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01. Sep 2017

Frieden mit Hindernissen

In Kolumbien beginnt die schwierige Umsetzung des FARC-Abkommens

Es ist ein umfassendes und anspruchsvolles Abkommen, das zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-Rebellen nach über 50 Jahren des Kampfes unterzeichnet wurde. Dennoch mögen viele Kolumbianer noch nicht recht an einen Erfolg glauben. Und es fehlt auch noch immer ein Konzept zur Wiedereingliederung der Rebellen.

Diego Gutiérrez ist ein beredter junger Mann. Er klingt wie ein Diplomat und nicht wie ein Rebell, wenn er von der Chance spricht, die der Friedensvertrag zwischen der Linksguerilla FARC und der kolumbianischen Regierung für sein Land bedeutet. „Mehr Möglichkeiten für alle, Wachstum und eine Gesellschaft ohne Gewalt“, sagt er. Gutiérrez trägt ein hellblaues T-Shirt und eine beige Hose, und man kann ihn sich nur schwer in Uniform vorstellen, mit Marschgepäck und Karabiner. Oder schießend, tötend und Minen legend. Der junge Mann von 30 Jahren hat sein halbes Leben bei den „Revolutionären Streitkräften Kolumbiens“ (FARC) zugebracht. Geblieben ist ihm davon auf den ersten Blick nur der militärische Haarschnitt.

Bis zum September des vergangenen Jahres war Gutiérrez Krieger gegen den kolumbianischen Staat. Er war Mitglied des Generalstabs der 40. Front der FARC, die in der Provinz Meta in den grünen und sanften Hügeln Zentralkolum­biens das Sagen hatten. Hier kontrollierten die Rebellen über Jahrzehnte alles, sie waren Staat im Staat.

Heute ist Diego Gutiérrez einer der beiden Verantwortlichen der „Übergangs- und Normalisierungszone Mariana Páez“. Das Lager, benannt nach einer 2009 gefallenen Chefideologin der FARC, wurde vor Monaten im Rahmen des Friedensabkommens von Havanna zwischen FARC und der Regierung von Präsident Juan Manuel Santos hastig und unvollständig im Niemandsland nahe einer Gemeinde namens Mesetas aus dem Boden gestampft. Bis in die Hauptstadt Bogotá sind es mit dem Auto sieben, zum Teil beschwerliche Stunden über schlammige Wege und Schotterpisten.

26 dieser Übergangslager wurden zu Jahresbeginn in ganz Kolumbien errichtet, die meisten davon in weit abgelegenen Gebieten. 10 000 ehemalige Kämpfer und Mitglieder urbaner FARC-Zellen sollen hier den beschwerlichen Weg vom Krieg zum Frieden gehen. Wichtige Etappenziele sind dabei schon erreicht: Die Rebellen sind aus den Bergen abgestiegen, aus dem Dschungel gekommen, haben die Uniform gegen normale Kleidung getauscht und ihre Waffen abgegeben. „Der lange Friedensmarsch liegt hinter uns“, sagt Diego Gutiérrez.

Aber dieser Marsch der Rebellen in den Frieden war weit und schmerzvoll. Zwei Generationen von Kolumbianern kennen nichts anderes als Bürgerkrieg, Tod und Vertreibung. Mehr als ein halbes Jahrhundert ist es her, dass erst die FARC 1964 und ein Jahr später die kleinere Linksguerilla ELN (Nationales Befreiungsheer) zu den Waffen griffen, um Veränderungen zu erreichen, die mit politischen Mitteln nicht zu schaffen schienen: Angleichung von Stadt und Land, gerechtere Verteilung von Besitz und Einkommen, Agrarreform. Die FARC-Rebellen wollten auch einen anderen Staat erzwingen, eine Gesellschaft, in dem nicht mehr die Eliten das Sagen haben. In ihrer Hochzeit hatte die älteste Guerilla Lateinamerikas fast 18 000 Kämpfer unter Waffen und kontrollierte mehr als die Hälfte des kolumbianischen Territoriums. Wirklich nah kam sie ihrem Ziel aber dennoch nie.

Viel verändert hat sich seit damals nicht. Die strukturellen Probleme ­Kolumbiens sind geblieben. Das Entwicklungs- und Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land ist nach wie vor riesig, Landraub durch die lokalen Eliten vielerorts Routine. Und der Staat schafft es auch nach Abschluss des Friedensprozesses nicht, schnell genug mit Verwaltung, Schulen, Polizei und Militär in die Zonen einzurücken, welche die FARC im Zuge des Friedensabkommens verlassen haben. Dieses Vakuum füllen andere bewaffnete Gruppen aus – ELN, Paramilitärs, Drogenbanden.

Heute sind sich die ehemaligen FARC-Rebellen einig, dass man Veränderungen nicht mit Gewalt erreichen kann. Bis es zu dieser Einsicht kam, starben 200 000 Menschen, es verschwanden 100 000, und rund sieben Millionen wurden vertrieben. Für Verbrechen und Verderben waren in Kolumbien aber nicht nur linke Guerilleros verantwortlich. Vor allem die ultrarechten Todesschwadronen (Paramilitärs) haben unendliches Leid über das Land gebracht. Ursprünglich als Bürgerwehren von Großgrundbesitzern gegründet, kämpften sie man­cherorts an der Seite des Militärs gegen die Rebellen und sind für Hunderte Massaker verantwortlich.

Auf der Suche nach Frieden

Immer wieder gab es Versuche, den bewaffneten Konflikt in dem nach Brasilien und ­Mexiko bevölkerungsreichsten Land ­Lateinamerikas zu beenden. Mal waren sie halbherzig, mal naiv, so wie der Friedensprozess von San Vicente del Caguán.

Die Verhandlungen in dem kleinen Ort in der Provinz Caquetá zwischen 1998 und 2002 unter der Präsidentschaft von Andrés Pastrana scheiterten dramatisch, weil die FARC einen Willen zum Frieden nur vorgaben. Die Guerilleros, damals noch unter dem charismatischen Anführer Manuel Marulanda („Tirofijo“), nutzten die Verhandlungen und die entmilitarisierte Zone von der Größe der Schweiz dazu, Rebellen auszubilden, Drogen anzubauen und Geiseln zu nehmen. Mit der Entführung der Grünen-Politikerin Ingrid Betancourt Ende Februar 2002 wurden die Gespräche abrupt beendet. Auch die Geduld der Bevölkerung war am Ende.

Die Wahl des Hardliners und Rechtsaußen Álvaro Uribe zum Staats­präsidenten war im Mai 2002 eine direkte Folge des Dramas von Caguán. Uribe verfolgte in seinen acht Jahren an der Macht mit messianischem Eifer die Vernichtung der FARC, während er die ultrarechten Todesschwadronen schonte. In diesen Jahren wurde die Guerilla erheblich dezimiert und fast die gesamte historische Führungsriege getötet oder ins Gefängnis gesteckt. Bis 2010 gelang es Uribe, die Linksrebellen aus den Zentren Kolumbiens zu verdrängen und die Hoheit des Staates über die Landwege zurückzuerlangen.

Sein Nachfolger Santos wandelte sich als Staats­chef vom Falken zur Taube. Als Uribes Verteidigungsminister hatte er noch viele Operationen gegen die Rebellen verantwortet. Als Präsident nutzte er die Schwäche der FARC für sein eigenes politisches Projekt: einen neuen Anlauf für Frieden. Santos begann gleich nach Amtsantritt mit der Sondierung für eine Verhandlungslösung und überzeugte davon auch den neuen FARC-Führer Rodrigo Londoño alias Timochenko.

Verhandlungen in Havanna

So kam es im November 2012 ­zur neuerlichen Aufnahme von Friedensgesprächen zwischen Regierung und Aufständischen. „Dabei sollten die Fehler von Caguán nicht wiederholt werden“, sagt Christian Voelkel vom Programm ProPaz der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Bogotá. Dazu gehörte unter anderem, dass man nicht in Kolumbien verhandelt, nicht vor Beginn der Gespräche schon eine Waffenruhe vereinbart und die Verhandlungen nicht öffentlich führt, sondern hinter verschlossenen Türen, konzentriert und professionell begleitet.

Die kubanische Regierung bot Havanna als Verhandlungsort an. Kuba gehörte neben Venezuela, Chile und Norwegen zu den Garanten des Friedensprozesses. Vor allem die Skandinavier stellten im Laufe der Unterredungen Experten und Expertise anderer Friedensprozesse zur Verfügung: Nordirland, Nepal, Guatemala und El Salvador – aus allen Konfliktbeilegungen lernten die kolumbianischen Kontrahenten. Nepal war zum Beispiel wichtiger Referenzpunkt für die gemeinsame Überprüfung des Waffenstillstands und der Entwaffnung der FARC. Nordirische Politiker reisten nach Havanna und wiesen die Konfliktparteien darauf hin, dass drei Dinge unabdingbar seien: eine unmittelbare Waffenruhe, der Schutz von sozialen Aktivisten und Oppositionellen vor Verfolgung sowie die Beteiligung der Zivilgesellschaft am Friedensprozess.

Die Verhandlungsagenda zwischen FARC und Regierung umfasste sechs Punkte: Landreform und Land­entwicklung, politische Beteiligung, Ende des Konflikts, Drogen, Opfer und Implementierung. Um manche dieser Punkte rangen die Konfliktparteien viele Monate. Aber nach knapp vier Jahren stand am 26. September 2016 ein 310 Seiten starkes Friedensabkommen, das komplex, anspruchsvoll und voller guter Vorsätze ist. „Es ist zudem das erste Abkommen, das besonders die Opfer berücksichtigt“, betont Christian Voelkel von ProPaz. Denn es sieht vor, dass nach den Verschwundenen gesucht, eine Wahrheitskommission geschaffen und während der Kriegsjahre geraubtes Land zurückgegeben wird.

Beim Thema Opfer und Übergangsjustiz bittet das Abkommen von Havanna auch explizit Deutschland um Hilfe. „Man ging davon aus, dass Deutschland aus seiner Geschichte bei der Opferentschädigung besondere Expertise besitzt“, betont Voelkel, der sich bei ProPaz um dieses Kapitel und das der Übergangsjustiz kümmert. Auch das katholische Lateinamerikahilfswerk Adveniat begleitet den Friedensprozess. Die Organisation mit Sitz in Essen unterstützte während der Verhandlungen zum Beispiel die Reise von 60 FARC-Opfern nach Havanna. Zudem hat das Auswärtige Amt mit dem Grünen-Politiker Tom Koenigs einen Beauftragten für die Unterstützung des Friedensprozesses berufen. Koenigs reist regelmäßig nach Kolumbien und steht in engem Austausch mit Präsident Santos.

Schwer vermittelbar

Doch Staat und Gesellschaft in Kolumbien tun sich mit der Umsetzung des historischen Dokuments schwer. Die erste Fassung ließ die Bevölkerung in einem Referendum sogar durchfallen, die nachgebesserte Version ratifizierte dann vorsichtshalber nur noch das Parlament.

Die Umsetzung eines solch komplexen Vertragswerks wäre wohl in jeder Postkonflikt-Gesellschaft schwierig. Doch in Kolumbien kommt erschwerend hinzu, dass ein Großteil der Bevölkerung das Übereinkommen wegen der angeblich großen Zugeständnisse an die FARC kritisch sieht. Viele Kolumbianer ärgern sich, dass die Rebellen zwei Jahre lang ein Übergangsgeld in Höhe von 90 Prozent des Mindestlohns erhalten. Andere sind dagegen, dass den FARC mit ihrer künftigen politischen Partei im nächsten Parlament zehn Sitze (fünf im Senat, fünf in der Abgeordnetenkammer) garantiert werden. Und für viele haben die Strafen, die im Rahmen der Übergangsjustiz für geständige FARC-Rebellen vorgesehen sind, nur symbolischen Charakter.

Vor allem diesen letzten Punkt bekämpft auch das „Centro Democrático“, die Partei von Álvaro Uribe. Sie droht damit, das Abkommen in „Stücke zu reißen“ und polemisiert auf allen Ebenen dagegen. Noch nie habe ein „Friedensvertrag mit einem so gewalttätigen Widerstand im eigenen Land zu kämpfen gehabt“, klagt Sergio Jaramillo, der als Friedensbeauftragter der Regierung das Abkommen federführend ausgehandelt hat. Zusätzlichen Druck schafft die für Mai 2018 geplante Präsidentenwahl. Und so gleicht die Implementierung des Vertragswerks einem Wettlauf gegen die Zeit. Es muss bis zur Wahl ­unumkehrbar gemacht sein; denn sollte Uribes Partei die Wahl gewinnen, wird sie ihre Drohung in die Tat umsetzen wollen.

Lange Liste der Versäumnisse

Aber die Umsetzung vieler Punkte aus dem Havanna-Vertrag hinkt dem Zeitplan dramatisch hinterher. Die Regierung wirkt überfordert und verheddert sich an vielen Punkten in der eigenen Bürokratie. „Wenn die FARC nicht mit ihrem eisernen Willen das Friedensabkommen getragen hätte, wäre es schon längst zusammengebrochen“, sagt ein ausländischer Berater.

Die Liste der Versäumnisse der Regierung ist lang. Das Übergangsgeld für die Rebellen in Höhe von monatlich 190 Euro wird erst seit August und nicht seit Jahresbeginn gezahlt. Die Amnestie für die inhaftierten FARC-Kämpfer lässt auf sich warten, und vor allem die den Friedensprozess begleitenden Gesetze sind erst zu einem kleinen Teil in Kraft. Institutionen wie die Wahrheitskommission und die „Einheit zur Suche“ nach den geschätzten 100 000 Opfern des Bürgerkriegs sind noch nicht geschaffen. Viele dieser Vorhaben hat Präsident Santos, der für sein Engagement mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde, per Dekret durchgeboxt. Nun liegen die präsidialen Erlasse zur Prüfung vor dem Verfassungsgericht, das spätestens im September entscheiden muss.

Dramatisch ist das fehlende Konzept für die „Reincorporación“. Damit sind die Programme zur Wiedereingliederung der demobilisierten Rebellen in die Gesellschaft gemeint – also das Angebot von Jobs, Ausbildungsplätzen und Fortbildungsmaßnahmen. „Das ist vermutlich das größte Problem der Implementierung des Friedensprozesses“, kritisiert Ariel Ávila, stellvertretender Direktor der Stiftung Paz y Reconciliación (Frieden und Versöhnung). „Die Ex-Guerilleros sind wütend, und niemand sagt ihnen, wie es weitergeht.“ Denn es reicht nicht aus, dass die „Übergangs- und Normalisierungszonen“ seit dem 15. August 2017 „Wiedereingliederungs- und Qualifizierungszonen“ heißen.

In der Zone „Mariana Páez“ in Mesetas kann man gut sehen, wie die „Farianos“ noch mit dem Frieden fremdeln. Fast alle Frauen und Männer tragen weiterhin Teile ihrer Uniform oder die typischen FARC-Gummistiefel, manche beschäftigen sich mit dem Bau von Unterkünften oder man erzählt sich auch alte Geschichten. Die meisten Demobilisierten hier kennen nichts als Krieg. Viele sind schon als Kinder zu den FARC gestoßen, andere wurden zwangsrekrutiert. Unzählige haben erst bei den Rebellen Lesen und Schreiben gelernt. Sie alle brauchen aktive Hilfe beim Entwickeln eines Lebensprojekts im Frieden.

Denn sie haben eher diffuse Ideen als konkrete Wünsche. Für die meisten ist ein Leben in der Stadt oder in einem bürgerlichen Beruf kaum vorstellbar. Männer träumen meist davon, Landwirte zu werden, andere wollen „etwas mit Computern“ machen, überraschend oft streben die Demobilisierten einen medizinischen Beruf an: Krankenschwester und Krankenpfleger, Arzt und Zahnarzt stehen ganz oben auf der Wunschliste.

Chaos in der Regierung

Doch die „Agencia para la Reincorporación“ (ARN), die staatliche Agentur zur Wiedereingliederung, habe noch kein tragfähiges Konzept entwickelt, um auf diese Bedürfnisse zu reagieren, kritisiert Ariel Ávila. „Zudem herrscht in der Regierung totales ­Chaos, es gibt nicht einmal einen Beauftragten für diese Themen.“ Auch internationale Beobachter sehen in den fehlenden Zukunftskonzepten für die Ex-Rebellen eine der größten Herausforderungen für den Friedensprozess. Es erweckt den Eindruck, als müsse der Staat bei einem der wichtigsten Themen improvisieren, zumal der Wiedereingliederung auch im Abkommen nur wenige Seiten gewidmet wurden – vermutlich aus Zeitmangel.

Noch arbeiten staatliche Institutionen wie der Weiterbildungsservice Sena (Servicio Nacional de Aprendizaje) und das Bildungsministerium an Projekten für die Aus- und Weiterbildung der Rebellen. „Aber es gibt nicht mal eine offizielle Leitlinie, an die sich alle halten“, moniert Ávila. Klar ist lediglich, dass die Wiedereingliederung zumeist auf dem Land und nicht in den Städten stattfinden soll.

Schon jetzt sind laut Ávila 80 Rebellen angesichts der Perspektivlosigkeit aus der Übergangszone in Mesetas abgehauen. Wer weggeht, schließt sich meist anderen bewaffneten Gruppen wie diejenigen abtrünniger FARC-Einheiten an, die sich dem Friedensvertrag nicht unterworfen haben und auf eigene Rechnung weitermachen. Es gibt ehemalige FARC-Kämpfer, die zur kleinen Guerillagruppe ELN wechseln, mit der die Regierung auch gerade Friedensgespräche führt. Oder sie lassen sich von den Drogenbanden anheuern.

Für Diego Gutiérrez, den ehemaligen Rebellen, ist das keine Alternative. Er bleibt in der Provinz Meta, wo er geboren wurde. „Ich will mit Worten für die gleichen Ziele kämpfen, für die wir damals zu den Waffen gegriffen haben. Das hier ist mein Leben, meine Region, hier soll es endlich was werden mit dem Frieden.“

Klaus Ehringfeld ist freier Lateinamerika-Korrespondent für deutschsprachige Print- und Onlinemedien mit Sitz in Mexiko. Das Ringen um Frieden in Kolumbien begleitet er seit 15 Jahren.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 96 - 101

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