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01. März 2019

Gefährliche neue Welt

Wie können wir offene Gesellschaften schützen, wenn autoritäre Regime wie China Künstliche Intelligenz als Kontrollinstrument einsetzen?

Ich möchte die Welt vor einer beispiellosen Gefahr warnen, die das Überleben offener Gesellschaften ernsthaft bedroht. Die sich rasch verbessernden Kontrollinstrumente, die durch maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz hervorgebracht werden, verleihen repressiven Regimen einen immensen Vorteil. Für sie sind diese immer leistungsfähigeren Instrumente eine Hilfe; für offene Gesellschaften sind sie eine tödliche Gefahr.

Dabei werde ich mich auf ­China konzentrieren, wo Präsident Xi Jin­ping eine Einparteiherrschaft anstrebt. Xi versucht derzeit, alle verfügbaren Informationen über eine Person in einer zentralen Datenbank zusammenzuführen, um ein gesellschaftliches Bonitätssystem zu erstellen. Auf Grundlage dieser Daten sollen die Menschen dann durch Algorithmen bewertet werden, die festlegen, ob sie eine Bedrohung für den Staat darstellen. Entsprechend werden die Leute anschließend behandelt.

Dieses Sozialkreditsystem ist derzeit noch nicht vollständig einsetzbar, aber es ist klar, wohin die Reise geht. Das Schicksal des Einzelnen wird in beispielloser Weise den Interessen des Parteistaats untergeordnet. Ich finde dieses System furchteinflößend und widerlich. Leider finden manche Chinesen es ziemlich attraktiv, weil es Informationen und Dienstleistungen bereitstellt, die bisher nicht verfügbar sind und zudem gesetzestreue Bürger vor Staatsfeinden schützen kann.

China ist nicht das einzige autoritäre Regime auf der Welt, aber es ist zweifellos das reichste, mächtigste und im Bereich des maschinellen Lernens und Künstlicher Intelligenz am weitesten fortgeschrittene. Dies macht Xi zum gefährlichsten Gegner jener, die an das Konzept einer offenen Gesellschaft glauben. Doch Xi ist nicht allein. Autoritäre Regime breiten sich überall auf der Welt aus, und wenn sie Erfolg haben, werden sie sich zu totalitären Regimen entwickeln.

Als Gründer der Open Society Foundations habe ich mein Leben der Bekämpfung totalitärer, extremistischer Ideologien gewidmet, die behaupten, dass der Zweck die Mittel heilige. Ich bin davon überzeugt, dass sich die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit nicht dauerhaft unterdrücken lässt. Doch mir ist bewusst, dass die offenen Gesellschaften gegenwärtig in großer Gefahr schweben. Den Begriff „offene Gesellschaft“ verwende ich als Kürzel für eine Gesellschaft, in der die Rechtsstaatlichkeit Vorrang genießt vor der Herrschaft einer Einzelperson und in der die Rolle des Staates darin besteht, die Menschenrechte und die Freiheit des Einzelnen zu schützen. Aus meiner Sicht sollte eine offene Gesellschaft denjenigen besondere Aufmerksamkeit widmen, die unter Diskriminierung oder sozialer Ausgrenzung leiden und die sich nicht selbst wehren können.

Wie lassen sich offene Gesellschaften schützen, wenn diese neuen Technologien autoritären Regimen einen inhärenten Vorteil bieten? Das ist die Frage, die mich derzeit umtreibt. Und sie sollte auch all diejenigen beschäftigen, die lieber in einer offenen Gesellschaft leben möchten.

Kritisches Denken fördern

Meine tiefe Sorge bei diesem Thema rührt aus meiner persönlichen Geschichte. Ich wurde 1930 in Ungarn geboren, und ich bin Jude. Ich war 13 Jahre alt, als die Deutschen Ungarn besetzten und begannen, die Juden in Vernichtungslager zu deportieren. Das Jahr 1944 war die prägende Erfahrung meines Lebens. In jungen Jahren lernte ich, wie wichtig es ist, welche Art von politischem Regime sich durchsetzt. Als das Naziregime durch die sowjetische Besatzung abgelöst wurde, verließ ich Ungarn so schnell ich konnte und fand Zuflucht in England.

An der London School of Economics entwickelte ich unter dem Einfluss meines Mentors Karl Popper mein konzeptionelles Grundgerüst. Es erwies sich als unerwartet nützlich, als ich später an den Finanzmärkten arbeitete und zum bestbezahlten Kritiker der Welt wurde. 1979 gründete ich den Open Society Fund. Er sollte dazu beitragen, geschlossene Gesellschaften zu öffnen, die Mängel offener Gesellschaften zu verringern und kritisches Denken zu fördern.

Meine ersten Bemühungen zielten darauf ab, das Apartheidsystem in Südafrika zu untergraben. Dann wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Sowjetsystem zu. Ich gründete ein Gemeinschaftsunternehmen mit der ungarischen Akademie der Wissenschaften, die unter kommunistischer Kontrolle stand, deren Vertreter aber insgeheim mit meinen Bemühungen sympathisierten. Dieses Arrangement war erfolgreicher, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können. Ich begeisterte mich für diese „politische Philan­thropie“. Das war 1984.

In den folgenden Jahren versuchte ich, meinen Erfolg in Ungarn und anderen kommunistischen Ländern zu wiederholen. Im Sowjetreich war ich relativ erfolgreich. In China aber sah die Geschichte anders aus. Ein Gemeinschaftsunternehmen mit dem Namen „China Fund“ nahm im Oktober 1986 die Arbeit auf. Auf dem Papier genoss es völlige Autonomie, aber ich war mir der politischen Grabenkämpfe hinter den Kulissen nicht bewusst. Die Antragsteller des China Fund erkannten schnell, dass er unter die Kontrolle der politischen Polizei geraten war und blieben weg. Niemand hatte den Mut, mir den wahren Grund zu erklären.

Im Rückblick ist klar, dass ich einen Fehler gemacht hatte, indem ich versuchte, eine Stiftung zu gründen, deren Arbeitsweise den Menschen in China fremd war. Damals schuf die Vergabe eines Stipendiums ein Gefühl der Verpflichtung zwischen Geber und Empfänger, die für immer ­loyal zueinander sein sollten.

Als ich China zum ersten Mal besuchte, traf ich viele Menschen in Machtpositionen, die glühende Anhänger der Grundsätze der offenen Gesellschaft waren. In ihrer Jugend waren sie zur Umerziehung aufs Land geschickt worden und hatten häufig Härten erlitten, die viel schlimmer waren als meine in Ungarn. Aber wir hatten viel gemeinsam. Wir alle hatten in einer Diktatur Übles erlebt. Diese Chinesen waren sehr daran interessiert, von mir zu hören, was Popper über die offene Gesellschaft dachte. Während sie das Konzept sehr attraktiv fanden, interpretierten sie es doch etwas anders als ich. Sie waren mit der konfuzianischen Tradition vertraut; eine Tradition von Wahlen gab es in ihrem Land jedoch nicht. Ihr Denken blieb hierarchisch, nicht egalitär und war vom Respekt vor hohen Ämtern geprägt. Ich aber wollte, dass jeder eine Stimme hat.

Doch ich war nicht wirklich erstaunt, als Xi Jinping auf ­Widerstand stieß, aber ich war überrascht von der Form, die dieser annahm. Beim Treffen der Führung im Seebad Beidaihe 2018 wurde Xi anscheinend zur Ordnung gerufen. Obwohl es kein offizielles Kommuniqué gab, kursierten Gerüchte, dass die Versammlung mit der Abschaffung der Amtszeitbeschränkung und dem Personenkult, den Xi um sich errichtet hatte, unzufrieden war.

Die überzeugten Verteidiger der offenen Gesellschaft in China, die in etwa in meinem Alter sind, befinden sich überwiegend im Ruhestand; an ihre Stelle sind Jüngere getreten, die für ihr Vorwärtskommen von Xi abhängig sind. Tatsächlich waren es im Ruhestand befindliche Führungsmitglieder wie Zhu Rongji, die Berichten zufolge auf der Sitzung in Beidaihe Kritik übten.

Gemeinsam die Freiheit schützen

Ich habe mich bislang auf China konzentriert, doch die offenen Gesellschaften haben noch viele andere Feinde: an erster Stelle Putins Russland. Und das gefährlichste Szenario ist eines, in dem diese Feinde miteinander konspirieren und voneinander lernen, um ihre Bevölkerungen noch wirksamer zu unterdrücken.

Was können wir also tun, um sie zu stoppen? Der erste Schritt besteht darin, die Gefahr zu erkennen. Das ist der Grund, warum ich mich zu Wort melde. Aber nun kommt der schwierigere Teil. Diejenigen unter uns, die die offene Gesellschaft bewahren möchten, müssen zusammenarbeiten und ein wirksames Bündnis schließen. Wir haben eine Aufgabe, die nicht den Regierungen überlassen bleiben kann. Die Geschichte zeigt, dass selbst Regierungen, die die Freiheit des Einzelnen schützen wollen, viele ­andere ­Interessen haben, und dass sie der Freiheit ihrer eigenen Bürger Vorrang vor der Freiheit des Einzelnen als abstraktem Konzept einräumen.

Meine Open Society Foundations haben sich dem Schutz der Menschenrechte verschrieben, insbesondere für diejenigen, die keine Regierung haben, die sie verteidigt. Als wir vor vier Jahrzehnten mit unserer Arbeit begannen, unterstützten viele Regierungen unsere Bemühungen. Leider haben sich ihre Reihen gelichtet. Die USA und Europa, einst unsere stärksten Verbündeten, sind nun mit eigenen Problemen beschäftigt.

Daher möchte ich mich auf die meiner Ansicht nach wichtigste Frage für offene Gesellschaften konzentrieren: Was wird in China passieren?

Nur das chinesische Volk kann diese Frage beantworten. Wir können nichts weiter tun, als deutlich zwischen Bevölkerung und Xi zu unterscheiden. Seit Xi sich als Feind der offenen Gesellschaft geoutet hat, ist die chinesische Bevölkerung der wichtigste Quell der Hoffnung.

Und tatsächlich gibt es Gründe, hoffnungsfroh zu sein. Wie einige ­China-Experten mir erklärt haben, gibt es eine konfuzianische Tradition, nach der von den Beratern des Kaisers erwartet wird, dass sie sich zu Wort melden, wenn sie eine seiner Maßnahmen oder Verordnungen stark ablehnen – und zwar in dem vollen Bewusstsein, dass dies ihr Exil oder sogar ihre Hinrichtung zur Folge haben kann. Dies war eine große Erleichterung für mich, als ich am Rande der Verzweiflung stand. Es bedeutet, dass eine neue politische Elite entstanden ist, die bereit ist, die konfuzianische Tradition in China aufrechtzuerhalten, und dass Xi auch weiterhin Gegner in China haben wird.

Xi stellt China als Vorbild dar, dem andere Länder nacheifern sollten, doch er stößt auch im Ausland auf Kritik. Seine Initiative einer ­Neuen Seidenstraße läuft inzwischen lange genug, um ihre Mängel zu erkennen. Denn sie fördert vor allem die Interessen Chinas und nicht der Empfängerländer. Ihre ehrgeizigen Infrastrukturprojekte wurden vorwiegend mit Krediten und nicht mit Zuwendungen finanziert; dabei wurden ausländische Amtsträger oft bestochen, damit sie sie akzeptierten. Viele dieser Projekte haben sich zwischenzeitlich als wirtschaftlich nicht solide erwiesen. Zahlreiche Beispiele aus Sri Lanka, Malaysia und Pakistan belegen dies.

All diese Rückschläge zwangen Xi, seine Einstellung gegenüber der Neuen Seidenstraße zu ändern. Im September kündigte er an, dass anstelle von „Prestigeprojekten“ künftig sorgfältiger konzipierte Initiativen gestartet werden sollten. Und im Oktober forderte die Zeitschrift People’s Daily, dass Projekte den Interessen der Empfängerländer dienen müssten. Die Partnerländer sind inzwischen vorgewarnt, und eine Reihe von ihnen – von Sierra Leone bis Ecuador – stellen Projekte infrage oder sind dabei, sie nachzuverhandeln. Xi hat zudem seine Äußerungen über „Made in China 2025“, im Vorjahr noch das Kernstück seiner Eigenwerbung, eingestellt.

Droht ein Handelskrieg?

Am bedeutsamsten ist, dass die US-Regierung China inzwischen als strategischen Rivalen einstuft. Präsident Donald Trump ist zwar berüchtigt für seine Unberechenbarkeit, doch diese Entscheidung war das Ergebnis eines sorgfältig vorbereiteten Planes. Regierungsbehörden setzen diese neue China-Politik um, die vom Berater für Asien-Fragen des Nationalen Sicherheitsrats, Matthew Pottinger, beaufsichtigt wird. Vizepräsident Mike Pence skizzierte diese Politik in einer Grundsatzrede am 4. Oktober 2018.

Trotzdem ist es eine zu starke Vereinfachung, China zum strategischen Rivalen zu erklären. China ist ein wichtiger globaler Akteur. Eine wirksame Politik gegenüber China lässt sich nicht in einer Verallgemeinerung zusammenfassen. Sie muss sehr viel ausgeklügelter, detaillierter und pragmatischer sein, und sie muss eine wirtschaftliche Reaktion der USA auf die Neue Seidenstraße enthalten. Der Pottinger-Plan macht nicht deutlich, ob das letztliche Ziel darin besteht, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen oder sich von China loszulösen.

Xi hat die Bedrohung, die die neue US-Politik für seine Führung darstellt, klar erkannt. Er setzte auf das persönliche Treffen mit Trump beim G20-Gipfel in Buenos Aires am 1. Dezember. In der Zwischenzeit hat sich die Gefahr eines globalen Handelskriegs verschärft. Ein Ausverkauf am Aktienmarkt schuf Probleme für die Trump-Regierung, die all ihre Energie und Aufmerksamkeit auf die Zwischenwahlen konzentriert hatte. Als Trump und Xi sich trafen, waren beide Seiten dringend an einer Einigung interessiert. Und diese erreichten sie auch. Aber der vereinbarte 90-tägige Waffenstillstand ist nicht ganz schlüssig.

Es gibt Anzeichen für einen breiten wirtschaftlichen Abschwung in China, der die übrige Welt in Mitleidenschaft ziehen kann. Eine weltweite Konjunkturein­trübung wäre das Letzte, was sich der Markt wünscht. Der stillschweigende Gesellschaftsvertrag in China beruht auf einem stetig steigenden Lebensstandard. Wenn der Abschwung der chinesischen Volkswirtschaft und des chinesischen Aktienmarkts groß genug ausfällt, könnte das diesen Gesellschaftsvertrag untergraben, und selbst die Wirtschaft wird sich dann möglicherweise gegen Xi aussprechen. Eine derartige Rezession könnte zugleich das Ende der Neuen Seidenstraße einläuten, weil Xi die Mittel ausgehen würden, um weiter so viele verlustbringende Investitionen zu finanzieren.

Xi Jinping, der gefährlichste Feind

In der breiter gefassten Frage der globalen Regulierung des Internets gibt es einen stillschweigenden Konflikt zwischen China und dem Westen. China will die Regeln und Verfahren diktieren, die die digitale Wirtschaft steuern, indem es die Entwicklungsländer durch seine neuen Plattformen und Technologien dominiert. Dies ist eine Gefahr für die Freiheit des Internets und die offene Gesellschaft selbst.

Im vergangenen Jahr war ich noch der Ansicht, dass man China besser in die Institutionen zur globalen Steuerung einbinden sollte. Doch wegen Xis Verhalten habe ich meine Meinung geändert. Die USA sollten sich auf China konzentrieren, anstatt einen Handelskrieg gegen praktisch die ganze Welt zu führen. Statt ZTE und Huawei glimpflich davonkommen zu lassen, müssen die USA harte Maßnahmen gegen sie ergreifen. Sollten diese Unternehmen irgendwann den 5G-Markt beherrschen, würden sie ein unannehmbares Sicherheitsrisiko für die übrige Welt darstellen.

Bedauerlicherweise scheint Trump einen anderen Kurs zu ­verfolgen: ­China Konzessionen zu machen und sich zum Sieger zu erklären, während er seine Angriffe auf US-Verbündete fortsetzt. Dies ist geeignet, um das politische Ziel der USA zu untergraben, Chinas Verstößen und Exzessen Grenzen zu setzen.

Weil Xi der gefährlichste Feind der offenen Gesellschaften ist, müssen wir unsere Hoffnungen auf das chinesische Volk setzen und insbesondere auf die durch die konfuzianische Tradition inspirierte politische Elite. Das bedeutet nicht, dass diejenigen von uns, die an die offene Gesellschaft glauben, passiv bleiben sollen. Denn wir befinden uns in einem kalten Krieg, der sich in einen heißen Krieg zu verwandeln droht.

Wären Xi und Trump nicht mehr an der Macht, bestünde wohl die Chance auf eine stärkere Zusammen­arbeit zwischen den beiden Cyber-­Supermächten. Vielleicht wäre etwas ähnliches denkbar wie die UN-­Charta, die nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnet wurde. Das könnte ein angemessenes Ende des gegenwärtigen Konfliktzyklus zwischen den USA und China bedeuten und würde wieder für mehr internationale Zusammenarbeit sorgen. Und damit könnten die offenen Gesellschaften zu neuer Blüte gelangen.

© Project Syndicate, 2019. Aus dem Englischen von Jan Doolan

George Soros ist Chairman von Soros Fund Management und den Open Society Foundations.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 54-59

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