Gegen den Strich

29. Apr. 2024

Gegen den Strich: Nahostkonflikt

In keinem Konflikt der Welt wird der Kampf der Narrative so erbittert geführt wie in dem zwischen Israelis, Palästinensern und den anderen direkt oder indirekt beteiligten Mächten. Und so herrscht auch hier an vermeintlichen Gewissheiten und offenkundigen Irrtümern kein Mangel. Ein Versuch, Klarheit zu schaffen, ohne zu vereinfachen.

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Bild: Bewaffnete Hamas-Terroristen
Zu allem entschlossen: Sechs Monate Krieg haben gezeigt, dass sich die Hamas mit militärischen Mitteln nicht vernichten lässt, nicht mal als Miliz im Gazastreifen.
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„Israel ist die einzige Demokratie in Nahost“

Das stimmt (noch) für Israel in den Grenzen von 1949. Aber weil fünf Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser unter Besatzung keine politischen Rechte haben, gilt das israelische Herrschaftsgebiet als „defekte“ oder „ethnische“ Demokratie.

In Israel wird die Regierung frei gewählt, die Bürger dürfen ihre Meinung äußern und demonstrieren, es gibt eine kritische Presse und eine unabhängige Justiz. Dieses Mindestmaß an demokratischen Rechten gewährt kein anderer Staat der Region. Von Ägypten bis zum Iran werden die Menschen autokratisch regiert und unterdrückt, nur der Irak erfüllt die formalen Voraussetzungen einer parlamentarische Demokratie.

Allerdings schützt Demokratie nicht vor Völkerrechtsverbrechen – siehe die US-Kriege in Vietnam und im Irak. UN-Gremien, Völkerrechtler und Nichtregierungsorganisationen werfen der israelischen Regierung seit Jahren Menschenrechtsverletzungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vor – bei militärischen Operationen, im Rahmen der Besatzung palästinensischer Gebiete, neuerdings auch im Umgang mit Gefangenen.

Neben diesen Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht gefährdet der politische Rechtsruck die israelische Demokratie. Der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gehören Rechtextremisten, Nationalisten und messianische Siedler an; sie wollen Israel zu einem autoritären Staat umbauen. Ihre Justiz­reform soll dem Parlament uneingeschränkte Macht einräumen; das wäre das Ende der Unabhängigkeit der Justiz. Netanjahu will damit einer Strafverfolgung wegen Korruption entgehen.

Hunderttausende Israelis sind 2023 gegen diese Pläne auf die Straße gegangen, die Gesellschaft ist gespalten. Der Terror­anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 hat die Menschen nur vorübergehend in ihrem Schmerz geeint, inzwischen vertieft er die Gräben. Denn er hat den Siedlern Auftrieb gegeben und die rechtsradikalen Kräfte gestärkt, deren rassistische Positionen sich jetzt in Teilen der Öffentlichkeit wiederfinden.

Diese Entwicklung zeigt sich auch im repressiven Umgang mit Menschen, die gegen den Krieg und für einen Waffenstillstand demonstrieren, ein Ende der Besatzung fordern und die Siedlergewalt im Westjordanland kritisieren.1

Schon seit Jahren werden Nichtregierungsorganisationen diskreditiert und an ihrer Arbeit gehindert, wenn sie Menschenrechtsverletzungen israelischer Behörden dokumentieren. Inzwischen werde Solidarität mit Palästinensern pauschal zur Unterstützung der Hamas umgedeutet, beklagen Aktivistinnen.2

Israel ringt mit seiner Identität als jüdischer und zugleich demokratischer Staat. Die einen wollen einen jüdischen Staat, der die kollektiven Rechte seiner jüdischen Bewohner über die individuellen Rechte seiner nichtjüdischen Bürger stellt. Die anderen fordern einen demokratischen Staat, der allen Bürgern die gleichen Rechte garantiert – unabhängig von religiöser und ethnischer Zugehörigkeit.

Formal hat sich das Land bereits entschieden. Das Nationalstaatsgesetz von 2018 erklärt Israel zu einem jüdischen Staat, ohne das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz zu erwähnen.3

Es definiert Israel als historische Heimat des jüdischen Volkes und spricht diesem allein das Recht auf nationale Selbstbestimmung zu. Dadurch gibt es keine israelische Nationalität, die alle Bürger vereint, sondern eine Differenzierung zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürgern.

Jüdische Ansiedlungen werden rechtlich bevorzugt, damit in Zukunft keine Region in Israel eine arabische Mehrheit hat, Arabisch ist keine offizielle Staatssprache mehr. Wer stattdessen einen „Staat für alle ­Bürger“ ­fordert und den jüdischen Charakter Israels zugunsten individueller Rechte und Freiheiten infragestellt, gilt den Verfechtern des Nationalstaatsgesetzes als Verräter, der Israels Identität verleugnet. Jüdische und arabische Oppositionspolitiker, zivilgesellschaftliche Gruppen sowie progressive und säkulare Israelis kritisieren das Gesetz deshalb als diskriminierend.


„Israel ist ein Apartheidstaat“

Nein, aber es unterhält in den besetzten Gebieten ein System der Apartheid.

Das Wort Apartheid erinnert an Südafrika und mag für Israel unpassend klingen, ist jedoch ein Begriff des Völkerrechts. Ein Apartheidsystem ist ein auf Dauer und mit Absicht angelegtes institutionelles Regime der systematischen Unterdrückung und Herrschaft einer Gruppe über eine andere, das mit unmenschlichen Handlungen einhergeht.

Dass Israel in den seit 1967 besetzten Gebieten ein System der Ungleichbehandlung aufrechterhält, ist unter Menschenrechtsorganisationen unstrittig. Der Internationale Gerichtshof (IGH) erstellt dazu gerade ein Gutachten, das die UN-Generalversammlung im Dezember 2022 in Auftrag gegeben hat. Im besetzten Westjordanland und im annektierten Ostjerusalem verstößt Israel mit dem Bau von Sperranlagen und Siedlungen sowie der Vertreibung ­palästinensischer Bewohner und Bauern seit Jahrzehnten gegen das Völkerrecht.

Israelische Behörden behindern den Zugang der Palästinenser zu Land, natürlichen Ressourcen, Bildung und Gesundheitsversorgung. Sie beschränken ihre Bewegungsfreiheit, verwehren Baugenehmigungen und Möglichkeiten des Landerwerbs. In Ostjerusalem werden palästinensische Bewohner ausgebürgert, wenn sie als Sicherheitsrisiko gelten. Im Gegensatz zu Muslimen und Christen können Juden, deren Familien bis 1948 in Ostjerusalem gewohnt haben, Ansprüche auf dortige Häuser geltend machen; dadurch kommt es immer wieder zu Zwangsräumungen.

Laut Amnesty International sind Palästinenser in den besetzten Gebieten „exzessiver Gewaltanwendung, rechtswidrigen Tötungen, willkürlichen Verhaftungen, Verwaltungshaft, Zwangsumsiedlungen, der Zerstörung von Häusern, der Konfiszierung von Land sowie der Verweigerung von Grundrechten und -freiheiten“ ausgesetzt.4

Da diese Ungleichbehandlung nach 57 Jahren nicht als vorübergehend gelten könne, so Amnesty, erfülle sie den Straftatbestand der Apartheid, der im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aus dem Jahr 1998 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgeführt ist.

Die Politik der aktuellen Regierung erhärtet den Apartheidvorwurf, denn sie verfolgt das Ziel, das Westjordan­land zu annektieren, ohne der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung gleiche Rechte zuzugestehen.


„Wer „From the river to the sea“ ruft, will Israel zerstören“

Nicht unbedingt. Es kommt darauf an, wer die Parole in welchem Kontext benutzt.

Im November 2023 wurde der Halbsatz „From the river to the sea“ in Deutschland als Hamas-Kennzeichen definiert und verboten. Wer einen Anspruch auf das gesamte Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer erhebe, stelle automatisch das Existenzrecht Israels infrage und argumentiere so antisemitisch, lautet die Begründung.

In Wirklichkeit stammt der Satz „From the river to the sea, Palestine will be free“ aus den 1960er Jahren und ist somit älter als die Hamas. Erst seitdem einige Demonstranten nach dem 7. Oktober mit dem Spruch deren Gräueltaten feierten, wird er pauschal als Hetzparole gegen Juden verstanden. Das greift jedoch zu kurz, da die große Mehrheit der Menschen, die ihn benutzen, ein Palästina frei von Besatzung und Unterdrückung fordert und damit ein legitimes Anliegen formuliert.5

Die entscheidende Frage ist also, wer die Formel in welcher Absicht verwendet und welche Vorstellungen von Palästina sich damit verbinden.

Neben der gewaltverherrlichenden Hamas-Variante einer kleinen Minderheit gibt es zwei weitere Interpretationen. Entweder es geht um ein Ende der Besatzung in den 1967 besetzten Gebieten und die Errichtung eines palästinensischen Staates neben Israel.

Oder das Ziel ist eine Ein-Staat-Lösung, die alle Bewohner rechtlich gleichstellt, was Israel von einem jüdischen Staat zu einem Staat für alle Bürger machen würde. Verfechter dieses Szenarios wollen anderweitig garantieren, dass angesichts von sieben Millionen Juden und sieben Millionen Nicht-Juden in dem Gebiet die kollektiven Rechte der jüdischen Bewohner dauerhaft gesichert würden. In keinem der beiden Fälle spricht sich die Person für eine Vertreibung oder Vernichtung von Juden aus.

Um dies zu verdeutlichen, haben Aktivisten den zweiten Teil des Slogans angepasst. Statt „Palestine will be free“ formulieren sie „we demand equality“ („wir fordern Gleichberechtigung“) oder „everyone must be free“ („alle müssen frei sein“). Doch auch solche Plakate wurden von der Polizei entfernt. Ob der Ruf nach Gleichberechtigung und Freiheit aller als antisemitisch einzustufen ist, müssen nun deutsche Gerichte klären.

Problematisch wird der Umgang mit dem Halbsatz, wenn man ihn einseitig kriminalisiert. Die aktuelle israelische Regierung beansprucht das gesamte Gebiet westlich des Jordans – from the river to the sea – für „Eretz Israel“, Groß-Israel. Einzelne Minister sprechen den Palästinensern nicht nur das Recht auf Selbstbestimmung und staatliche Souveränität ab, sondern ihre Existenz als Volk insgesamt.6

Netanjahu arbeitet seit Jahrzehnten ganz offen an der Verhinderung eines palästinensischen Staates; seine Likud-Partei bekräftigte schon 1977 (zehn Jahre vor Gründung der Hamas) in ihrem Programm, dass „zwischen dem Meer und dem Jordan“ nur israelische Souveränität ­herrschen werde.7

Extremisten auf beiden Seiten verbinden also mit dem Halbsatz Ansprüche, die die Rechte der anderen Seite missachten – die Bundesregierung sieht die Radikalen jedoch nur auf der propalästinensischen Seite. Kritische Juden in Deutschland für die Forderung nach Freiheit für alle Menschen zwischen Jordan und Mittelmeer zu bestrafen und gleichzeitig eine rassistische israelische Regierung mit unverhohlenen Annexionsplänen zu unterstützen – mit Worten, Geld und Waffen – ist ein Beispiel für Deutschlands doppelte Standards im Nahost-Konflikt.


„Die Vernichtung der Hamas ist die Voraus­setzung für Frieden“

Falsch. Seit dem 7. Oktober 2023 gilt die Hamas als Inkarnation des Bösen, was nachvollziehbar ist. Diese Dämonisierung unterschätzt jedoch die Bedeutung der Organisation jenseits des Terrors. Und sie erschwert ein Verständnis der innerpalästinensischen Wahrnehmungen und Dynamiken.

Im Westjordanland ist die Hamas heute populärer als vor dem 7. Oktober.8

Viele Palästinenserinnen und Palästinenser teilen zwar nicht ihre islamistische Ideologie, respektieren sie aber als „nationalen Widerstand“. Obwohl sie Verbrechen wie die des 7. Oktober ablehnen, feiern sie die Hamas als einzigen Akteur, der etwas für die palästinensische Sache bewirkt hat. Bislang sind 240 Gefangene – darunter viele Jugendliche und Frauen – im Austausch mit den Geiseln aus israelischer Administrativhaft freigekommen. Und die Welt spricht wieder über Palästina. Die Gräuel des 7. Oktober werden kleingeredet oder als Fake News abgetan.

Sechs Monate Krieg haben gezeigt, dass sich die Hamas mit militärischen Mitteln nicht vernichten lässt, nicht mal als Miliz im Gazastreifen. Selbst wenn man Israels Angaben von 12 000 getöteten Kombattanten zugrunde legt, wäre das nur etwas mehr als ein Drittel der vor dem Krieg auf 30 000 Mitglieder geschätzten Qassam-Brigaden.9

Mit dem Argument, die Hamas in Gaza auslöschen zu wollen, lässt sich der Krieg – ganz im Sinne Netanjahus, der die anhaltende Bedrohung zum eigenen Machterhalt braucht – unbegrenzt weiterführen. Denn verbleibende Kämpfer werden sich neu formieren, Nachwuchs finden und Israel weiter angreifen. Sie können jede Nachkriegsordnung torpedieren. Ihre Entwaffnung wird deshalb nur im Rahmen palästinensischer Souveränität gelingen.

Auch als politische Partei, soziale Bewegung und Ideologie wird die Hamas fortbestehen. Die Welt muss deshalb einen Umgang mit ihr finden wie einst mit der Fatah und Yassir Arafat – dieser wurde vom Terroristen zum Verhandlungspartner. Die Geschichte lehrt: Im Kampf um Selbstbestimmung und gegen Fremdherrschaft enden bewaffneter Widerstand und Terrorismus erst dann, wenn friedliche Wege mehr Erfolg versprechen.

Dass es innerhalb der Hamas strategisch denkende Politiker für einen solchen Prozess gibt, zeigen Dokumente aus jüngster Zeit. Im Unterschied zur Gründungscharta von 1988 finden sich im Grundsatzpapier von 2017 keine antijüdischen Bezüge mehr. Hamas-Gründer Sheikh Ahmad Yassin betonte schon Ende der 1990er Jahre, man führe keinen Krieg gegen Juden, sondern bekämpfe die Besatzung.10

Die Behauptung, die Hamas wolle alle Juden weltweit umbringen, erscheint vor diesem Hintergrund falsch. Zwar erklärt sie Israel als „zionistisches Gebilde“ zum Feind und begeht mit Terroranschlägen gegen Zivilisten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber sie wendet sich ihrer eigenen Ideologie zufolge nicht gegen Juden als Religionsgruppe oder Volk.  Seit einigen Jahren signalisiert die Hamas außerdem Bereitschaft, einen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967 zu akzeptieren; sie schließt eine ­Koexistenz mit Israel folglich nicht grundsätzlich aus.

Selbst wenn man diese Äußerungen und Erklärungen als Täuschung oder Propaganda betrachtet, muss man sie zur Kenntnis nehmen. Die 16-seitige Stellungnahme, die die Hamas im Januar veröffentlichte, war auch eine Botschaft an die internationale Gemeinschaft.11

Das Dokument geht auf völkerrechtliche Bestimmungen ein, erwähnt Stellungnahmen internationaler Gerichte. Damit spricht die Hamas die Sprache des Westens. An die antikoloniale Linke und den Globalen Süden gerichtet schreibt sie, sie kämpfe nicht gegen Juden, weil sie Juden sind, sondern gegen die Zionisten, die Palästina besetzen. Es seien jedoch „die Zionisten, die das Judentum und die Juden ständig mit ihrem eigenen kolonialen Projekt und illegalen Gebilde identifizieren“.

Die Führung der Hamas wird versuchen, die derzeitige Popularität in politischen Einfluss umzuwandeln – kein Weg zu einer Lösung der Palästina-Frage soll an ihr vorbeiführen. Verhandlungen zwischen Fatah und Hamas laufen bereits, mittelfristig könnte die Hamas der PLO beitreten. Einer übergangsweisen palästinensischen Technokratenregierung sollen die Islamisten nicht angehören, aber ihr zustimmen. Gegen sie zu regieren, wird nicht funktionieren, die Hamas auszuschließen, macht sie nur stärker.

Terror lebt von Ungerechtigkeit. Deshalb werden Hamas und andere Terrorgruppen erst dann aufhören zu existieren, wenn ein souveräner palästinensischer Staat ihnen die Daseinsberechtigung als „nationaler Widerstand“ entzieht. Voraussetzung für Frieden ist deshalb nicht ihre Vernichtung, sondern das Ende der Besatzung.


„Hisbollah, Hamas, Huthis und Co. sind vom Iran gesteuerte Terrorgruppen“

Nicht ganz. Die auf der sogenannten „Achse des Widerstands“ versammelten Milizen und Parteien als iranische ­Proxys zu betrachten, die im Auftrag Teherans mit Terrorangriffen die Region destabilisieren, greift zu kurz. Zwar stehen sie sich ideologisch nahe, haben die gleichen Feinde und wären ohne die militärische und finanzielle Unterstützung aus dem Iran kaum handlungsfähig. Aber sie sind im Kern hybride Akteure mit eigenen Interessen.

Die Hisbollah im Libanon, die Hamas in den palästinensischen Gebieten, die Huthis im Jemen, das syrische Regime, der Islamische Widerstand im Irak und vom Iran gesteuerte Milizen in Syrien teilen mit ihrem Sponsor Iran die Feindschaft zu Israel und den USA. Damit rechtfertigen sie jedoch nicht nur den bewaffneten Kampf, sondern gewinnen in den jeweiligen Ländern auch an politischer Macht und gesellschaftlichem Einfluss. Sie beschießen Israel mit Raketen, greifen US-Truppen in Syrien und im Irak an und feuern auf Handelsschiffe im Roten Meer – einerseits. Gleichzeitig gewinnen manche von ihnen Wahlen und sind an Regierungen beteiligt, andere betreiben Gesundheits- und Bildungseinrichtungen, stützen sich auf soziale Netzwerke und kontrollieren zum Teil große Gebiete innerhalb der Staaten, in denen sie operieren.

Als politische und zugleich bewaffnete Akteure profitieren sie von einem weit verbreiteten Gefühl der Ungerechtigkeit, von staatlichem Versagen und von lokalen Konflikten, die sie zur Mobilisierung ihrer Anhänger nutzen. Der Krieg in Gaza steigert deshalb ihre Popularität – im Inneren und in der Region.

Der direkte Einfluss des Iran auf die Achse des Widerstands sollte nicht überschätzt, ihr geostrategischer Mehrwert für den Iran jedoch nicht unterschätzt werden. Operationelle Eigenständigkeit bei gleichzeitiger strategischer Koordination durch die iranischen Revolutionsgarden – diese Formel ermöglicht es den Machthabern in Teheran, den Druck auf Israel und die USA zu erhöhen, ohne dafür Verantwortung zu übernehmen.


„Israel begeht in Gaza einen Genozid“

Das wird der Internationale Gerichtshof entscheiden. Vorerst geht es darum, einen Völkermord zu verhindern.

Ende Dezember 2023 erhob Südafrika beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag Klage gegen Israel wegen Völkermords an den Palästinensern in Gaza. Israel und seine Unterstützer weisen den Genozid-Vorwurf vor dem Hintergrund des Holocausts empört zurück und sprechen von einer „Täter-Opfer-Umkehr“. Das Land kämpfe um das eigene Überleben, da die Hamas Israel vernichten wolle, argumentiert die Regierung.

Die Handlungen und Absichten der Hamas berechtigen Israel jedoch nicht dazu, seinerseits Völkerstraftaten zu begehen, also Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder eben Genozid. Denn bei der Verabschiedung der Völkermord-Konvention ging es 1948 nicht nur darum, das jüdische Volk zu schützen, sondern darum, Völkermord generell zu verhindern – immer und überall und unabhängig davon, wer ­Opfer und wer Täter ist.

Die Genozid-Konvention ist das „Nie wieder für alle!“ des Völkerrechts. Sie verbietet Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören und fordert alle Vertragsstaaten auf, drohende Völkermorde zu verhindern.

Genau darum geht es in Gaza. Südafrika hat Israel beim IGH angeklagt, um den Krieg in Gaza zu beenden oder zumindest die israelische Kriegsführung zu verändern. Es hat dafür die ­Genozid-Konvention gewählt, weil Israel diese 1950 ratifiziert hat und somit zur Einhaltung verpflichtet ist. Da Israel andere Völkerrechtsverträge wie den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennt, ist die Genozid-Konvention der einzige juristische Weg, um das Vorgehen Israels zu beeinflussen.

Der IGH hat die Klage angenommen. Die Richter sehen einen plausiblen Anfangsverdacht und die berechtigte Sorge, dass in Gaza ein Völkermord stattfinden könnte. Per Eilantrag haben sie Israel deshalb aufgefordert, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, um die Palästinenser in Gaza zu schützen, sie ausreichend humanitär zu versorgen und die öffentliche Aufstachelung zum Völkermord zu verhindern.

Die Regierung Netanjahu betont, Zivilisten vor Luftangriffen zu warnen und Schutzzonen auszuweisen, allerdings sind auch diese bombardiert worden.12

Die hohen Opferzahlen, die Vertreibung, die dramatische Verschlechterung der humanitären Lage und die Äußerungen israelischer Regierungsmitglieder deuten darauf hin, dass die israelische Regierung zu wenig unternommen hat, um einem ­Genozid entgegenzuwirken.

Bis Anfang April waren mehr als 33 000 Menschen gestorben, darunter mindestens 13 800 Kinder – 76 pro Tag.13

Nach Recherchen internationaler Menschenrechtsorganisationen, israelischer ­Medien und UN-Gremien verstößt die Kriegsführung in Gaza zum Teil gegen das humanitäre Völkerrecht. Die Bombardierung von Wohngebieten sei unverhältnismäßig, Hamas-Kämpfer würden leichtfertig mit Hilfe von KI identifiziert, zivile Ziele willkürlich und gezielt angegriffen, Gebäude, Infrastruktur und Lebensgrundlagen von 2,3 Millionen Bewohnern nachhaltig zerstört.14

Außerdem setze Israel durch das Verzögern und Blockieren von Hilfslieferungen Hunger als Kriegswaffe ein.15

In den Wochen nach dem Urteil des IGH sind die humanitären Hilfslieferungen um fast ein Drittel zurückgegangen, seit Anfang März sterben Kinder in Gaza an Unterernährung, Dehydrierung und mangelnder medizinischer Versorgung.16

Ob die israelische Regierung in Gaza einen Völkermord begeht oder „nur“ Kriegsverbrechen, müssen die Richter am IGH bewerten. Dass der Krieg in Gaza vom obersten Gericht der Welt untersucht wird, ist in jedem Fall zu begrüßen und sollte von Deutschland als Verfechter einer wertebasierten internationalen Ordnung unterstützt und respektiert werden.

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Nahost-Konflikt" erschienen.  

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 116-121

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Kristin Helberg arbeitet als freie Journalistin, Autorin, Moderatorin und Beraterin zu den Themen Syrien und Nahost, Flucht, Migration und Integration sowie Außen- und Sicherheitspolitik.

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