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01. Juni 2005

Fuchs im Wolfspelz

Warum Paul Wolfowitz weit besser ist als sein Ruf. Ein Portät

Als stellvertretender Verteidigungsminister war Paul Wolfowitz Chefarchitekt des unilateralen Irak-Krieges. Dass ausgerechnet er, einer der weltweit umstrittensten amerikanischen Politiker, jetzt Präsident der multilateralen Weltbank wurde, stieß auf heftige Kritik. Dabei ist Paul Wolfowitz ein brillanter Denker. Er lehnt die Idee eines Konflikts der Kulturen strikt ab und glaubt fest, dass ein demokratischer Naher Osten möglich ist.

Nur wenige Politiker der jüngsten amerikanischen Geschichte waren auf der Bühne der internationalen Politik so umstritten wie Paul Wolfowitz, der neue Präsident der Weltbank. Für die Kritiker der Außenpolitik des amerikanischen Präsidenten George W. Bush verkörpert Wolfowitz einen neuen US-Imperialismus, für den angeblich die Machenschaften einer neokonservativen Elite verantwortlich sind. Als Chefarchitekt des Irak-Kriegs und des Kampfes gegen den Terror gilt er als das Urbild des Kriegshetzers, angetrieben vom rücksichtslosen Verlangen, die Macht der USA rund um den Erdball zu sichern und schließlich dem „Rest der Welt“ allein amerikanische Wertvorstellungen aufzudrängen.

Vor allem in Europa, aber auch in den USA wurde deshalb heftig kritisiert, dass der Vizeverteidigungsminister unter Donald Rumsfeld nun Präsident der Weltbank werden sollte. Großbritanniens ehemalige Entwicklungsministerin Clare Short erkannte in seiner Nominierung eine arrogante Siegesgewissheit, die typisch sei für George W. Bush. Die Financial Times glaubte, dass Wolfowitz’ Wahl „schlecht ist für die Weltbank, weil er gewiss nur als Statthalter amerikanischer Interessen gesehen wird“. Mit dem Architekten des unilateralen Krieges gegen den Irak an der Spitze der wichtigsten multilateralen Entwicklungsbehörde habe man „den Wolf zum Hüter der Schafe gemacht“. Auch der britische Economist war der Überzeugung, dass Bush mit der Wahl Wolfowitz’ der Welt beweise, dass er „die Weltbank erobern und zu einem Arm der amerikanischen Außenpolitik machen möchte“. Und in einem klassischen Fall von Untertreibung bemerkte die deutsche Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul, dass dem neuen Weltbank-Präsidenten im „alten Europa nicht gerade Wellen der Begeisterung entgegenschlagen“.

Die Reaktion der liberalen Eliten in Washington und New York war ebenso vernichtend. Die New York Times nannte die Ernennung Wolfowitz’ „einen Schlag gegen die Internationale Gemeinschaft, die den Irak-Krieg und die damit einhergehende Brüskierung der Vereinten Nationen ablehnte“. Der amerikanische Nobelpreisträger und frühere leitende Ökonom der Weltbank Robert Stiglitz gab in einem Interview mit dem Sunday Telegraph zu Protokoll, es handle sich entweder um einen „Akt der Provokation oder um ein so taktloses Vorgehen, dass man es nur als Provokation empfinden kann“ und prophezeite „Straßenproteste und Gewalt in der Dritten Welt“.

Wolfowitz ist jedoch alles andere als die Karikatur, die in dieser Kritik von ihm gezeichnet wird. Er ist ein scharfer, hoch origineller Denker und eine komplexe Persönlichkeit, die sich nicht in einfache Kategorien pressen lässt. Er diente sechs amerikanischen Präsidenten, beherrscht sechs Sprachen und lehrte an einigen der besten Universitäten. Er ist ein unerschrockener Verteidiger Israels und ein großer Bewunderer des Islams; ein Falke in der Außenpolitik, aber gleichzeitig ein glühender Verteidiger des Sozialstaats. Zu seinen geistigen Lehrvätern gehören so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Albert Wohlstetter, Leo Strauss, Allan Bloom und „Scoop“ Jackson.

Aus Wolfowitz’ Büchern und Reden lässt sich eine vielschichtige Persönlichkeit ablesen: der Krieger, der den Kampf gegen den Terrorismus anführt, und der Romantiker, der vom Islam und dem Mittleren Osten fasziniert ist. Der Befürworter von Interventionen aus humanitären Gründen, der begeisterte Historiker, der versucht, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, und schließlich der visionäre Idealist mit den Zügen eines Lawrence von Arabien. Alle diese Schichten werden zusammengehalten vom festen Glauben, dass Freiheit und Demokratie in der ganzen Welt verbreitet werden sollten, und dass der Westen sich diesem größten Übel, dem Totalitarismus, stellen und ihn schließlich besiegen muss.

Der Denker hinter Bush

Vermutlich hat niemand auf die Formulierung der außenpolitischen Strategien von Präsident Bush mehr Einfluss gehabt als Paul Wolfowitz. Sein Denken ist von einem klaren Schwarzweißschema geprägt, großen politischen Persönlichkeiten neuerer Zeit wie Winston Churchill oder Margaret Thatcher nicht unähnlich. Geschichte wird weitgehend von Personen gestaltet, nicht von Gesellschaftsbewegungen. In der Gestaltung der zukünftigen Richtung im strategischen Denken der USA war Wolfowitz’ Rolle entscheidend.

Die Rede des US-Präsidenten George W. Bush anlässlich des Antritts seiner zweiten Amtszeit trug eindeutig Spuren Wolfowitz’schen Denkens. Diese vielleicht wichtigste und idealistischste Rede eines US-Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg bezog sich überwiegend auf Themen und Ideen, die Wolfowitz schon vor einigen Jahren entwickelt hatte: Die Vereinigten Staaten müssten eine nachdrückliche Rolle bei der Entwicklung von Freiheit und Demokratie auf der Weltbühne spielen. „Es gibt nur eine Kraft in der Geschichte“, konstatierte Präsident Bush, „die die Herrschaft von Hass und Vorurteilen brechen, der Tyrannei Einhalt gebieten und die Hoffnungen der anständigen und toleranten Menschen belohnen kann – das ist die Kraft der Freiheit des Menschen (...). Das Überleben der Freiheit in unserem Land hängt immer mehr vom Erfolg der Freiheit in anderen Ländern ab. Die beste Aussicht für einen Frieden in unserer Welt ist die Verbreitung der Freiheit überall in der Welt.“

Die Rede des Präsidenten war ein eindrücklicher Beweis für eine neue, idealistische Vision einer amerikanischen Außenpolitik, deren ultimatives Ziel der Sieg gegen die Tyrannei ist: „Die lebenswichtigen Interessen Amerikas und unser tiefster Glaube verschmelzen nun miteinander“, heißt es weiter in der Rede des Präsidenten. „Vom ersten Tag unserer Gründung an postulierten wir die unveräußerlichen Rechte, die Würde und den unersetzbaren Wert eines jeden Menschen, der als Ebenbild Gottes erschaffen wurde. Seit Generationen bestanden wir auf dem Prinzip der Demokratie, weil niemand zum Herren und niemand zum Sklaven geboren wird. Diese Ideale zu fördern ist die Berufung, aus der unsere Nation entstand und die ehrenwerte Errungenschaft unserer Vorväter. Heute ist es das dringende Gebot unserer nationalen Sicherheit, und die wesentliche Aufgabe unserer Zeit. Die Vereinigten Staaten werden deshalb die Entwicklung von demokratischen Bewegungen und Institutionen in jedem Staat und in jeder Kultur suchen und fördern, mit dem Ziel, die Tyrannei in unserer Welt zu beenden.“

Was Bush in dieser Rede beschrieb, nannte Wolfowitz Amerikas „Bürde der Verantwortung“. Dahinter steht die Überzeugung, dass Freiheit und Schicksal der USA untrennbar mit der Aufgabe verknüpft sind, für die Verbreitung von Freiheit und Unabhängigkeit in der gesamten Welt zu sorgen. Bushs Rede verband zwei Hauptthemen, die das Denken des ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsministers dominieren: die Notwendigkeit, dem Totalitarismus entgegenzutreten, und der Glaube, dass Demokratie im Mittleren Osten gedeihen kann.

Die Lehren der Geschichte

Holocaust, Nationalsozialismus und Kommunismus als die großen Übel des 20. Jahrhunderts und die Gefahren einer Politik des Appeasement spielen eine wesentliche Rolle in Wolfowitz’ Denken. Geboren als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer, ist seine Familiengeschichte ein Zeugnis für den Horror des Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Der größte Teil seiner Familie wurde von den Nazis ermordet. In einer Rede vor den Vereinten Nationen anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager mahnte er: „Wenn es eine Lehre aus diesen Geschehnissen gibt, dann ist es die Verpflichtung, angesichts eines Völkermords nicht die Augen zu verschließen oder untätig zu bleiben.“

Für Wolfowitz ist der Kampf gegen den Terror eine Fortsetzung des epischen Kampfes zwischen Gut und Böse, Demokratie und Totalitarismus, den Mächten der Freiheit und denen der Barbarei. Die Befreiung des Iraks unterstrich die Entschlossenheit der USA, dem Bösen entgegenzutreten, es zu besiegen und die „Ära systematischer Barbarei“, so Wolfowitz, endlich zu beenden. Die Terroristen im Irak, angeführt von Abu Musab az-Zarkawi, einem der wichtigsten Köpfe der Al-Qaida, verglich er mit den Nazis. In einem Brief Zarkawis an seine Kampfgenossen in Afghanistan drücke sich laut Wolfowitz „eine Verachtung für ganze Menschengruppen aus, inklusive muslimischer Gemeinschaften wie Kurden und Schiiten, die an den Rassismus der Nazis erinnert“. Auch der Todeskult und die Glorifizierung der Gewalt entsprächen den tyrannischen Massenideologien des vergangenen Jahrhunderts. Zarkawi agiere zwar unter dem Schutzmantel der Religion. Doch erinnere „diese Rhetorik eher an den Totenkopf, den die SS-Divisionen Hitlers so stolz auf ihren Uniformen trugen“. Bushs Rede zur Lage der Nation baut auf diesen Überlegungen auf. Das politische Ziel Zarkawis beschrieb er als „Versuch, ein Reich der Unterdrückung zu erzwingen und dann auszuweiten, in dem jeder Lebensbereich von einer kleinen Gruppe brutaler, selbsternannter Herrscher kontrolliert wird“.

Die im November 2003 vom Weißen Haus initiierte „Broader Middle East Initiative“ basiert zu einem großen Teil auf den langfristigen strategischen Visionen von Wolfowitz. Sie ist ein zentraler Baustein in Bushs Außenpolitik. Die USA sollen Freiheit und Demokratie in der gesamten arabischen Welt fördern. Entscheidende Impulse für seine Idee, eine Politik der Annäherung an moderate Muslime im Nahen Osten und Asien und der Förderung der Demokratie in der islamischen Welt gewann Wolfowitz in seiner Zeit als US-Botschafter in Indonesien unter Präsident Ronald Reagan. Wolfowitz, der fließend Arabisch spricht, traf sich häufig mit arabischen Intellektuellen und politischen Führern, die seine Visionen von einer Transformation der politischen Kultur in den muslimischen Ländern teilen. Er forderte Muslime auf, sich an der politischen Auseinandersetzung mit dem Terror zu beteiligen, denn der Terror müsse „besonders nachdrücklich in der muslimischen Welt selbst bekämpft werden“. Die Vereinigten Staaten, stellte Wolfowitz fest, „müssen moderaten Stimmen in der muslimischen Welt mehr Aufmerksamkeit schenken. Je mehr wir sie bestärken, desto effektiver können wir sein.“

Optimist, Idealist, Hardliner

Die Auffassung von einem „Kampf der Kulturen“ weist er entschieden zurück. „Es gibt keinen Krieg zwischen dem Westen und dem Islam,“ sagte Wolfowitz in einer Rede vor Studenten der Georgetown School of Foreign Service: „Hier werden falsche Trennlinien gezogen. Ob Koran, Bibel oder die Genfer Konventionen: Alle basieren auf einer universalen Achtung des menschlichen Lebens und der Verankerung eines fundamentalen, moralischen Schutzes von Menschenrechten und von Zivilisten. Die Extremisten töten ohne Einschränkung, sie gewinnen die Verzweifelten mit dem falschen Versprechen, dass Selbstmordattentate und Mord sie ins Paradies führen würden, und sie benutzen heilige Stätten, Waisen- und Krankenhäuser für ihre Militäraktionen. Sie bilden nur eine kleine Minderheit unter mehr als einer Milliarde Muslime in der Welt. Und sie haben nicht nur dem Islam den Krieg erklärt, sondern der gesamten zivilisierten Welt.“

Von Natur aus ein Optimist und Idealist aus Überzeugung, ist Wolfowitz fest davon überzeugt, dass der Krieg gegen den Terror die christliche und muslimische Welt eher einigen als spalten wird. Wie eine Kooperation von West und Ost den Terrorismus besiegen könnte, beschrieb er nur acht Monate nach den Attentaten des 11. September in einer Rede vor dem World Affairs Council: „Um den Kampf gegen den Terrorismus zu gewinnen und dabei eine friedlichere Welt zu schaffen, müssen wir an die Millionen moderater und toleranter Menschen in der muslimischen Welt appellieren, die nach den Segnungen der Freiheit, Demokratie und freien Marktwirtschaft streben. Diese Werte werden manchmal als ‚westliche Werte‘ beschrieben, in Wirklichkeit aber sind sie universell. Wir müssen begreifen, dass die Terroristen nicht nur uns attackieren, sondern auch ihre muslimischen Brüder, denen sie ein mittelalterliches, intolerantes und tyrannisches Gesellschaftssystem aufzwingen wollen. Die Millionen Muslime, die Freiheit und Wohlstand ersehnen, die wir Amerikaner genießen, stehen an vorderster Front im Kampf gegen den Terrorismus.“

Wolfowitz’ Vermächtnis

„Freiheit“, schrieb Paul Wolfowitz, „ist das Bindemittel für die tragfähigsten Bündnisse der Welt. Und sie ist das Lösungsmittel, das Tyranneien beseitigt.“ Es bleibt natürlich abzuwarten, ob sich seine Vision eines Nahen Ostens, in dem die Demokratie siegen wird, tatsächlich verwirklichen lässt. Aber einige Anzeichen deuten darauf hin. Hunderttausende Palästinenser wählten im Januar 2005 einen neuen Präsidenten. Hoffnungslosigkeit und Gewalt, die Markenzeichen der Herrschaft Jassir Arafats, sollten damit beendet werden. Saudi-Arabien, eine absolutistische Monarchie, hielt im Februar zum ersten Mal seit 40 Jahren Regionalwahlen ab. Dies ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt in Richtung Demokratisierung. Im Libanon führten Demonstrationen zum Rücktritt der prosyrischen Regierung in Beirut und zwangen die Syrer, nach 29 Jahren der Besatzung abzuziehen.

Die Geburt einer Demokratie im Irak wird aber sicherlich zu Wolfowitz’ Vermächtnis werden. Während die Terroristen weiterhin einen brutalen Kampf gegen die Freiheit im Irak führen, muss sich Saddam Hussein vor Gericht für seine entsetzlichen Verbrechen gegen das irakische Volk verantworten. Die Zeiten der Folterkammern und Völkermorde in einem der barbarischsten Regime der Neuzeit gehören damit der Vergangenheit an.

Trotz der großen Einschüchterungskampagne der Terroristen beteiligten sich im Februar 8,5 Millionen Iraker oder 58 Prozent der Bevölkerung an der Wahl für die irakische Übergangs-Nationalversammlung. Viele von ihnen durften zum ersten Mal in ihrem Leben ihre Stimme abgeben.

Der Erfolg der Wahlen im Irak war ein überwältigendes Zeugnis der Sehnsucht des irakischen Volkes nach Freiheit und sollte als eine der größten Leistungen der US-Außenpolitik in der Ära nach dem Kalten Krieg betrachtet werden. Es war ein beeindruckender Ausdruck einer Revolution, die nicht zu einem unerheblichen Teil Paul Wolfowitz zu verdanken ist.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 40 - 45.

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