Titelthema

28. Aug. 2023

Freundschaft mit Grenzen

Peking und Moskau mögen kooperieren, aber sie vertrauen sich nicht. Ein instabiles Russland wäre Chinas Albtraum – daher setzt es auf ein Fortdauern des Ukraine-Krieges.

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Bild: US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus.
Das stärkste Bindemittel für die Beziehungen zwischen China und Russland ist die Sorge vor einer amerikanisch dominierten Welt: US-Präsident Joe Biden im Weißen Haus.
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„Präsident Putin ist mein vertrautester ausländischer Kollege, mein bester Freund, und ich schätze diese tiefe Freundschaft mit ihm sehr“, sagte ­Chinas Oberster Führer Xi Jinping bei einem Staatsbesuch in Moskau im Juni 2019 über den russischen Präsidenten. Die amerikanisch-chinesischen Beziehungen waren da an einem historischen Tiefpunkt angelangt, die Großmächte befanden sich inmitten eines Handelskriegs. Eine Annäherung zwischen Russland und China erschien vernünftig. Doch wie ein altes chinesisches Sprichwort besagt, lernt man einen Freund erst in der Not wirklich kennen. Und seit Xi Putin als seinen Freund bezeichnete, ist viel geschehen.

Das wichtigste Ereignis war die im Februar 2022 von Russland gestartete vollumfängliche Invasion der Ukraine – einem Land, mit dem China eine strategische Partnerschaft vereinbart hatte. Nur wenige Tage vor Russlands Aggression sicherte sich Putin von seinem chinesischen Gegenüber eine schriftliche Zusage über eine „grenzenlose Freundschaft“. Seitdem wiederholt China tagtäglich die russische Propaganda, wonach die NATO-Ost­erweiterung ein legitimes russisches Sicherheits­interesse berühre und daher der eigentliche Kriegsgrund sei.

Fast genau vier Jahre nach dem eingangs erwähnten Zitat braucht Putin dringend gute Freunde. Der Aufstand der Wagner-Gruppe, der von Jewgeni Prigoschin geführten privaten Militärfirma mit engen Verbindungen zum russischen Geheimdienst, hat seine Autorität untergraben. China blieb zunächst ruhig, um schließlich eine Erklärung zu veröffentlichen, in der es „den Vorfall um die Wagner-Gruppe“ als eine „innere Angelegenheit Russlands“ bezeichnete. Wie eng ist diese angeblich grenzenlose Freundschaft wirklich?



Der Ukraine-Krieg: Chinas Balanceakt

Ohne Zweifel ist China heute für Russland wichtiger als je zuvor. Durch die westlichen Sanktionen hat sich Russlands Abhängigkeit von China dramatisch erhöht. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres wuchs der bilaterale Handel um 40,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und übertrumpfte damit in nur einem halben Jahr das gesamte Handelsvolumen des Jahres 2020. Den größten Anteil an den chinesischen Importen aus Russland haben fossile Brennstoffe. Im Jahr 2022 zahlte China 81 Milliarden US-Dollar für die Einfuhr von Öl, Kohle, LNG und Pipelinegas aus Russland – 2021 waren es noch 52,1 Milliarden US-Dollar gewesen. Russland bleibt eine wichtige Energiequelle für China. Zudem profitieren chinesische Unternehmen vom Wegfall der Konkurrenz auf den russischen Absatzmärkten.

Diese Handelsgeschäfte sind für Russland eine Lebensader, doch hat die chinesische Unterstützung Grenzen. Über eine direkte Lieferung von Waffen oder Muni­tion aus China an Russland ist zwar nichts bekannt, doch verkauft Peking hochentwickelte Dual-Use-Güter an Moskau und stärkt so dessen militärische Fähigkeiten. Die USA haben das Changsha Tianyi Space Science and Technology Research Institute sanktioniert, weil es über das russische Technologieunternehmen Terra Tech Satellitenbilder an die Wagner-Gruppe geliefert hat. Berichten zufolge soll China Mi­kroelektronik nach Russland exportieren, allen voran Halbleiter. Allein im Jahr 2022 hat die russische Verteidigungsindustrie Mikroelektronik im Wert von mehr als 500 Millionen Dollar erhalten. Briefkastenfirmen in Drittstaaten und Hongkong spielen dabei eine entscheidende Rolle.

Aber trotz allem: Pekings Unterstützung für Moskau ist nicht grenzenlos. Die Volksrepublik bewegt sich auf einem schmalen Grat. Insbesondere sind es international tätige chinesische Technologieunternehmen aus der ersten Reihe, die (weitere) westliche Sanktionen infolge ihrer Russland-Geschäfte vermeiden wollen. Beispielsweise hat Huawei die Lieferung von Basisstationen für russische Mobilfunkbetreiber gestoppt und sein ­russisches Büro für den Verkauf von Datenspeichersystemen und Telekommunikationsausrüstung geschlossen. Chinesische Technologiefirmen aus der zweiten Reihe, die kaum oder gar nicht international tätig sind, haben die Marktchancen im Gegenzug ausgenutzt und versorgen nun Russland. Allerdings liefern diese global nicht konkurrenzfähigen Unternehmen häufig weniger entwickelte Technologie; so sollen russische Vertreter gegenüber chinesischen Gesprächspartnern die schlechte Qualität der importierten Technologie beklagt haben. Auch legen Berichte nahe, dass russische Funktionäre sich angesichts der Abhängigkeit von China um die Sicherheit ihres Landes sorgen. Diese Zurückhaltung wirft Fragen auf: Was erhofft sich Peking von Moskau? Wo liegen die Gemeinsamkeiten der beiden Staaten, wo die Grenzen?

China kalkuliert in drei Dimensionen: (innen-)politische Ordnung, geopolitische Konkurrenz und wirtschaftliche Entwicklung. Die ersten beiden drehen sich um die Frage, ob China und Russland gemeinsam eine autoritäre Weltordnung errichten können.



Brüder im Geiste

Das stärkste Bindemittel der Partnerschaft von China und Russland ist die gemeinsame Sorge vor einer US-dominierten Welt, die nicht nur ihre internationalen Ambitionen unterlaufen würde, sondern auch daheim ihre autoritären Regime infrage stellte. Die gemeinsame Erklärung vom Februar 2022 zeugt von dem Versuch, eine Weltordnung zu errichten, die autoritäre Herrschaft schützt. Dies ist weniger geleitet vom Vertrauen auf die Stärke der eigenen Systeme als vom Bewusstsein der eigenen Verwundbarkeit. Der Diskurs über die Anfälligkeit ihrer Staaten für die westliche, vorrangig amerikanische Gefahr ist für die politischen Kreise in Moskau wie in Peking prägend. So veröffentlichte das chinesische Außenministerium ein Papier unter der Überschrift „US-Hegemonie und ihre Gefahren“, in dem es hieß, „dass die USA, seit sie nach zwei Weltkriegen und dem Kalten Krieg das mächtigste Land der Welt wurden, immer unverfrorener auftraten, indem sie sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder eingemischt und ihre Hegemonie angestrebt, aufrechterhalten und missbraucht haben“. Dies ist ein deutlicher Hinweis auf das Unsicherheitsgefühl Pekings. Auch in Russland ist das Gefühl von Schwäche gegenüber den USA und damit auch gegenüber der NATO nur zu vertraut und hat sogar Eingang in das neueste außenpolitische Konzept der Russischen Föderation gefunden: (Die antirussische Politik der USA) „zielt darauf, Russland auf jede nur mögliche Weise zu schwächen. Dazu zählt es, Russlands schöpferische zivilisatorische Rolle, seine Macht, seine wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten zu untergraben, seine Souveränität in der Außen- wie Innenpolitik zu beschränken und seine territoriale Integrität zu zerstören“. Sogar in seiner Rede bei der Militärparade zum Tag des Sieges über Nazideutschland, die sich normalerweise auf russische Triumphe konzentrieren sollte, begründete Wladimir Putin die Motivation für den Angriff auf die Ukraine aus einer Position der Schwäche und der Bedrohung.

China erkennt diese Argumentation gegenüber dem Westen an und nutzt sie, um die russische Aggression in der Ukraine zu erklären – so der Sprecher des chinesischen Außenministeriums auf die Frage, ob Chinas Position zur Ukraine nicht der Achtung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit widerspräche: „Haben die USA, als sie die NATO in fünf Erweiterungswellen immer weiter östlich, bis vor die russische Haustür führten und entgegen der Zusagen an Russland in diesen Gebieten hochentwickelte strategische Waffen stationierten, auch nur für einen Moment darüber nachgedacht, welche Folgen es haben würde, ein großes Land mit dem Rücken an die Wand zu drängen?“ Da überrascht es kaum, dass China im Großen und Ganzen die russische Anti-USA- und Anti-NATO-Propaganda wiederholt.

Allerdings existierten schon vor dem Krieg mehr Unterschiede, als dieser Befund vermuten lässt. In den Diskursen in Russland und China entwickelten sich verschiedene Narrative über zentrale Aspekte der Zusammenarbeit. Diese Differenzen bezogen sich etwa auf die eurasische Konnektivität, Chinas Rolle in der Arktis, den Umfang des bilateralen Wirtschaftsaustauschs mit hohem Mehrwert sowie die Perspektive auf die historische Bedeutung des russischen Fernen Ostens. Das alles unterstreicht: Das Verhältnis ist kompliziert. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat sich die Kluft aus mehreren Gründen noch vergrößert.

Erstens unterscheiden sich Chinas Ambitionen deutlich von den russischen. Die globale Strategie Moskaus, so ein Dokument des US-Verteidigungsministeriums, ziele darauf ab, Einfluss in den ehemaligen Sowjetstaaten ebenso wie den Status als Großmacht zurückzuerlangen, sich selbst als regionalen Strippenzieher zu inszenieren, weltweit wirtschaftlichen und militärischen Einfluss zu gewinnen sowie die herrschenden liberalen Regeln der Weltordnung zu beeinflussen und zu ändern. Die Lücke zwischen Selbstbild und knappen wirtschaftlichen Ressourcen zur Verwirklichung der eigenen Ziele lässt Russland zur Skrupellosigkeit neigen. Seine Anspruchsmentalität treibt es dazu, das internationale System herauszufordern und die Rolle eines Spielverderbers zu übernehmen, der sogar auf militärische Aktionen zurückgreift und nukleare Drohungen ausstößt – was die chinesische Führung entschieden missbilligt.

China dagegen strebt eine stabile und einflussreiche Position in der internationalen Arena an; dies ist verbunden mit dem Ziel, die Langlebigkeit seines innenpolitischen Systems zu sichern. Da kann ein wenig außenpolitische Instabilität, wenn sie die von den USA geführte Sicherheitsordnung herausfordert, durchaus nützlich sein. Doch zu viel Chaos, das zu einer echten nuklearen Gefahr führt, ist kon­traproduktiv. Dass Peking Moskau vor dem Krieg regelmäßig dazu anhielt, keine anderen Staaten anzugreifen, deutet darauf hin, dass es sich ernsthaft um die potenzielle russische Disruptionskraft sorgte.

Zudem fühlt sich Russland mit der chinesischen Dominanz unwohl. Einem Bloomberg-Bericht zufolge, der in russischen Medien veröffentlicht wurde, sind einige hochrangige Funktionäre im Ministerium für digitale Entwicklung, Kommunikation und Massenmedien besorgt über die Möglichkeit, dass chinesische Unternehmen, namentlich Huawei, den russischen Markt dominieren könnten.

All dies zeigt: Russland und China mögen gegenwärtig ähnliche Sorgen haben und mithin kooperieren. Das bedeutet aber nicht, dass sich die beiden Staaten vertrauen würden. Das hat nicht zuletzt historische Gründe.



Schwierige Nachbarschaft

Die Wurzeln der chinesischen Skepsis reichen mindestens bis zur Ili-Krise der Jahre 1871 bis 1881, als das Zarenreich das Gebiet des heutigen Xinjiangs infolge eines muslimischen Aufstands gegen die Qing-Herrschaft eroberte. Ein ähnlicher Auslöser für Unsicherheit und Misstrauen besteht auch auf russischer Seite und betrifft den russischen Fernen Osten. Zwar vermeidet es der russische Mainstream, das Narrativ der „chinesischen Gefahr“ zu bespielen, doch sind nicht alle so zurückhaltend.

Dieser Konflikt lässt sich am Beispiel des Aihui History Museum in der Provinz Heilongjiang an der russisch-chinesischen Grenze studieren. Das Museum bringt die chinesische Perspektive zum Ausdruck und bekräftigt Chinas Ansprüche auf den russischen Fernen Osten. Berichten zufolge wurden russische Staatsangehörige von der Ausstellung ausgeschlossen, um potenziellen Konflikten vorzubeugen. Das Narrativ, demzufolge der russische Ferne Osten China auf unrechtmäßige Weise genommen wurde, ist in der chinesischen Gesellschaft weit verbreitet. Während Russland sich aktiv bemüht, dieses Kapitel seiner Geschichte zu vergessen, will die chinesische Gesellschaft nicht loslassen: Als im Jahr 2019 der Satz „Russland eroberte die Amur-Region“ aus einem russischen Schulbuch gestrichen werden sollte, sorgte dies für Entrüstung in der chinesischen Öffentlichkeit.

Die Dilemmata, Verwicklungen und historischen Erinnerungen im Verhältnis der beiden Staaten treten in den Diskursen um Zentralasien deutlich zutage. Die Ili-Krise ist bis heute ein bedeutendes und traumatisches Ereignis in der chinesischen Geschichtsschreibung. Russland begreift Zentralasien als integralen Bestandteil seiner kulturellen Identität, was zu einer herablassenden Einstellung und dem Anspruch führt, der vorrangige externe Partner der Region zu sein.

Chinas Beziehungen zu Zentralasien haben eine noch längere Geschichte; allerdings hat Peking die Region meist als Fremdes, Äußeres betrachtet. Beide Staaten neigen dazu, in Zentralasien eine strategische Region für ihre sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen zu sehen, aber auch eine Spielfigur, einen Schauplatz, eine Quelle für Ressourcen. Dies prägt Perspektiven und Konkurrenzverhalten Russlands und Chinas in der Region. Während Russland sich bemüht, die eigene Präsenz in seinen traditionellen Einflussgebieten zu wahren, weitet sich die chinesische Agenda rasant aus und scheint die russischen Ansprüche auf Einfluss dabei zu übergehen.

Einer der Gründe für Chinas wachsendes Interesse an der Sicherheit in Zentralasien ist die Sorge vor einer Schwächung Russlands und einem dadurch bedingten Rückzug Moskaus aus der Region. Die Nebeneffekte eines solchen Szenarios könnten wachsende Instabilität nicht nur an Chinas Grenze mit Russland, sondern auch mit Kasachstan, Kirgisistan und vor allem Tadschikistan bedeuten.



Pekings Albtraum

Eine Reihe vertraulicher Unterhaltungen mit hochrangigen chinesischen Kontakten bestätigt, dass die chinesische Führung über eine Desintegration Russlands im Fall eines Machtverlusts Putins besorgt ist. Die beiden Staaten teilen eine Grenze von etwa 4300 Kilometern. Nichts treibt die chinesische Führung so sehr um wie Stabilität. Das bloße Risiko eines instabilen russischen Nachbarn, der als Rückzugsraum für Terroristen herhalten könnte, ist ein Albtraum der Pekinger Führung. Sie fürchtet das Überschwappen solcher Instabilität. Mag die persönliche Freundschaft zwischen Putin und Xi in der Öffentlichkeit auch übertrieben dargestellt werden (obwohl die beiden Autokraten gewiss ein persönliches Verhältnis haben): Der Machterhalt Putins ist für China die beste Garantie, dass Russland ein stabiler und verlässlicher Partner bleiben wird.

Wenngleich China und Russland eine Aversion gegen den Führungsanspruch der USA gemein ist und sie im Westen einen ideologischen Gegner sehen, der autoritäre Herrschaft untergräbt, hat der Krieg in der Ukraine doch verdeutlicht, dass die beiden Staaten sich nicht in einem Militärbündnis befinden. China hat eine „prorussische Neutralität“ angenommen, hauptsächlich, um den Worstcase abzuwenden: ein scheiterndes Russland, das womöglich sogar zu einem Sturz Putins führen würde. Ein Russland nach Putin könnte in Bürgerkrieg und regionale Sezession abgleiten. China verlöre einen engen Partner für seine geopolitische Rivalität mit den USA.

Pekings größte Sorge: Ein prowestliches Regime könnte Putin im Kreml ersetzen. Wenn chinesische Amtsträger in vertraulichen Unterhaltungen das russische Wirtschaftsmodell als nicht nachhaltig beschreiben, bestätigt dies die Sorgen um Russlands Stabilität. Vor dem Krieg hat China den Kreml häufig dazu angehalten, andere Staaten nicht anzugreifen. Russlands Angriffskrieg in der Ukraine stand nicht auf Pekings Agenda.

Doch China tut nicht alles, was es tun könnte, um ein Friedensabkommen zu ermöglichen. Das chinesische Positionspapier vom Februar 2023 ist, anders als oft behauptet, kein „Friedensplan“. Auch skizziert es keine Optionen für einen Kompromiss oder einen Pfad zum Frieden. Das Papier fasst schlicht Chinas Haltung zum Krieg zusammen.

Bis auf Weiteres ist eine russische Niederlage Chinas Albtraum, nicht das Fortdauern des Krieges in der Ukraine. Durch den Putschversuch der Wagner-Gruppe wurde Peking daran erinnert, dass sein Albtraum zur Realität werden könnte. Eine Realität, auf die China wohl nicht vorbereitet wäre.

Aus dem Englischen von Matthias Hempert

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2023, S. 32-37

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Mehr von den Autoren

Dr. Una Bērziņa-Čerenkova leitet das Zentrum für Chinastudien der Rigaer Stradins-Universität und das Asien-Programm am Lettischen Institut für Internationale Angelegenheiten.

 

Dr. Tim Rühlig ist Senior Research Fellow im Zentrum für Geopolitik, Geoökonomie und Technologie der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).