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01. März 2012

„Gefällt mir“ – nicht mehr

Das politische Erwachen der russischen Generation Facebook

Den Musikerinnen der Punkband "Pussy Riot" wird ein absurder Prozess gemacht, der Antikorruptionskämpfer Alexei Nawalny ebenfalls vor Gericht gezerrt: Nach der Ämterrochade mit Dmitri Medwedew versucht Russlands Präsident Wladimir Putin, die Opposition einzuschüchtern und mundtot zu machen. Doch die Generation der Hightech-Unternehmer, IT-Ingenieure und Netzaktivisten wird sich nicht in Luft auflösen. Sie spricht für eine neue Mittelschicht, die ein anderes Russland will.

Wer durch die schmalen Gassen des Geländes der ehemaligen Süßwaren­fabrik „Roter Oktober“ läuft, dem Lieblingsspielplatz der Moskauer Internet-Generation, wird nicht umhin kommen zu bemerken, dass Russland dabei ist, sich grundlegend und irreversibel zu wandeln. Vor acht Jahren, als Wladimir Putin gerade mit 71 Prozent der Stimmen seine zweite Amtszeit als Präsident angetreten hatte, war „Roter Oktober“ nichts weiter als eine verlassene Schokoladenfabrik, teilweise bewohnt von Junkies und Hausbesetzern, die nachts in der alten Produktionshalle kampierten.

Heute wimmelt es in den Backsteingebäuden, deren sowjetische Architektur wie eine Mischung aus Gefängnis und Lebkuchenhaus anmutet, nur so vor frisch gegründeten Hightech-Unternehmen, Designateliers und Kunstgalerien. Auf dem angrenzenden Gelände residiert seit neuestem ein modernes Institut für Medien, Architektur und Design namens „Strelka“, dessen Lehrplan von Rem Koolhaas entwickelt wird.

An den Wochenenden pilgern Massen von Hipstern und Techno-Freaks ins „Strelka“, um Vorlesungen über Silicon Valley zu hören oder Art- House-Filme im hauseigenen Freiluftkino anzuschauen. In den Cafés des „Roter Oktober“-Geländes wie der „Progressive Bar“ drehen sich die Gespräche um Immobilienpreise in Goa und Prag, die besten Skigebiete auf dem Balkan, um Hersteller von Smartphones und Tablets, um Fellini-Filme und Murakami-Romane. Lediglich die Politik blieb bislang ausgespart, zum Teil auch weil sie irrelevant erschien und irgendwie vorbestimmt. Von dieser Seite des Flusses aus wirkten die Backsteinmauern des Kreml wie Gebilde aus einer weit entfernten Welt.

Leben und herrschen lassen

„Unser einziger politischer Ehrgeiz bestand darin, frei zu sein, frei in finanzieller Hinsicht, unabhängig vom Regime und in der Lage, jederzeit ins Ausland gehen zu können“, sagt Anton Nosik, ein Guru der russischen Internetszene und Betreiber eines der beliebtesten Blogs des Landes. „Putin kam uns nicht in die Quere und wir ihm nicht.“ Tatsächlich entstand die „Roter Oktober“-Szene, wie auch der Rest der städtischen Mittelschicht, in den Putin-Jahren eines nie da gewesenen Wirtschaftswachstums. Irgendwo auf dem Weg mündete dieses gegenseitige Abkommen in einen stillschweigenden Nichtangriffspakt.

Dieser Zustand barg Vorteile für beide Seiten. Innerhalb gewisser Grenzen – wie der von „Roter Oktober“– gänzlich unbehelligt, kümmerte sich die Generation von Yuppies nicht weiter um Putins System der „gelenkten Demokratie“. Sie nahmen nicht an Protesten teil und engagierten sich nicht in politischen Bewegungen, im Gegenzug rührte der Kreml nicht an den Herzensangelegenheiten der Mittelschicht: Er gewährte unbeschränkte Internetnutzung, Konsum- und Reisefreiheit und wahrte die demokratische Fassade in einem Maße, das genügte, um weiter als europäisches Land durchzugehen – nicht nur geografisch.
Dieses Arrangement wurde erneuert, als Putins zweite Amtszeit 2008 endete. Um das Amt des Präsidenten ein drittes Mal antreten zu können, hätte er die Verfassung ändern müssen, was dank der überwältigenden Mehrheit seiner Partei in der Duma und der Unterstützung durch die Opposition ohne weiteres möglich gewesen wäre. Aber ein Eingriff in die Verfassung, nur um seine Präsidentschaft zu verlängern, wäre als klarer Bruch jenes demokratischen Scheins empfunden worden, den Putin immer aufrecht­erhalten hat. Stattdessen ging er ein Risiko ein. Er manövrierte seinen liberalen jungen Schützling Dmitri Medwedew an die Spitze und nahm die Rolle des Premierministers ein.

Das Resultat war eine Tandem-Regierung, die beide Hauptwählergruppen der russischen Gesellschaft befriedigte. Putin repräsentierte weiter die Arbeiterklasse und setzte auf Stabilität und Sicherheit. Med­wedew hingegen verkörperte den Wunsch der Mittelschicht nach einem liberalen und demokratischen Staat. Beide Politiker blieben unangefochten populär, und der milchgesichtige Anwalt Medwedew, dessen Wahlprogramm „Erneuerung“ hieß, gewann die Wahl mit 70 Prozent der Stimmen.

Er startete einen Blog, eröffnete einen Twitter-Account und stattete „Roter Oktober“ häufige Besuche ab. Seine Gadget-Versessenheit trug ihm unter Bloggern den Spitznamen „iPhonechik“ ein, und seine Reden verliehen den Erwartungen der jungen Mittelschicht eine Stimme: Unterstützung kleinerer Unternehmen, Korruptionsbekämpfung, Technologieförderung, Etablierung der Rechtsstaatlichkeit.

Er machte zwar kaum konkrete Fortschritte in diesen Punkten – nach der ersten Hälfte seiner Präsidentschaft gab er zu, dass sich seine Maßnahmen zur Korruptionsbekämpfung darauf beschränkten, energisch Papiere zu unterzeichnen –, aber zumindest mit seiner Redegewandtheit vermittelte er weiter die Hoffnung, dass sich die Veränderungen mit der Zeit schon einstellen würden. Der oberste Chef im Kreml twitterte – kein Zweifel, Russland hatte sich grundlegend verändert.

Enttäuschte Hoffnungen

Das Gleichgewicht des Tandems hielt dreieinhalb Jahre und zerbrach schließlich am 24. September 2011. Beim Parteitag von „Einiges Russland“ verkündete Putin, dass er 2012 wieder die Präsidentschaft für sechs, wenn möglich auch zwölf weitere Jahre übernehmen wolle. Der Posten des Regierungschefs würde an Medwedew gehen, der dafür die Hoffnung auf eine zweite Legislaturperiode als Präsident aufgeben würde. All dies geschah, ohne dass man die Wählerschaft, die Duma oder auch nur Putins persönliche Berater konsultiert hatte. „Ich möchte es klar und deutlich sagen“, vermeldete er dem Parteikongress, „die Vereinbarung darüber, was passieren würde, haben wir bereits vor Jahren getroffen.“

Von diesem Moment an erschien Medwedews Zeit im Amt als ein riesiges leeres Versprechen, als ein billiger Trick, der es Putin erlaubte, an der Macht zu bleiben, ohne übermäßig in die Verfassung eingreifen zu müssen. Russische Zeitungen und Blogs bezeichneten ihren Ämtertausch schnell als Rochade, dem Spielzug beim Schach, bei dem König und Turm die Positionen tauschen, um den König zu schützen. „Der König schiebt den schwachen Turm nach vorne“, scherzte die Tageszeitung Nesavissimaja Gaseta. Mittlerweile, so die Zeitung weiter, sei die Unterstützung sowohl Putins als auch Medwedews gerade bei der Mittelschicht massiv eingebrochen. Zwei Tage nach dem Parteitreffen versammelten sich 500 Personen zu einem Protest in Moskau, der normalerweise gerade mal 50 Demonstranten angezogen hätte – der erste Hinweis darauf, dass der Nichtangriffspakt hinfällig geworden war.

Drei Wochen später, am 15. Oktober, besuchte Medwedew den „Roten Oktober“, um seine Anhänger zu beschwichtigen. Der Schauplatz, den er sich dafür ausgesucht hatte, war ein gepflegtes neues Gründerzentrum mit Namen „Digital October“, wo sich 200 der führenden russischen Blogger und Internetunternehmer versammelt hatten, um mit dem Präsidenten zu sprechen. „Die Stimmung war angespannt, viele der Leute waren verstimmt“, sagt Dmitrij Repin, der Generaldirektor von „Digital October“. „Ich hoffe, das hier endet nicht in einer Schlägerei“, scherzte Medwedew, bevor er sich an diesem Tag den Fragen des Publikums stellte. Die erste Frage kam von Jaroslav Kusminow, Direktor der Higher School of Economics, einer der neuesten und prestigeträchtigsten Universitäten Russlands. Kusminow machte deutlich, dass die Mittelschicht in Russland ein Drittel der Bevölkerung ausmache. Medwedew schien überrascht: „Um ehrlich zu sein, hatte ich noch nicht gehört, dass es 30 Prozent sind“, so der Präsident.

„Diese Mittelschicht will nicht nur Stabilität. Das sind keine Grundbesitzer und Kaufleute. Das sind Leute, die Veränderung sehen und daran Teil haben wollen“, fuhr Kusminow fort und fügte hinzu: „Wir brauchen Garantien für den Fortschritt.“ Doch welche Garantien könnte Medwedew bieten? Nach vier Jahren, in denen er den Technikpräsidenten verkörperte, gab „iPhonechik“ den Kreml wieder einem Mann zurück, mit dem die Mittelschicht rasch die Geduld verlieren würde. Medwedew konnte nichts anderes anbieten als die Partei-
linie: „Wenn wir es schaffen, die Wahlen für Einiges Russland zu entscheiden und die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen, garantieren wir, den Entwicklungsprozess weiter zu verfolgen.“

Die Parlamentswahlen, die weniger als zwei Monate später, am 4. Dezember, anstanden, gaben den Wählern erstmals die Möglichkeit, auf die Rochade zu antworten. Obgleich Einiges Russland die gesamte Bürokratie, alle großen Fernsehsender und vor allem jede Wahlkommission des Landes kontrollierte, verlor die Partei ein Viertel der Sitze in der Duma und verpasste darüber hinaus die 50-Prozentmarke der Wählerstimmen. Wenige Stunden nach Verkündung des Wahlergebnisses tauchten die ersten Hinweise über massiven Wahlbetrug auf. Beobachter und Journalisten posteten Videos von Wahlmanipulationen. Helfer berichteten, dass die Stimmenauszählungen schlichtweg gefälscht wurden, indem die tatsächlichen Stimmzettel zerstört und durch neue ersetzt wurden, um Einiges Russland mindestens zusätzliche 15 Prozent zu verschaffen. Tatsächlich gab die Partei zu, dass es Stimmenmanipulationen gegeben habe, diese seien aber nicht in einem solchen Maße ausgefallen, dass sie das Wahlergebnis verändert hätten.

Am Abend des 5. Dezembers verlagerte sich der Ärger auf die Straßen. Rund 7000 Menschen, mehr als bei allen Protesten seit Putins Amtsantritt als Präsident, versammelten sich auf einem Platz mitten in Moskau, um Neuwahlen und Putins Rücktritt zu fordern. Das waren keine Nationalisten, Kommunisten oder alte Sowjetdissidenten, wie sie normalerweise in Moskau protestierten. Es waren Universitätsabsolventen, IT-Ingenieure, Geschäftsleute und Professoren, von denen kaum einer je zuvor an einer Demonstration teilgenommen hatte. Innerhalb einer Woche organisierte die Opposition eine Kundgebung mit 50 000 Teilnehmern in Moskau. Zwei Wochen später versammelten sich 100 000 Menschen auf der Sacharowstraße zur größten Demonstration seit dem Zusammenbruch der Sow­jet­union. Einiges Russland begann, das Schreckensszenario einer Revolution an die Wand zu malen.  

Neue Ansprüche an das System

Im Nachhinein weisen Revolutionen immer eine gewisse Logik auf. Vorausgesehen hat die aktuellen Aufstände in Russland aber nur eine Gruppe von Soziologen unter der Leitung von Mikhail Dmitriew, der die Mittelschicht seit längerem erforscht. Sein Büro befindet sich zufälligerweise in Sichtweite von „Roter Oktober“, das direkt gegenüber auf der anderen Seite des Kanals liegt. „Diese Gruppe da drüben“, sagt er, indem er auf „Roter Oktober“ deutet, „ist in einer Weise wichtig, wie eine gutartige genetische Mutation wichtig sein kann. Sie repräsentiert die Avantgarde der Mittelschicht, ein Zeichen dafür, wohin sich dieser Teil der Gesellschaft entwickelt und wie die Gesellschaft in fünf bis zehn Jahren aussehen wird.“ Aber in seiner Forschung konzentriert er sich mehr auf die breiter gefasste demografische Gruppe, die gegen Ende von Putins zweiter Amtszeit ein Drittel der Bevölkerung ausmachte.

Nach dem ersten Jahr der Präsidentschaft Medwedews, während dem ihm keine echten Reformen gelungen waren, stellte Dmitriew im Dezember 2009 eine bemerkenswerte Schwerpunktverlagerung in den von seinem Institut beobachteten Gesellschaftsgruppen überall im Land fest. Anstatt bei der Angabe ihrer Prioritäten Renten, Steuern oder die Höhe des eigenen Einkommens zu nennen, begannen Angehörige der Mittelschicht die Gleichheit vor dem Gesetz an oberste Stelle zu setzen.

In seiner Studie fand Dmitriew heraus, dass das Konsumniveau innerhalb der russischen Mittelschicht sogar das ihrer Nachbarn in Europa überstieg. Etwa die Hälfte der Bevölkerung in Russlands größeren Städten strebt nicht nach noch größerem Wohlstand oder noch mehr Besitz, sondern danach, diesen Besitz zu schützen und an ihre Kinder zu vererben. „Aufgrund ihres Aufstiegs während der Putin-Jahre hat die Mittelschicht ein komplexes Netz für ihre Bedürfnisse entwickelt“, sagt Dmitriew. „Sie braucht legitime Wege, ihre Vermögen zu sichern und zu verwalten, was wiederum rechtlichen Schutz voraussetzt.“
Das System des politischen Protektorats, das sich unter Putin entwickelte, bevorzugt hingegen jene, die engste Verbindungen zur Macht haben. Es ist nicht möglich, dieser großen und stetig wachsenden Gruppe der Gesellschaft denselben rechtlichen Schutz zu verschaffen, sagt Dmitriew. „Daher war es nur eine Frage der Zeit, bis diese Interessen in einen offenen Konflikt mit dem politischen System gerieten. Wir wussten nicht, wann es passieren oder was es auslösen würde, aber dieser Konflikt war unausweichlich.“

In einer funktionierenden Demokratie würde ein solcher Konflikt zwischen politischen Parteien ausgetragen werden. Diejenigen, die die Interessen der Mittelschicht am besten verträten, gewännen nach und nach immer mehr Sitze im Parlament, wären eventuell in der Lage, eine Koalition zu bilden oder sogar einen Kandidaten aufzustellen, der gegen den amtierenden Präsidenten anträte. Derartiges war in Russland über fast ein Jahrzehnt nicht möglich. Neuen und unabhängigen Parteien ist es nicht erlaubt, an Wahlen teilzunehmen oder sich offiziell registrieren zu lassen. Das staatliche Fernsehen verweigert ihnen Auftritte in seinen Sendungen und somit, öffentlich mit der herrschenden Partei zu diskutieren. „Zehn Jahre lang wurde das Spielfeld methodisch flach getreten“, sagt Alexej Nawalnyj, der Blogger, der nun die Straßenproteste anführt.

Aus diesem Grund gibt es in Russland heute keine politischen Parteien, die das Vertrauen der Mittelschicht genießen oder deren Interessen vertreten können. Die einzigen Oppositionsparteien in der Duma – die Kommunisten, die Nationalliberale Demokratische Partei und die im Kreml gegründete Partei Faires Russland – versuchen normalerweise, mit Einiges Russland um die Stimmen der Arbeiterklasse zu konkurrieren, von der viele Politiker, Putin eingeschlossen, lange Zeit annahmen, dass sie die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ausmache. „Während sich die Gesellschaft weiter entwickelte, stagnierte das politische System“, sagt Gennadij Gudkow, ein Duma-Vertreter der Partei Faires Russland.

Als Medwedew sich der Rochade beugte, verlor er all seine Glaubwürdigkeit als Politiker, und es gab keine andere Führungspersönlichkeit, die im Namen der Mittelschicht hätte sprechen können. Der Kreml schien das zu begreifen und beeilte sich, im Herbst die Lücke zu schließen. Mikhail Prochorow, ein junger fortschrittlicher Milliardär, wurde zum Vorsitzenden der kleinen Partei Prawoe Delo (Gerechte Sache), die grundsätzlich Medwedews Rhetorik übernahm: ­kleinen Unternehmen helfen, Europa einbinden, Korruption bekämpfen, Rechtsstaatlichkeit fördern. Aber das Projekt endete in einem Fiasko. Zwei Monate vor den Wahlen versuchte der Kreml, Prochorow seine eigenen Kandidaten für die Parlamentsabstimmung aufzuzwingen. Als dieser sich weigerte, wurde er aus der Partei ausgeschlossen. Daraufhin bezeichnete er den Kreml öffentlich als „Puppenspieler“, der versuche, das politische System zu beherrschen. Der Skandal diskreditierte Prawoe Delo völlig, sodass die Partei weniger als 1 Prozent der Wählerstimmen erhielt.

Die Protestwähler der Mittelschicht wandten sich daraufhin den anderen Oppositionsparteien zu, was dazu führte, dass viele Unternehmer sich in der absurden Situation befanden, für die Kommunisten stimmen zu müssen, da das die Partei mit dem besten Ruf in Sachen Unabhängigkeit war. „Ich schäme mich, es zuzugeben, aber ich habe für Faires Russland gestimmt“, sagt Nosik, der Internetunternehmer. Faires Russland war 2006 vom Kreml gegründet worden, um den Kommunisten Stimmen wegzunehmen, und trat damals auch der Sozialistischen Internationale bei. Aber in der aktuellen Duma ist Faires Russland die Partei, die am ehesten als mittelschichtnah bezeichnet werden kann. So breit ist der Riss im politischen Spektrum inzwischen geworden.

Das Problem ist nicht, dass Putin sich nicht über die Existenz der Mittelschicht im klaren gewesen wäre oder die Notwendigkeit, sie politisch zu repräsentieren, nicht erkannt hätte. Immerhin wurde ja Dmitriews Institut, das Zentrum für Strategische Forschung, eigens gegründet, um Putin bei seinem Übergang zur Macht 1999 zu unterstützen. Seine Berichte wurden für Putins Büro geschrieben und landeten auch auf seinem Schreibtisch. Putin mag die Größe der Mittelschicht unterschätzt haben, aber das Hauptproblem, so Dmitriew, war, dass Putin die Arbeiterklasse als ausreichende Unterstützung ansah. Er fühlte sich am wohlsten unter Fabrikarbeitern, Soldaten und Pensionären, während die europäischen Werte und Interessen der Mittelschicht im Gegensatz zu seiner Persönlichkeit standen, ähnlich wie bei einem Vater, der versucht, zur Rapmusik seines Sohnes zu tanzen.

Russland verfügt über mehr Internetuser als jedes andere europäische Land, doch Putin gehört nicht dazu. Noch im Jahr 2005 besaß er nach eigenen Angaben nicht einmal ein Handy. Während Medwedew Deep Purple und Pink Floyd liebt, hört Putin russische Klassik. Sowjetische Spione waren die Helden seiner Kindheit, und irgendwann reihte er sich als KGB- Agent in Dresden in ihrer Ahnenreihe ein. Putin gehört in so ziemlich jeder Hinsicht einer anderen Generation mit einer gänzlich anderen Weltanschauung an als die Menschen, die heute gegen ihn demonstrieren.

Putin 2.0?

Im Januar schließlich, als Putins Versuche, die Proteste zu ignorieren, nur deren Intensität zu steigern schienen, unternahm er den ersten ernsthaften Versuch, sich der Mittelschicht anzunähern. Er wählte dafür ein eher altmodisches Medium, nämlich die Zeitung; in mehreren Artikeln legte er seine Vision der russischen Gesellschaft dar. „Die Mittelschicht hat begonnen, ihre Erwartungen bezüglich verschiedener Punkte deutlich zu machen“, schrieb er im ersten Artikel, „Russland fokussiert sich“, der am 16. Januar erschien. „Die Mittelschicht muss noch stärker wachsen und die Mehrheit unserer Gesellschaft stellen.“
Obwohl die Artikel sprachlich in eine andere Ära abrutschen – in einem heißt es, „die russische Kultur verfügt über eine starke Tradition des Respekts für den Staat“ –, scheinen sie doch einen neuen Putin zu versprechen, einen, der die Demokratie schätzt, der das Internet zu nutzen weiß und der liberale westliche Werte fördert. Kurz gesagt, sie bieten an, was die Bloggerszene „Putin 2.0“ nennt. „Das ist im Moment die wichtigste Frage“, sagt Nosik, der Internetunternehmer. „Kann Putin sich verändern?“

Auch wenn er dafür zwei Wahlgänge brauchen sollte, ist beinahe sicher, dass Putin die Präsidentschafts-
wahlen gewinnen wird. Es gibt schlichtweg niemanden, der ihn herausfordern könnte. Doch kann sich –selbst mit einem neuen Mandat – ein angejahrter Politiker, der zwölf Jahre lang unangefochten regiert hat, in einen Förderer des Pluralismus verwandeln? Kann er seine Politik so weit verändern, dass er mit ihr eine Bevölkerungsgruppe anspricht, die er immer ignoriert hat? Kann er die rigide Machtstruktur, die er selbst geschaffen hat, neu gestalten? Und kann er in diesem System neue Akteure zulassen und sich mit ihnen unter fairen Bedingungen messen? Nosik bleibt optimistisch: „Natürlich ist es möglich. Alles, was Putin tun muss, ist, Medwedew zu werden.“

Der Soziologe Dmitriew hingegen glaubt, der politische Alterungsprozess sei nicht umkehrbar, und er berge die Gefahr, dass es die Wähler ermüden könnte, „immer das gleiche Gesicht zu sehen“. Schließlich und endlich wird Putin der Mittelschicht erlauben müssen, sich von einer starken Partei vertreten zu lassen. Wahrscheinlicher noch wird es mehrere solcher Parteien geben müssen, die untereinander um die Gunst der Wähler buhlen – eine Situation, die es für kurze Zeit in den Jahren direkt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegeben, und die Putin gründlich beendet hatte.

Dennoch hat Putin in den vergangenen Monaten erste Schritte in diese Richtung unternommen. In Erwiderung auf die Proteste hat der Kreml ein neues Gesetz vorgeschlagen, das die Gründung neuer Parteien und deren Aufstellung bei den Wahlen erheblich erleichtert. Prochorow, der Milliardär, darf nun bei den Präsidentschaftswahlen gegen Putin antreten, augenscheinlich in einem Versuch, ein paar der Proteststimmen der Mittelschicht aufzufangen. Auch ist nicht ausgeschlossen, dass die beiden in einer Stichwahl gegeneinander antreten müssen, was den Wahlen ein erhebliches Maß an Legitimität verschaffen würde.
Am Ende wäre Putin immer noch der sichere Sieger, dieses Mal aber würde er in einem neuen Land vereidigt werden, in einem ohne Nicht­angriffspakt zwischen ihm und der jungen Wählerschaft. Dmitrij Repin, der Leiter von „Digital October“, berichtet, die Einstellung auf ihrer ­kleinen Insel habe sich verändert. „Jeder hat an den Protesten teilgenommen. Jeder interessiert sich jetzt für die Wahlen und den politischen Fortschritt“, sagt er. „Dieselben Menschen, die im Internet groß geworden sind, die dort ihre ersten Projekte über soziale Netzwerke und das Internet im Allgemeinen realisiert haben, setzen diese Fähigkeiten jetzt ein, um die Zivilbevölkerung zum Protest zu ­bewegen.“

Die riesige Demonstration, die die Opposition am 4. Februar organisiert hatte, führte durch die Moskauer Innenstadt und endete am Bolotnaja-Platz, praktisch genau gegenüber von „Roter Oktober“. Viele der Demonstranten gingen danach auf einen Kaffee oder ein Glas Wein ins Café Strelka. Einmal abgesehen von den Leuten, die an ihren iPads klebten, um in Tweets und Blogs über den Fortgang der Revolution zu berichten, wurde an jedem Tisch ausnahmslos über Politik gesprochen.

SIMON SHUSTER lebt und arbeitet als Korrespondent in Moskau u.a. für die Magazine TIME und Foreign Policy.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 68-75

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