Die Politisierung des Atem-Notstands
Internationale Presse China
In China bleibt privates Engagement gefährlich
Nichts ist existenzieller als die Luft zum Atmen und das Wasser zum Trinken. Kein Wunder, dass der Smog eines der am heftigsten diskutierten Themen in der chinesischen Medienwelt geworden ist – und auch die Staatsmedien -beschäftigt. So strahlte der Pekinger Verkehrsfunk kurz vor Ostern zur morgendlichen Top-Sendezeit eine lange Sendung über Luftverschmutzung aus. Darin waren auch einfache Bürger zu hören, etwa eine Mutter, die sich um die Gesundheit ihres Töchterchens sorgt. „Wir wissen ja gar nicht, was der Feinstaub an-richtet“, klagt sie in dem staatlichen Programm.
Verhängnisvoller Erfolg
Angesichts einer solchen Offenheit im Umgang mit dem Thema verwundert das Verhalten der Zensurbehörden nur wenige Wochen zuvor. Die prominente TV-Journalistin Chai Jing hatte auf eigene Rechnung eine zweistündige Dokumentation gedreht, die den Umgang der Chinesen mit der Misere um die schlechte Luft zeigte (Veröffentlichung auf QQ Video am 28. Februar). Dafür hatte Chai emotional packende Bilder eingefangen und zugleich anschaulich die wissenschaftlichen Zusammenhänge rund um das Thema Feinstaub erklärt. In Anspielung an eine Stephen-King-Verfilmung trägt das Werk den griffigen Titel „Under the Dome“ (Qiongding Zhixia/Unter der Kuppel).
Über 100 000 Euro hatten sie und ein paar Freunde für die Produktion ausgegeben. „Der Smog hat mich emotional belastet, mein ganzes Leben war davon beeinflusst. Zudem wuchs in der gesamten Gesellschaft die Sorge wegen der Luftverschmutzung“, sagte Chai in einem Interview mit der staatlichen Volkszeitung, das zunächst zeitgleich mit dem Video erschienen war (28. Februar).
Der Erfolg war durchschlagend – und das war wohl auch das Verhängnis des Filmes. Nach wenigen Tagen zählten die großen Videowebseiten über 100 Millionen Downloads, später wurden es zusammengenommen wohl bis zu 300 Millionen. Selbst in einem Land mit einer Milliardenbevölkerung bedeutet das: Fast jeder, der online ist, hat den Streifen gesehen oder zumindest davon gehört. Die Zensur in Peking zog daraufhin die Notbremse. Die Internetportale nahmen das Video in der zweiten Märzwoche herunter, in den Massenmedien wurde es nicht mehr erwähnt. Auch das zitierte Interview verschwand.
Eine Kehrtwende, die viele verblüffte. Denn der Umweltminister hatte Chai zunächst für ihren Einsatz gelobt – schließlich ist der Kampf für bessere Luft so etwas wie ein gemeinsames nationales Projekt. Die Volkszeitung, eigentlich ein scharfes Propagandablatt, hatte das Video zu dem Interview auf ihre Homepage gestellt. Bis das Beil fiel.
Das widersprüchliche Verhalten hat aber eine vergleichsweise einfache Erklärung. Der offene Umgang der Medien mit dem Thema Smog sollte das Volk aus Sicht der Führung beruhigen und ein Ventil für Ärger und Unsicherheit schaffen. Er sollte auch signalisieren: Die da oben haben verstanden und tun endlich etwas. Doch Chais Reportage drohte zum Angelpunkt für zielgerichteten Zorn über Chinas Umweltprobleme zu werden.
Eine weitere Erklärung für die strikte Zensur: Zeitgleich fand der Nationale Volkskongress statt, die jährliche Sitzungsperiode des gelenkten Parlaments des Landes. Den Behörden ist in diesen Tagen für gewöhnlich daran gelegen, möglichst große Ruhe zu schaffen. Wenn Chai Jing das Video absichtlich kurz vor dem Volkskongress veröffentlicht hat, um maximale Wirkung zu erzielen, ist ihr das einerseits gelungen – andererseits hat es die Lebensdauer ihres Beitrags in der Öffentlichkeit stark beeinträchtigt.
Nicht wenig zur Alarmstimmung unter den Zensoren dürfte auch die Personalie Chai beigetragen haben. Denn Chai ist in China keine Unbekannte. Für den Staatssender CCTV beteiligte sie sich an der Aufdeckung von Lebensmittelskandalen. Nach einer beruflichen Auszeit, während derer sie sich um ihr krankes Kind kümmerte, meldete sie sich mit dem Smogvideo zurück – hohe Aufmerksamkeit war ihr sicher. Hinzu kommt, dass die Krankheit ihrer Tochter mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die Luftverschmutzung zurückzuführen ist.
Ein Thema ihres Filmes ist zudem die Vertuschung der Gefahren der Umweltverschmutzung in den Jahren vor der Freigabe des Themas durch die Zensur im Jahr 2012. Als etwa 2004 der Pekinger Flughafen wegen Smog geschlossen wurde, berichteten die Medien lediglich über dichten Nebel. „Als Journalistin, die zu dieser Zeit schon aktiv war, fühlte ich mich mitverantwortlich“, beschreibt Chai ihre Motivation für das Projekt in dem Interview mit der Volkszeitung.
Berichte über den heldenhaften Kampf der aktuellen Führung gegen die Luftverschmutzer sind also erwünscht – eine Aufarbeitung der bisherigen Fehler der Kommunistischen Partei im Umgang mit dem Thema jedoch nicht.
Harmlos, friedlich, gefährlich
Chai ist kein Einzelfall, und es hat sie nicht einmal besonders hart getroffen. Wesentlich schlimmer erwischte es eine Gruppe von Feministinnen, die eine Aktion gegen sexuelle Übergriffe auf Frauen geplant hatte. Die Polizei nahm sie Anfang März wegen drohender „Unruhestiftung“ fest. Seitdem befinden sie sich in Haft. Anlass der geplanten Aktion war ein Jahrestag: Im März vor 20 Jahren hatte die Weltfrauenkonferenz erstmals in Peking stattgefunden. Das Ereignis gilt als Durchbruch in der Geschichte der Gleichstellung der Frau in China – die Ziele von damals gelten heute immer noch. Ziel der verhafteten Aktivistinnen war es, Forderungen wie die nach einem verstärkten Kampf gegen sexuelle Übergriffe zu erneuern. Geplant war vor allem, in der eigenen Umgebung Aufkleber mit eingängigen Sprüchen zu verteilen. „Trotz ihrer harmlosen Forderungen und ihres friedlichen Auftretens wurden die Frauen als Bedrohung wahrgenommen“, kommentiert die South China Morning Post, die unzensiert in Hongkong erscheint (19. März).
Es gibt eine große Gemeinsamkeit mit dem Fall des Umweltvideos: Sowohl Chai Jing als auch die Feministinnen vertreten im Prinzip Positionen, die in einer Linie mit den erklärten Zielen der Kommunistischen Partei stehen. Umweltschutz und bessere Luft standen in diesem Jahr prominent auf dem Programm des Nationalen Volkskongresses. Zudem sprach sich Premier Li Keqiang bei dieser Zusammenkunft für einen besseren Schutz vor häuslicher Gewalt und gegen sexuelle Übergriffe aus.
Wenn zwei das Gleiche tun, ist das in China noch lange nicht dasselbe. Die Partei behält sich vor, Politikziele zu setzen und voranzutreiben. Privates Engagement entlang der gleichen Li-nien stößt auf immer mehr Misstrauen. „Die Trennlinie zwischen sozialem Engagement und Dissidententum verwischt sich“, urteilt das amerikanische Time Magazine (18. März).
Früher sei klar gewesen, wo das gefährliche Territorium anfange: Wer sich mit Tibet, Taiwan oder Tiananmen beschäftige oder eine wie auch immer geartete Entmachtung der Kommunisten anstrebe, bringe sich in Gefahr. Gesellschaftsfragen, Wirtschaft, Soziales? Eher ungefährlich. Heute nicht mehr. „Das Regime fährt nun jedoch eine härtere Linie und lässt auch diejenigen verhaften, die sich nicht gegen die Macht der Partei auflehnen“, schreibt Time. Zudem gebe es ganz neue Verbotszonen – und es kommen weitere hinzu.
Der South China Morning Post zufolge ist die KP wieder stärker darauf bedacht, ihr Politikmonopol aufrechtzuerhalten. Im Falle der Frauenrechte sei die Gesamtchinesische Frauenliga zuständig, die lückenlos von der Partei kontrolliert sei. Die guten Verbindungen der Frauenliga zu den Schaltstellen der Macht verleihen ihr erheblichen Einfluss, was sich auch in der weit entwickelten Gleichstellung zeigt. Doch die Stärke sei zugleich eine Schwäche, kommentiert die Zeitung. Die Liga würde beispielsweise nie die Frage der Rechte sexueller Minderheiten anpacken – weil das von der Führung nicht gewollt sei.
Während die Zeitungen in Hongkong umfangreich über diese Themen berichten, schweigen dazu die festlandchinesischen Medien erzwungenermaßen. Zu den Frauenrechtlerinnen findet sich in Print und Online gar nichts. Und die ersten Internet-treffer zu Chai Jing führen zu Blogeinträgen, die sie diffamieren, unter anderem mit dem Vorwurf, sie arbeite mit manipulativen Methoden.
Vergleichsweise viel Raum erhält dagegen die Meldung, dass die Behörden einen Mitarbeiter des Umweltamts von Shanxi, Liu Xiangdong, wegen Korruptionsverdacht verhaftet haben, wie etwa das Portal „Sina.com“ berichtet (19. März). Ein sehr verdächtiger Vorgang, denn in Chais Dokumentarfilm ist Liu als Zeuge für die Untätigkeit der offiziellen Stellen aufgetreten.
Andere nicht zensierte Berichte warnen ebenfalls implizit vor den Gefahren privaten Engagements in politischen Dingen, selbst wenn die -gleichen Ziele auf der Agenda der Regierung stehen. Der Aktivist Ou -Shaokun etwa musste in der zentralchinesischen Stadt Changsha für fünf Tage ins Gefängnis, wie das Nachrichtenportal Phoenix kurz vor Ostern berichtete (1. April). Ou war der chinesischen Netzöffentlichkeit durch seine Aktionen gegen Korruption von Beamten bekannt geworden. So hatte er Fotos von Beamten hochgeladen, die Luxusautos weit jenseits ihrer Gehaltsstufe fahren oder sich in noblen Hotels vergnügen.
Gegen üppigen Lebenswandel und Bestechlichkeit kämpft zwar auch Präsident Xi Jinping – doch das Monopol für die Aufdeckung der Korruption hat die Disziplinarkommission der Partei.
Auch in Changsha hatte Ou nach Aussage seiner Unterstützer Fotos von Bonzen gemacht, die ihre Dienstwagen offenbar für private Zwecke einsetzen. Nur wenige Stunden danach sprach ihn eine junge, hübsche Frau an und folgte ihm auf sein Hotelzimmer, erzählte Ou der South China Morning Post (2. April). Die Polizei stürmte kurz darauf herein und unterstellte ihm, mit einer Prostituierten zu verkehren – in China ist das illegal. „Ich wurde hereingelegt“, sagt Ou.
In Rotchina stellen ihn die Medien nun jedoch als moralisch verkommenen Menschen dar. In der Gesamtschau ergibt sich das Bild einer klaren Warnung an die interessierte Öffentlichkeit: Wagt euch nicht zu weit vor! Organisiert euch nicht! Überlasst die Sphäre der Politik der Partei! Um den Umweltschutz soll sich die Entwicklungs- und Reformkommission kümmern, um Gleichstellung die Frauen-liga und um Bestechlichkeit die Disziplinarkommission. Der einfache Bürger soll warten, bis die Partei ihm die Reformen präsentiert.
Finn Mayer-Kuckuk berichtet für die Berliner Zeitung, die Frankfurter Rundschau und weitere Medien aus Peking.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2015, S. 130-133