Inland nutzen immerhin der eigenen Bevölkerung und stützen die eigene Produktivkraft. Bauprojekte in schlecht organisierten Ländern verkommen oft zu Geschichten von Korruption und Verfall.

Es ist zudem unklar, woher die Mittel kommen sollen, um die Kredite zu bedienen. „China stellt sie in Dollar bereit, also müssen die Empfängerländer auch Dollar aufbringen, um sie zurückzuzahlen“, sagt Balding. Das zwinge unterentwickelte Regionen dazu, plötzlich Dollarüberschüsse zu erwirtschaften – es ist eher unwahrscheinlich, dass das klappt.

Für Machthaber Xi Jinping steht jedoch erst einmal die politische Rendite im Vordergrund. In China wagt längst keiner mehr, ihm Widerstand zu leisten, und die Seidenstraße ist sein ganz großes Projekt. Kein Bundesrechnungshof stellt eine exakte Abwägung von Kosten und Nutzen auf; kein Parlament hinterfragt den weisen Einsatz des kostbaren Kapitals. Die Milliarden fließen, und keiner darf Fragen stellen.

Die Banken und Unternehmen wenden dabei durchaus unternehmerische Maßstäbe an, um die Zukunftsfähigkeit der Projekte zu bewerten, sagt Ökonom Taube. „Doch viele Risiken liegen außerhalb der Kontrolle chinesischer Akteure.“ Viele der Empfängerländer seien für Korruption bekannt, dazu steige der Widerstand der Bevölkerung gegen die Präsenz chinesischer Investoren.



Da, wo der Westen nicht hinwill

Die protektionistische Politik von US-Präsident Donald Trump zerstört zudem die Weltwirtschaftsordnung mit offenen Märkten und freien Kapitalflüssen, auf denen die Seidenstraßeninitiative beruht. Wenn sich in einigen Jahren die Kreditausfälle häufen sollten, müsste sich die Führung einige Fragen stellen lassen – vor allem, warum sie das Geld nicht sinnvoller eingesetzt habe.

Bisher gilt die Seidenstraße unter China­beobachtern jedoch als kluges Modell, um Überschüsse zu investieren und zugleich den internationalen Einfluss des Landes auszudehnen. China geht dahin, wo westliches Kapital nicht hinwollte. Jedenfalls hat sich seit über 100 Jahren keiner aus dem Westen gefunden, der bereit gewesen wäre, in eine Eisenbahn in Kenia zu investieren.

Das Konzept funktioniert also vielleicht nicht so sehr als ökonomisches, dafür aber als politisches Konstrukt. Die Ergebnisse sind jedoch bisher allenfalls gemischt. Das lässt sich gut in Osteuropa nachzeichnen. Als China vor sieben Jahren mit großem Pomp eine üppige Förderung für Infrastruktur in 16 Ländern von Estland bis Albanien und von Slowenien bis Rumänien versprach, war dort die Euphorie groß: Jeder Politiker gibt schließlich gerne anderer Leute Geld aus. In der EU dagegen sorgte die Tatsache, dass die Chinesen jetzt im eigenen Gebiet wilderten, für erhebliche Nervosität.

Doch auf dem jüngsten EU-­Osteuropa-Gipfel im April 2019 in Dubrovnik herrschte auf Seiten der Osteuropäer Ernüchterung. Den Teilnehmern war klar geworden, dass vor allem chinesische Firmen zum Zuge kommen sollten, die mindestens zum Teil ihre eigenen Arbeiter mitbringen. Der Baubeginn von Prestigeprojekten wie einem Atomkraftwerk in Rumänien bleibt weiter in der Schwebe. Schließlich gelten immer noch europäische Standards.

Der erwähnten Bertelsmann-Studie zufolge ist den Beteiligten auch klar geworden, dass Osteuropa immer noch viel, viel mehr Mittel aus Europa erhält als aus Asien. „Chinesische Investitionen spielen im Vergleich mit Transferleistungen und Investitionen aus westlichen Ländern, insbesondere der EU, so gut wie keine Rolle“, so die Experten. Dementsprechend fordert die Bertelsmann-Stiftung die traditionellen Geberländer dazu auf, ihre eigenen Investitionen in Schwellenländern offensiver zu vermarkten – schließlich geben sie zusammen genommen immer noch mehr als China. „Der Westen verkauft sein Engagement unter Wert“, sagt Bernhard Bartsch, Asien-Experte der Stiftung. „Wir können von China lernen, wie man sich als guter Partner für die Entwicklung darstellt.“

 

Finn Mayer-Kuckuk war zwölf Jahre lang Korrespondent in Ostasien, u.a. für Handelsblatt und Frank­furter Rundschau. Derzeit arbeitet er als Wirtschafts- und Digitaljournalist in Berlin.

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Bibliografische Angaben

IP Wirtschaft 3, November 2019 - Februar 2020, S. 22-25

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