Gegen den Strich

24. Febr. 2025

Gegen den Strich: Das Ende des Westens

Europas Rechtsruck, Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Aufstieg Chinas und anderer Autokratien, dazu Donald Trumps isolationalistische Pläne: An Gründen, am Westen zu zweifeln, herrscht kein Mangel. Und so macht sich verdächtig, wer bezweifelt, dass es mit der westlichen Vorherrschaft ein für alle Mal vorbei sei. Aber wie stichhaltig sind denn die Thesen der Untergangspropheten eigentlich?

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Bild: Eine Dempnstantin hat sich als weinende Freiheitsstatue verkleidet
Kopf hoch, Lady Liberty: Schon nach Donald Trumps erstem Wahlsieg 2016 sahen viele das Ende der Freiheit gekommen. Doch alles in allem scheint der Westen für die neue Weltunordnung besser gerüstet, als viele derzeit glauben.
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„Die Ära westlicher Dominanz ist vorbei“ 

Nicht so schnell. Das 21. Jahrhundert ist zu einem Viertel abgelaufen. Und bisher haben diejenigen nicht Recht behalten, die ein Ende der Vorherrschaft des Westens prophezeit haben. 

Niedergang verkauft sich allerdings immer gut. Vor gut über 100 Jahren – genauer: zwischen 1918 und 1922 – erschienen die drei Bände von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“. Damals verschlungen und als prophetisch gefeiert, ist das antisemitische Machwerk heute – bis auf den Titel – vergessen. Zu Recht. Und nicht nur, weil es verquast und unleserlich ist. Sondern weil Spengler wie alle Endzeitpropheten nach ihm das Entscheidende nicht begriffen hatte: Das Abendland geht immer wieder unter, um sich immer wieder zu erneuern. 

Seine heutige Inkarnation ist seit 1945 „der Westen“. Mit dem europäisch geprägten, männlich dominierten und monokulturellen Abendland, das Spengler meinte, hat der heutige Westen oberflächlich kaum noch etwas gemein. Dafür aber jene Kerneigenschaft, die Spengler wie alle Reaktionäre beunruhigte und weiter beunruhigt: wandlungsfähig zu sein wie keine Zivilisation vor oder neben ihm. ­Dieser Westen macht gerade eine weitere Wandlung durch, deren Ende und Resultat nicht absehbar sind. Untergang ist immer möglich. Aber nicht wahrscheinlich.

Als ich vor 15 Jahren an dieser Stelle die Ansicht vertrat, auch das neue Jahrhundert werde amerikanisch sein, war Barack Obama gerade Präsident der USA geworden. 2010 habe ich weder das Scheitern Obamas vorausgesehen noch prognostiziert, wer auf ihn folgen würde, doch schrieb ich ahnungsvoll: „Schauen wir also zum Schluss auf die Anti-Obama-Bewegung“, nämlich die libertäre Rechte: „In einem Land, wo solche radikalkapitalistischen Forderungen aus dem Rezeptbuch Friedrich Hayeks, Ayn Rands und Maggie Thatchers zum Programm einer Graswurzelbewegung werden können, hat die Zukunft noch gar nicht richtig begonnen.“

Aus dieser Graswurzelbewegung erwuchs Donald Trump, den man bis zu seinem Sieg gegen Kamala Harris als geschichtliche Verirrung und Produkt eines dysfunktionalen Wahlsystems abtun konnte, der aber nun, ausgestattet mit einem populären Mandat, als Gesicht der Zukunft gelten muss. 

Dieses Gesicht ist nicht sehr attraktiv, um es euphemistisch auszudrücken. Als ich an diesem Text schrieb, hatte Trump gerade von Panama verlangt, in den USA registrierte Schiffe bei der Kanaldurchfahrt bevorzugt zu behandeln; er hatte die Loslösung Grönlands von Dänemark gefordert und davon gesprochen, Kanada könnte Teil der USA werden. 

Das Entsetzen in Europa über diesen „Imperialismus“ war allgemein, wobei nur wenige Kommentatoren anmerkten, dass Grönland nur als Ergebnis des dänischen Kolonialismus zu Dänemark gehört, Kanada Charles III. nur als Ergebnis des britischen Kolonialismus als König anerkennt und Panama – wie Grönland – seit Jahrzehnten im Visier des chinesischen Seidenstraßen-Imperialismus ist. Aber das nur nebenbei. Auch wer Trump nicht mag, muss wissen: In der Systemkonkurrenz mit der „Autokraten-GmbH“, wie Anne Applebaum das Zweckbündnis der Antiwestler nennt, gibt es keine glaubhafte Mittelposition. Der Westen muss seine Dominanz behaupten, und das ist nur sichergestellt, wenn Europa und die USA zusammenstehen.


„Von Dominanz sollten wir nicht  mehr reden – nicht vom Recht der Mächtigen, sondern von der Macht des internationalen Rechts“

Ich fürchte sogar, wir müssen über Dominanz reden. Das Wort mag für linke und postkoloniale, ja auch für liberale Ohren abstoßend klingen – und das wäre es in einer idealen Welt auch. Doch in der realen Welt haben wir es nicht mit der Alternative Dominanz – Nichtdominanz zu tun, sondern mit der Alternative der Dominanz durch China, seinen Klienten Russland und diverse unangenehme Autokraten von Pjöngjang über Teheran und Havanna bis nach Caracas – oder durch den Westen. In der Ukraine wird dieser Konflikt kriegerisch ausgefochten, bald vielleicht auch wieder in Georgien, in Moldau, den baltischen Staaten oder Taiwan.

An diesem Konflikt zwischen staatsautokratischem Kapitalismus und marktwirtschaftlicher Demokratie ändern der Sieg Trumps und die Erfolge europäischer Trumpisten nichts; wohl aber ändert sich auf absehbare Zeit die Strategie des Westens. Statt auf Werte setzt Trump auf nationale Stärke; statt auf Freundschaften auf Interessen; statt auf eine „regelbasierte internationale Ordnung“ auf Deals zwischen souveränen nationalen Playern. 

Wenn einem das nicht völlig unbekannt vorkommt, so deshalb, weil es die Grundlage des Westfälischen Systems in Europa nach 1648 und seiner Restauration nach der Disruption durch das Napoleonische Imperium war. Henry Kissinger wurde zeitlebens nicht müde, dieses mit Absicht amoralische Modell als Blaupause für die globale Ordnung zu propagieren, das Managen eines solchen multipolaren Systems als die eigentliche Kunst der Diplomatie zu preisen und vor den internationalistischen Träumen der Neocons ebenso zu warnen wie vor den postnationalen Illusionen und der moralisierenden Machtlosigkeit der europäischen Linken.

Liberale und Linke müssen denn auch zugeben, dass sie kein Konzept dafür haben, wie man eine regelbasierte internationale Ordnung ohne quasiimperiale Macht durchsetzen könnte. Der Traum universell gültiger Ordnungen und supranationaler Institutionen – von den Vereinten Nationen über die Welthandelsorganisation bis hin zum Internationalen Strafgerichtshof – entsprang den zwei kurzen unipolaren Momenten nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.

Denn Ordnungen und Institutionen brauchen nun einmal Macht, wenn sie wirken sollen. Gerichte sind nichts ohne Polizei. Unter George Bush Senior und Bill Clinton waren die USA diese Macht, war Amerika der Weltsheriff. Mit den Militäreinsätzen gegen Saddam Hussein in Kuwait und Slobodan Milošević auf dem Balkan schien die „neue Weltordnung“, die Bush Senior verkündet hatte, Gestalt anzunehmen. Unter Clintons Nachfolger George W. Bush sprachen amerikanische Historiker und Politikwissenschaftler wie Robert D. Kaplan sogar offen von einem „liberalen Imperium“, das potenziell keine Grenzen habe, da ewiger Friede im Sinne Immanuel Kants – oder ein Ende der Geschichte im Sinne Francis Fukuyamas – nur durch die Demokratisierung der Welt zu erreichen wäre. 

Der Irak-Krieg stellte diese Illusionen infrage, endgültig begraben wurden sie mit dem Sieg der Taliban gegen die NATO in Afghanistan. Inzwischen werden internationale Normen und Abmachungen von großen und kleinen Autokraten mehr oder weniger straflos gebrochen. Chinas grobe Verletzungen der Menschenrechte in Tibet, Xinjiang und Hongkong, seine Missachtung der Regeln der Welthandelsorganisation; die Destabilisierung des gesamten Nahen und Mittleren Ostens durch den Iran; Syriens Einsatz chemischer Waffen gegen die eigene Bevölkerung; antidemokratische Putsche in Afrika, die Herrschaft von Caudillos und Gangs in Lateinamerika; Russlands Annexion der Krim und der Ostukraine 2014: Mehr als zahnlose Sanktionen und impotentes Schimpfen konnte der Westen nicht aufbieten – bis Wladimir Putin die Schwäche der Ukraine und Russlands Stärke überschätzte und mit der Invasion seinen Teil zur Einleitung einer neuen Ära westlicher Wehrhaftigkeit beitrug.

Freilich waren die optimistischen Annahmen der Internationalisten auch auf dem Höhepunkt amerikanischer Macht nie unumstritten. Sowohl George W. Bush, der vor den islamistischen Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine „demütigere“ Außenpolitik verkündet hatte, wie auch sein Nachfolger Barack Obama ahnten, dass Henry Kissingers „realistische“ Schule der Außenpolitik den Möglichkeiten der Vereinigten Staaten eher entsprach als die Träume der demokratischen Imperialisten und der Neocons. 

Obama beendete das irakische Abenteuer. Er ließ sich zwar von den Franzosen und Briten überreden, in Libyen zu intervenieren, was ja auch in einem Fiasko endete, schreckte aber vor der Einmischung in Syrien zurück. Wichtiger war es ihm, mit TTIP einen transatlantischen Freihandelsraum zu schaffen, um sich der chinesischen Herausforderung zu stellen. Ein großer Wurf, der an der antiamerikanischen Stimmung in Europa scheiterte. Joe Biden versuchte gar nicht erst, TTIP wiederzubeleben, sondern verfolgte eine merkantilistische Politik der Reindustrialisierung, auf die Trumps Losung passen würde: Make America Great Again.


„Donald Trump betreibt eine isolationistische Politik. In der Folge werden die Vereinigten Staaten und der Westen schwächer sein“

Das stimmt. Donald Trump will nicht mehr die Rolle des Weltsheriffs spielen, der sich für die Aufrechterhaltung einer regelbasierten globalen Ordnung einsetzt. Was als Rückzug nicht nur erscheint, sondern auch ein solcher ist, muss aber noch lange nicht das Ende amerikanischer Dominanz bedeuten. Im Gegenteil.

Auch die Dekolonisierung in den 1940er bis 1960er Jahren, die Aufgabe des europäischen Anspruchs globaler Herrschaft und einer globalen „Mission civilisatrice“, hat den Westen nur vordergründig geschwächt. Die Befreiung von kolonialen Verstrickungen – man denke an Frankreichs Kriege in Vietnam und Algerien oder das mit Großbritan­nien ausgeheckte Abenteuer in Suez – war vielmehr eine der Voraussetzungen des moralischen und ­materiellen Sieges im Kalten Krieg. 

Demokratien sind zur Aufrechterhaltung von Imperien nicht geeignet; kleine Kriege an der Peripherie können sie in existenzielle Krisen stürzen, siehe das moralische und militärische Debakel der USA in Vietnam, im Irak und in Afghanistan. Der scheiternde Sheriff delegitimiert nicht nur sich selbst, sondern auch die Ordnung, die er aufrechterhalten soll. Das begriff Richard Nixon, der unter Kissingers Einfluss den Krieg in Vietnam beendete, um sich auf ein Arrangement mit China zu ­konzentrieren.  

Auch Trump, dessen Außenpolitik eher der ­Monroe-Doktrin verpflichtet ist als den Ideen Woodrow Wilsons oder Franklin D. Roosevelts, hat in seiner ersten Amtszeit wichtige diplomatische Erfolge erzielt. Handelspolitisch legte er die Grundlage für das „De-Coupling“ von China, das – meistens in der euphemistisch als „De-Risking“ umschriebenen Variante – mittlerweile Staatsräson des Westens ist. Gleichzeitig sorgte er für eine Neujustierung der für die USA ungünstigen Freihandelszone mit Kanada und Mexiko und zwang die Europäer, mehr für die eigene Verteidigung im Rahmen der NATO zu tun. Seine mit Sanktionsdrohungen verbundene Warnung vor Nord Stream 2 erwies sich als prophetisch, seine Aufkündigung des Atomvertrags mit dem Iran zwang die Europäer, ihre eigene Appeasement-­Politik gegenüber den Mullahs zu überdenken. 

Vor allem die Abraham-Abkommen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, später ergänzt um den Sudan und ­Marokko, waren Triumphe amerikanischer Diplomatie; sie haben bis heute trotz der Kriege in Gaza und Libanon gehalten.

Wie Trumps oft belächelte Verhandlungen mit dem nordkoreanischen Machthaber Kim Jong-un zeigten, bedeuten solche Deals, dass man auf Belehrungen zu Menschenrechts- und Demokratiefragen verzichtet, die Sicherheitsinteressen des Gegenübers respektiert und zu einem für beide Seiten akzeptablen Ergebnis zu kommen versucht. Nixon hat das vorgemacht, als er die Entspannung mit dem China Mao Zedongs einleitete. Es ging nicht darum, dass China etwa liberaler oder für westliche Vorstellungen offener gewesen wäre als die Sowjet­union. Im Gegenteil. Moralisch war es schon gar nicht, Amerikas treuen Verbündeten Taiwan diesem Deal zu opfern. Es ging aber darum, die Widersprüche zwischen den kommunistischen Mächten im Interesse der USA und des Westens ­auszunutzen. Der Zusammenbruch der Sowjetunion gab Kissingers Machiavellismus recht.


„Peking hat kein Interesse an Krieg in Europa, daher muss der Westen alles tun, damit China mäßigend auf Russland einwirkt“

Das Gegenteil ist richtig. Zwar stimmt es: Für Amerika und den Westen wäre es heute wie zu Nixons Zeiten günstig, das strategische Bündnis zwischen Russland und China aufzubrechen. Die vor allem von europäischen Politikern verfolgte Strategie, China zu umschmeicheln, damit es Russland ausbremse, verkennt aber die Tatsache, dass der Krieg in der Ukraine und die Spannungen an anderen Fronten in Europa vor allem im Interesse Chinas sind. Der Westen wird militärisch in Europa gebunden und abgelenkt. Europa leidet unter hohen Energiepreisen, hohen Militärausgaben und der Belastung durch ukrainische Flüchtlinge. Russland wird militärisch, wirtschaftlich, politisch und kulturell immer abhängiger vom mächtigen östlichen Nachbarn, dem es billige Rohstoffe liefern muss. What’s not to like for Peking?

Darum – und nicht wegen irgendwelcher Sympathien für Putin oder gar weil Putin ihn mit „Kompromat“ erpressen könnte – will Trump den Krieg in der Ukraine beenden, während er gleichzeitig von den Europäern fordert, mehr für ihre eigene Verteidigung zu tun. Amerika muss sich auf den ­Pazifik – auf China – konzentrieren. Ein wehrfähiges Europa muss und kann sich mit Putins Russland arrangieren. 

Die Frage bleibt indes, ob Europa denn auch wehrfähig wird. Donald Trump verlangt, dass die ­NATO-
Staaten 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben. Machbar ist das: Russland gibt 5,9 Prozent aus, Israel 5,3 Prozent, die USA – nicht annähernd so unmittelbar bedroht wie die Europäer – schaffen immerhin 3,4 Prozent. Allem „Zeitenwende“-Gerede zum Trotz aber trifft Trumps Forderung auf entsetzte Ablehnung. Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner ist darauf vorbereitet. Hier ist die vielleicht wichtigste Baustelle der kommenden Jahre.

Zurzeit allerdings kann die Europäische Union nicht einmal innerhalb ihres eigenen quasi-imperialen Machtbereichs die Befolgung ihrer Regeln durch Rebellen wie Viktor Orbán erzwingen – ob es um Rechtsstaatlichkeit oder Asylregelungen geht. Morgen könnten Rechtspopulisten nicht nur in Budapest und Bratislava, Helsinki und Den Haag, Rom und Wien, sondern in Paris, übermorgen trotz aller Versicherungen von CDU-Chef Friedrich Merz in Berlin in der Regierung sitzen. 

Längst haben darum die klügeren Rechtspopulisten wie Giorgia Meloni oder Marine Le Pen die Forderung nach Austritt aus der Europäischen Union ersetzt durch die Ambition, die EU zu übernehmen. Es mag daher eine Zeit kommen, in der es Europas Föderalisten zugute kommt, dass sich ihre Träume nicht verwirklichen lassen. Lange haben Liberale die Machtlosigkeit der Brüsseler Zentrale gegenüber dem illiberalen Demokraten Orbán und der rechtskatholischen polnischen PiS-Regierung beklagt; bald könnten sie froh sein, wenn Brüssel auch gegenüber den verbliebenen liberalen Demokratien machtlos bleibt. 


„Wenn die Rechtspopulisten in Europa das Sagen haben, ist die EU erledigt“

Das sind keine schönen Aussichten, aber es bedeutet nicht, dass die EU oder der Westen erledigt wären. Die Rechtspopulisten sind außenpolitisch zu zerstritten, um einen einheitlichen Block zu bilden. Weder die finnische noch die schwedische Regierung ist prorussisch; im Gegenteil – ­beide Länder sind angesichts der russischen Invasion der Ukraine in die NATO eingetreten. Die von den Fratelli d’Italia, Lega und Forza Italia geführte Regierung in Rom ist entschieden prowestlich und antirussisch, die polnische PiS-Regierung war es.

Im Wesentlichen eint die Rechten nur ihre ablehnende Haltung gegenüber der Migration, vor allem gegenüber der aus dem arabischen und afrikanischen Raum. Durchaus möglich, dass sie bald erkennen: Europa bietet mit Frontex und einer gemeinsamen Handelspolitik gegenüber den Herkunftsstaaten, die Zusammenarbeit in der Migrationsfrage belohnt und Verweigerung bestraft, das einzige wirksame Mittel zur Regulierung der Migrationsströme. Wie denn überhaupt ein Land wie Ungarn ohne die EU kaum überlebensfähig wäre. Überdies haben das Covid-Hilfsprogramm und das Förderprogramm zur Entwicklung eines Covid-Impfstoffs trotz Schwächen in der Durchführung gezeigt, wozu die Europäische Union fähig ist, wenn sie ihre Kräfte gezielt einsetzt. 

Die Rechten wollen die Entwicklung hin zu einem föderativen Bundesstaat Europa stoppen; aber diese Entwicklung hat schon Angela Merkel ausgebremst. Und wenn die EU Länder wie die Ukraine, Georgien, Serbien und Albanien aufnehmen soll, muss ihre Struktur ohnehin erheblich lockerer werden und Raum lassen für politische und gesellschaftliche Diversität. Längst ist das „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ nur ein Bonmot, wie jenes vom Fahrrad, das umfällt, wenn es nicht weiterfährt Richtung Integration.

Wichtig für Europas Zukunft ist die Geschwindigkeit der Erweiterung, nicht der föderalen Vertiefung. Und das heißt, dass die Union eben ein Dreirad werden muss, das nicht umfällt, wenn es Richtung Einheitsstaat nicht weitergeht. Die Aufgabe europäischer Einheitsträume mag enttäuschend sein; sie muss aber kein Nachteil sein, solange der gemeinsame Markt den freien Austausch von Kapital, Waren und Menschen garantiert und die gemeinsame Handelspolitik erhalten bleibt. Das Assoziierungsabkommen mit den Mercosur-Staaten weist den Weg. Alles andere ist nice to have, aber nicht zwingend notwendig. Am Ende gilt auch in der Europa- und Weltpolitik: It’s the economy, stupid! Die politische Macht kommt aus den ­Fabrikschloten.


„China ist schon jetzt die Werkstatt der Welt und wird die globale Wirtschaft in Zukunft noch stärker beherrschen“

Kaum. Gerade in ökonomischer Hinsicht sind die USA ungeschlagen und unschlagbar. Die Wirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Inflation auch. Von den zehn wertvollsten Firmen der Welt kommen acht aus den USA; unter den ersten 20 sind 17 aus Amerika. Und es sind vor allem Tech-Firmen wie Apple, Microsoft, Nvidia, Google, Meta und Tesla. Die von Trump in seiner ersten Amtszeit proklamierte Reindustrialisierung findet tatsächlich statt, nicht zuletzt dank der Subventionspolitik seines Nachfolgers und seines Vorgängers. Gleichzeitig macht sich die chinesische Führung Sorgen wegen der Offshoring-Pläne diverser chinesischer Unternehmen, um amerikanische (und europäische) Zölle zu umgehen.

Hinzu kommt die Demografie. China steht vor einer demografischen Katastrophe. Die Bevölkerung altert schnell und schrumpft bereits, und anders als in den USA und Westeuropa kann der Verlust nicht durch Zuwanderung wenigstens halbwegs kompensiert werden. Zwar werden die Kosten für eine wachsende Zahl alter Menschen auch die USA und Europa belasten, aber als reiches Land kann Amerika damit besser umgehen als China, dessen staatlicher Pensionsfonds 2035 ausgeschöpft sein wird. Von der desaströsen Situation in Russland ganz zu schweigen, das auch noch, wie von einem Todeswunsch beseelt, seine jungen Männer in einem Zermürbungskrieg verheizt, der für eine angebliche militärische Supermacht eine einzige Blamage ist. 

Kurz und gut: Sowohl in der direkten Konfrontation mit China und Russland als auch in der Frage, nach wem sich der sogenannte Globale Süden richten wird, steht der Westen allen Untergangsprophetien – und allen Unzulänglichkeiten – zum Trotz gut da. Mit dem Assad-Regime in Syrien fiel ein entscheidender Verbündeter der Achse Peking–­Teheran–Moskau. Indien und die asiatischen Tiger-Staaten brauchen den Westen als Gegengewicht und Gegenmodell zu China. In Argentinien setzt Javier Milei die Kettensäge an die Wurzeln des Peronismus, in Venezuela ist der Sturz der antiwestlichen Regierung von Nicolás Maduro nur eine Frage der Zeit. 

Und so verstörend Trumps Interventionen in Sachen Grönland, Panama und Kanada sein mögen: Sie sind, wie seinerzeit Thatchers Verteidigung der Falkland-Inseln, Ausdruck eines Selbstbehauptungswillens, der dem Westen allzu lange und allzu oft gefehlt hat. 

Bei seinem Amtsantritt 1933 sagte Franklin D. Roosevelt dem amerikanischen Volk: „The only thing we have to fear is fear itself.“ Wir haben nichts zu befürchten außer der Furcht selbst. Das gilt auch für die neue Weltunordnung, in der nach wie vor der Westen, trotz Populismus und Rechtsextremismus, trotz Russland und China, die wichtigsten Trumpfkarten in der Hand hat: Wirtschaft und Wissenschaft, Militär- und Handelsmacht, Marktwirtschaft und Demokratie; vor allem aber: die Wandlungsfähigkeit, die ihn befähigt, die bestimmende Macht in einer sich immer schneller wandelnden Welt zu sein.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2025, S. 112-117

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Mehr von den Autoren

Alan Posener schreibt als freier Autor u.a. für die Welt.  Mit dem immer wieder prophezeiten „Ende des Westens“ hat Posener sich in der IP schon des Öfteren auseinandergesetzt,  u.a. in der März/April-Ausgabe 2010.