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30. Jan. 2012

„Putin ist der Revolutionär Nummer eins in Russland“

Interview mit dem Duma-Abgeordneten Ilja Ponomarew

Es gärt in Russland. Im Westen wurden die Demonstrationen in Moskau und anderen Städten des Landes schon mit denen des arabischen Frühlings verglichen. Sollte es bei den Präsidentschaftswahlen Anfang März erneut zu Unregelmäßigkeiten kommen, dürfte sich die Protestbewegung noch ausweiten. Doch wie homogen ist die Bewegung? Welche politischen Ziele verfolgt sie? Ilja Ponomarew, einer der führenden Vertreter der Opposition, über die dramatischen Veränderungen in der russischen Politik.

Internationale Politik: Herr Ponomarew, was hat zu den jüngsten Protestkundgebungen in Russland geführt, und warum finden sie so große Resonanz in der russischen Gesellschaft?

Ilja Ponomarew: Ich glaube, das hat mit enttäuschter Hoffnung zu tun, mit verlorenem Vertrauen. Das Schlimmste, was Putin und Medwedew am 24. September 2011 angerichtet haben, als sie ihr Wechselspiel ankündigten, ist, dass sie die Hoffnung in der russischen Gesellschaft auf Veränderungen zerstört haben. Dmitri Medwedew war stets ein schwacher Präsident, aber er verkörperte zumindest die Hoffnungen auf ein besseres Leben. Er fand Anklang bei dem Teil der Gesellschaft, der an Bildung und Fortschritt interessiert ist und der sich sagte: „Okay, wir leben in einer nicht ganz so perfekten, nicht ganz so demokratischen, nicht ganz so freien Gesellschaft, aber es gibt einige Reformen, es entwickelt sich etwas, so dass wir in Zukunft vielleicht besser leben können.“ Dann gibt es eine andere Gruppe in der Gesellschaft, eher ältere, eher ärmere, in den ländlichen Regionen verwurzelte Menschen. Die sagten sich: „Wladimir Putin ist derjenige, der die Macht hat, aber es gibt ein Gegengewicht zu ihm, und wenn Minister über die Stränge schlagen, dann ist da immer noch Medwedew, an den wir uns wenden können.“ Nun kommt Putin zurück, und da es während der vergangenen zwölf Jahre, in denen er an der Macht war, keine Veränderung zum Besseren hin gegeben hat, sagen sich die Leute: „Nein, das wollen wir nicht. Ganz bestimmt nicht.“

IP: War der arabische Frühling eine Quelle der Inspiration für die Bewegung?

Ponomarew: Nein, das glaube ich nicht. Natürlich gibt es eine gewisse Nervosität bei den Eliten, weil Putin nicht an der Tatsache vorbei kommt, dass Vergleiche zwischen ihm und Herrn Gaddafi gezogen werden. Beide haben den gleichen Dienstgrad – Oberst –, beide haben sich oft getroffen, es gab eine Zeit, als Herr Gaddafi an Putins Tür klopfte ...

IP: Aber in Sachen Mobilisierung via Internet gibt es doch eine Parallele? Sie waren der erste russische Politiker, der Twitter genutzt hat. Welche Rolle spielen soziale Medien, welche Rolle die neuen Medien generell?

Ponomarew: Die neuen Medien sind ausgesprochen wichtig in Russland. Ja, ich war der erste Politiker, der getwittert hat, nicht der erste, der Blogs geschrieben hat, aber auch da bin ich vorne dabei ...

IP: Wie viele Follower haben Sie?

Ponomarew: Ganz so viele sind es noch nicht: bei Twitter 8000, auf Facebook 7-8000. Aber die Steigerung in den vergangenen Monaten war beträchtlich. Als die Proteste starteten, waren es gerade einmal 2000; seitdem ist die Zahl um das Vierfache gestiegen. Und meinen Blog verfolgen täglich 20.000 Menschen. Für mich ist das eine wichtige Plattform, um mit meinen Anhängern in Kontakt zu treten. Überhaupt verbringen die Russen viel Zeit mit sozialen Netzwerken, mehr Zeit als die Menschen anderswo auf der Welt. Und das ist der Grund, warum unsere Netzwerk-Landschaft sich stark von der im Westen unterscheidet: Facebook ist bei uns weder die Nummer eins noch die Nummer zwei der sozialen Netzwerke, sondern die Nummer drei. Auf Platz eins und zwei stehen russische soziale Netzwerke. Das alles hat natürlich auch damit zu tun, dass es bei uns an brauchbaren traditionellen Medien mangelt: Die sozialen Netzwerke sind der Ort, an dem die Menschen ihre Informationen austauschen.

IP: Was sind die politischen Ziele der Protestbewegung?

Ponomarew: Wir haben ein ganz einfaches Ziel: „freie und faire Wahlen“. Alles andere betrifft Details, wie sie zu erreichen sind; auch unsere Forderung, die politischen Gefangenen freizulassen, ist im Grunde ein Teil davon. Denn es geht darum, dass sie am politischen Leben und an freien Wahlen teilnehmen können. Wenn dieses Ziel erreicht wäre, dann würde die Demokratiebewegung so, wie sie ist, nicht überleben können. Wenn wir freie Wahlen hätten, würden verschiedene politische Gruppen ihre eigenen Ziele verfolgen. Wir hätten linke, nationalistische, liberale und rechtsliberale politische Parteien, und jede würde für sich arbeiten.

IP: Auch in freien Wahlen würden Sie vielleicht noch ein paar Jahre mit Putin bekommen ...

Ponomarew: Das könnte natürlich passieren, aber seine Zustimmungsraten sinken täglich. Es ist hundertprozentig sicher, dass Putin ohne größere Wahlfälschungen bei den Wahlen im März keine absolute Mehrheit im ersten Wahlgang bekommen wird. Ich schätze, dass seine derzeitige Zustimmungsrate – die wirkliche, nicht die offiziell erklärte – bei 25 bis 30 Prozent liegt; das ist allerdings immer noch die höchste Zustimmungsrate aller Politiker. Eine ausgesprochen solide Wählerbasis, aber keine, die genügen wird, um im ersten Wahlgang zu gewinnen.

IP: Wie würden Sie seine bisherige Reaktion auf Ihre Bewegung interpretieren?

Ponomarew: Er ist an Arroganz kaum zu überbieten. Es gab ja mal diesen eigenartigen Artikel von dem seit 2003 inhaftierten Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski, wonach Herr Putin der Liberale Nummer eins in unserem Land sei. Ich würde das dahingehend korrigieren, dass Herr Putin der Revolutionär Nummer eins und seine Partei „Einiges Russland“ die effektivste revolutionäre Kraft in unserem Land ist. Denn wer hätte schon so viel dafür getan, die Menschen zu mobilisieren und auf die Straße zu bringen wie Herr Putin und seine Partei? Wenn er einfach die Klappe hielte und nichts sagte, würde das für ihn weitaus nützlicher sein. Je mehr er redet und je mehr Lügen er dabei verbreitet, desto mehr Menschen gehen auf die Straße.

IP: Andere Beobachter sprechen nicht von einer Revolution der russischen Gesellschaft und des russischen politischen Systems, sondern eher von einer Transformation. Wohin könnte diese Transformation führen? Sie erwähnten die „15 Prozent“, eine ursprünglich unpolitische, internetaffine Gruppe, die jetzt auf die Straße geht. Wird diese Gruppe wachsen, was für ein Russland will sie, oder gibt es viele verschiedene Russlands?

Ponomarew: Das ist schwer zu sagen. Die Ursprünge unserer Bewegung in Moskau unterscheiden sich sehr stark von der im Rest des Landes. Nehmen wir nur einmal die Piratenpartei in Russland, zu deren Gründern ich gehöre: Ich würde sagen, dass sie eine Zustimmungsrate von etwa fünf bis sechs Prozent  bei den Menschen hat, die jetzt auf die Straße gehen. Diese Quote ist deshalb so niedrig, weil viele Menschen schlicht und ergreifend nichts von der Existenz der Partei wissen, denn sie war nie im Fernsehen oder sonstwo präsent. Der Rest des Landes kennt sie einfach nicht. Wie die politische Landschaft aussehen würde, wenn wir freie Medien und freie Wahlen hätten, das ist die große Frage. Aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Die Menschen, selbst die in den großen Städten – von den ländlichen Gebieten rede ich gar nicht – interessieren sich nicht für freie Wahlen oder ähnliches, sie interessieren sich für Preise, für Löhne, Essen, Wohnen, Energieversorgung und öffentlichen Nahverkehr. Und nicht für ein neues politisches System im Land. Aber um vernünftige Löhne, Wohnungen oder Verkehrsinfrastrukturen zu bekommen, brauchen wir ein neues politisches System, doch das verstehen diese Menschen nicht.

IP: Sie meinen, ein demokratischeres System?

Ponomarew: Ja, ein offeneres System, mit mehr Wettbewerb. Aber unter Putin ist an eine wie immer geartete Form von Wettbewerb nicht zu denken. Kein Wunder, dass das Land stagniert.

IP: Und mit Blick auf die internationale Staatengemeinschaft: Wie würde sich ein Russland nach Putin positionieren?

Ponomarew: In jedem Fall würde Russland ein offeneres Land werden und besser integriert in der Weltgemeinschaft sein. Ich glaube, wir sollten so integriert wie möglich sein. Ich bezweifle – leider, denn ich wäre leidenschaftlich dafür –, dass wir in die Europäische Union aufgenommen werden können. Ihr Europäer werdet das wohl nicht zulassen. Aber ich bin der Meinung, dass Russland definitiv eine Brücke zwischen den Gesellschaften und Ökonomien des Ostens zu denen des Westens bilden kann. In Sachen Logistik, Infrastruktur und Kultur gibt es Einiges, das Russland anzubieten hat. Das ist unser großer Wettbewerbsvorteil. Putins imperiale Ambitionen führen zu nichts. Sie widersprechen unseren Interessen.

IP: Michail Gorbatschow pflegte von einem „gemeinsamen europäischen Haus“ zu sprechen …

Ponomarew: Ich glaube, das war ziemlich naiv. Ich würde in Anlehnung an De Gaulle von einem vereinten Europa vom Atlantik bis nach Wladiwostok sprechen. Das ist für mich ein nachvollziehbarerer Slogan. Russland könnte eine Lösung für viele Probleme in Europa sein, denn es verstärkt den christlichen Einflussbereich, und es könnte ein natürliches Gegengewicht gegen die Erfahrungen in Sachen Multikulti sein, die Europa gerade macht. Und es kann neue Märkte beisteuern, neue Arbeitsplätze, neue Möglichkeiten. Aber ich fürchte, die meisten europäischen Politiker würden ihre politische Karriere riskieren, wenn sie ein solches Projekt mit den unberechenbaren Russen vorschlügen. Leider.

Das Interview führten Henning Hoff und Joachim Staron.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2012, S. 76-79

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