Fratze im Spiegel
Zur Diskussion um die Relegitimierung der Folter
Eigentlich sollte es in Deutschland keine Debatte über Folter geben, denn es gibt darüber nichts zu
diskutieren, so der Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Folter ist und bleibt
unter allen Umständen verboten und jede Abweichung von diesem Verbot stellt einen Zivilisationsbruch
dar. Wenn man Ausnahmen zulasse, so der Autor, werde der Rechtsstaat und damit die
moderne westliche Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert.
Im Jahre 1958 veröffentlichte der französische Journalist Henri Alleg ein Buch über seine Inhaftierung und Folterung durch Soldaten der französischen 10. Division unter General Jacques Massu in einem Folterzentrum in einem Vorort von Algier.
Man wusste es, doch erst nach Allegs Buch konnte das Wissen nicht mehr geleugnet werden. Sein Buch und Sartres Vorwort konfrontierten Frankreich mit sich selbst: „Und als wir endlich den Kopf hoben, sahen wir im Spiegel ein fremdes, ein hassenswertes Gesicht: unser eigenes.“ Auch auf den Bildern aus den Zellen von Abu Ghraib sehen wir unser eigenes Gesicht. Wer wir sind, erfahren wir aus dem, was wir aus anderen gemacht haben. Susan Sontag hatte Recht, als sie in der Ausgabe vom 23. Mai 2004 der New York Times schrieb: „Diese Fotos, das sind wir.“ Damit reklamierte die NYT als amerikanische Zeitung nicht nur eine gemeinsame politische Verantwortung für das, was in Irak geschieht, sondern sie verstand sich auch – zu Recht – als Dokument unserer gemeinsamen Kultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
Unterschiedliche politische Optionen, wie immer man sie sonst bewerten mag, spielen dabei keine Rolle. In Deutschland hat die Tatsache der systematischen Anwendung von Folter durch amerikanische Truppen in Irak zwar weithin Abscheu ausgelöst (wie in den USA übrigens auch), aber gleichzeitig auch eine Diskussion in Gang gesetzt, die die Unabdingbarkeit des Verbots der Folter in Frage stellt. Man ist sich einig, Folter scheußlich zu finden, aber viele geben zu bedenken, ob das Scheußliche nicht unter Umständen akzeptabel sein könnte. Und nahezu alle meinen, man müsse das diskutieren. Ich beteilige mich an der Diskussion und meine, dass das der Begründung bedarf.
Am 13. April 2004 hatte Jeffrey Gedmin, der Direktor des Berliner Aspen-Instituts, in der Welt einen Kommentar veröffentlicht, in dem er die Proteste gegen das Internierungslager Guantánamo zum Anlass genommen hatte, sich für einen flexiblen Umgang mit der Rechtsnorm des Folterverbots oder doch wenigstens für eine Öffnung der Debatte darüber auszusprechen. Ich habe ihm in der Ausgabe vom 21. April darauf geantwortet. Es ging mir darum, eine der in regelmäßigen Abständen als unkonventionell-mutiger Tabubruch daherkommenden Fahrlässigkeiten zurückzuweisen. Die Fotos aus Abu Ghraib erschienen wenig später. Sie haben die Diskussion nicht beendet, sondern weiter angefacht.
Wer sich an einer Debatte beteiligt, trägt dazu bei, ihren Gegenstand weiterhin diskussionswürdig zu machen. Wer sich einer Debatte verweigert, setzt sich dem Vorwurf aus, etwas zu tabuisieren. Der Vorwurf wäre so schlimm nicht – allerdings ist das Thema, wenn es erhoben wird, meist schon enttabuisiert worden. Man kann es nicht per Akklamation wieder auf die Agenda setzen. Es nützt auch nichts, die Angelegenheit als bloße Verirrung einiger Wirrköpfe abzutun. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: Europa und Amerika haben das Bekanntwerden der Folterungen in Irak zum Anlass genommen, über die Legitimität der Folter zu diskutieren.
Der Vorgang ist nicht ohne Präzedenz. Als die systematische Anwendung der Folter durch das französische Militär in Algerien einen Skandal auslöste, trat General Massu dafür ein, die Folter unter bestimmten Bedingungen zu legalisieren. Er war damit nicht erfolgreich. Das bloße Eröffnen einer Debatte bestimmt noch lange nicht deren Ausgang. Wenigstens das.
Wer immer sich an Diskussionen von einiger Wichtigkeit beteiligt, sollte bedenken, was er wirklich zu ihr beitragen kann. Sich in den Chor jener einzureihen, die lauthals „Skandal!“ schreien, hat wenig Sinn. Von denen gibt es glücklicherweise genug. Unglücklicherweise wissen aber die wenigsten von ihnen, warum sie eigentlich „Skandal!“ rufen, und wenn sie in eine dieser Diskussionen geraten, in denen es um den sachlichen Austausch von Argumenten pro und kontra gehen soll, machen sie oft eine schlechte Figur. Aber auch diejenigen, die uns versichern, natürlich seien sie schockiert über Abu Ghraib, gewiss, und selbstverständlich gegen die Folter, das verstehe sich doch von selbst, aber dann alle Naivität, die sie mobilisieren können, aufbieten, um nach diesem obligatorischen Statement endlich einmal ganz vorurteilslos zu fragen, ob nicht unter gewissen Umständen, ganz gewissen Umständen, nicht wahr, möglicherweise doch … Auch diejenigen, so scheint mir, wissen oft nicht, was sie da reden.
Wer immer sich an Debatten beteiligt, sollte sich nicht einbilden, man habe auf ihn gewartet, um den anderen Beteiligten die Köpfe zurechtzurücken und ihnen zu erklären, wie man denken müsste, und vor allem, wie die anderen eigentlich dächten, ohne es selber so richtig zu wissen. Aber überall dort, wo etwas selbstverständlich ist, denkt keiner mehr darüber nach, sondern man reagiert nur noch, und zwar mehr oder weniger affektbetont. Und wenn dann das Selbstverständliche nicht mehr als selbstverständlich wahrgenommen wird, stellt sich das Wissen darüber, wie man denn eigentlich einmal dazu gekommen ist, nicht einfach wieder ein. Für die einen wird das bisher Selbstverständliche zum Vorurteil, das im Zweifelsfall zu überwinden ist; für die anderen wird das bisher Selbstverständliche etwas, das es um jeden Preis zu verteidigen gilt – doch verfügt man nicht mehr über das Wissen, das man bräuchte, um diese Anstrengung zu rechtfertigen.
Der gravierendste Fehler, der in der gegenwärtigen Diskussion unterläuft, ist der, die Frage nach dem Verbot der Folter für eine moralische Frage zu halten. Darum klingt es so plausibel, wenn der Fall des im Jahr 2002 entführten und ermordeten Bankierssohns Jakob von Metzler angeführt wird, dessen Leben, hätte er noch gelebt, hätte gerettet werden können, als man dem Entführer Folter androhte. Ist in einem solchen Fall, und in anderen Fällen, in denen das Leben Unschuldiger gegen eine abstrakte Norm oder das Schmerzempfinden eines Menschen steht, der es in der Hand hätte, diese Leben zu retten, nicht Folter erlaubt, mehr noch: geboten?
Es gibt keine materialen Normen, deren Geltung nicht in einem kasuistischen Disput in Frage gestellt werden könnte, und das ist der Grund, warum moderne Ethiken sich auf formale Normen stützen. Solche formalen Normen sind dazu da, ein kompetentes Abwägen materialer Normen zu gewährleisten, und da kann es immer vorkommen, dass es moralisch zulässig und sogar geboten sein kann, auch gegen einen bisher als unumstößlich geltenden moralischen Grundsatz zu verstoßen.
Aber das Verbot der Folter gehört nicht in den Bereich der Moralität, sondern in den der Sittlichkeit. Es geht nicht um Regeln für das Verhalten Einzelner und ihr Verhalten im Einzelfall, sondern um die Verfassung des Gemeinwesens. Es geht dabei nicht um die Frage, wie jemand in dieser oder jener Situation handeln soll oder nicht, sondern darum, welche Normen gelten sollen, damit wir die sein können, die wir sein wollen.
Warum hat – noch bin ich nicht genötigt zu schreiben: hatte – das Verbot der Folter einen so zentralen Stellenwert in unserem modernen Verständnis von Sittlichkeit, dass es zur Selbstverständlichkeit geworden ist, dass ein Verstoß dagegen zum selbstverständlichen Skandal wird und dass eine Diskussion über ihre mögliche Relegitimierung bisher eine Unmöglichkeit war? Deshalb, weil seine Suspendierung die Idee des Rechtsstaats in ihrer Substanz beschädigte, und es ist die Idee des Rechtsstaats, auf der unsere moderne westliche Kultur beruht. Rechtsstaat bedeutet, dass jede Maßnahme der Exekutive einer unabhängigen rechtlichen Überprüfung – und zwar auch in Gang gesetzt durch den Betroffenen – offen steht. Das ist eine rein formale Definition, und die Tradition, den Rechtsstaat formal zu definieren, sollte nicht verlassen werden. Aber die formale Bestimmung des Rechtsstaats hat materiale Äquivalente. Voraussetzung des Rechtsstaats ist die Idee des rechtsfähigen Subjekts. Der Rechtsstaat kann, etwa im Fall der Freiheitsstrafe, die Bewegungsfreiheit eines Bürgers extrem einschränken, aber er darf ihn nicht rechtlos machen. Er kann ihn zu bestimmten Arbeiten verpflichten, aber er darf ihn nicht versklaven. Er kann ihn vom Leben zum Tode befördern – die Todesstrafe ist mit dem Rechtsstaat vereinbar (nichtsdestotrotz eine Barbarei, aber das steht auf einem anderen Blatt). Doch die Folter ist es nicht, weil durch sie das Individuum in seiner Fähigkeit, ein Rechtssubjekt zu sein, angegriffen, ja im Extremfall als autonomes Individuum zerbrochen und zerstört wird.
Voraussetzung des Rechtsstaats ist die Rechtsfähigkeit seiner Bürger. Sie müssen das Recht und die Fähigkeit haben, seine Instrumente zu nutzen. Das setzt voraus, dass sie nicht Maßnahmen unterworfen werden, die diese Fähigkeit außer Kraft setzen oder zerstören. Die Folter zielt auf die totale Unterwerfung des Gefolterten. Der Rechtsstaat garantiert dem von seinen Maßnahmen Betroffenen stets ein Minimum an Widerstandsmöglichkeit. Er muss nicht kooperieren. Zwar kann er in gewissen Grenzen Vorteile gewinnen, wenn er es tut und wird in gewissen Grenzen Nachteile hinnehmen müssen, wenn er es nicht tut, aber er darf zur Kooperation nicht gezwungen werden. Er darf zum Beispiel nicht gezwungen werden, gegen sich oder jemand anderen auszusagen. Er kann sich möglicherweise strafbar machen, aber gezwungen werden darf er nicht. Und er muss immer die Möglichkeit haben, die Umstände, unter denen er eventuell kooperiert hat, einer nachträglichen Prüfung ihrer Rechtmäßigkeit zu unterziehen, und diese Rechtmäßigkeit ist immer dann nicht gegeben, wenn diese Umstände ihn als Rechtssubjekt ignoriert haben. All dies schließt die Anwendung der Folter aus.
Der Kampf gegen die Folter, ihre Delegitimierung bis hin zu ihrem Verbot gehören zur Entstehungsgeschichte des Rechtsstaats. Das Verbot der Folter gehört zum Kernbestand unserer modernen westlichen Zivilisation. Wann immer diese zusammenbrach, war das auch der Zusammenbruch des Rechtsstaats und mit ihm wurde die Folter wieder eingeführt, und wo die Folter zugelassen wurde, zerbrach der Rechtsstaat. Es ist die Idee des Rechtsstaats gewesen, die jede antitotalitäre Politik angetrieben hat, nicht die der Demokratie. Demokratie und Despotie (die der Mehrheit gegenüber der Minderheit) vertragen sich bekanntlich ganz gut. Nur die rechtsstaatliche Verfassung hindert die Demokratie daran, ebenso diktatorisch zu werden wie jede andere Regierungsform es werden könnte.
Der Begriff der Folter ist nicht ohne Grund in besonderer Weise imaginativ aufgeladen. Er ruft Zustände in Erinnerung, die durch den Rechtsstaat überwunden wurden, und wo die Folter geduldet wird, sieht es nicht zufällig wieder so aus, wie in den durch das Wort „Folter“ ausgelösten Fantasien. Wer mit dem Begriff Folter leichtfertig umgeht, setzt sich dem Verdacht aus, den Rechtsstaat und damit das, was unsere Zivilisation im Kern ausmacht, angreifen zu wollen.
Und, wann ist etwas Folter? Es ist erlaubt, Menschen bei Vernehmungen unter Druck zu setzen; das geschieht. Aber es hat eben eine Grenze. Wo verläuft die? Es ist nicht möglich, sie abstrakt zu bestimmen. Aber sie verläuft da, wo der Mensch so behandelt wird, dass seine Möglichkeit zu widersprechen, auf Zeit oder gar auf Dauer zerstört wird. Wo diese Grenze verläuft, mag immer wieder umstritten sein, und es gehört zum Wesen des Rechtsstaats, dass im Einzelfall von Gerichten beurteilt wird, ob sie überschritten worden ist.
Aber was ist mit den spektakulären Einzelfällen, die doch möglicherweise (moralisch) das Übertreten der rechtsstaatlichen Norm rechtfertigten? Wer meint, es sei moralisch erlaubt, gar geboten, diese Norm zu übertreten, tut dies aus Überzeugung. Diese individuelle Überzeugung mag man achten; es mag sogar derjenige, der nach solcher Überzeugung handelt, von manchen – oder von der Mehrheit – für einen Helden gehalten werden. Nur ändert das nichts daran, dass das Verbot der Folter keine Ausnahme zulässt, auch nicht im Falle desjenigen, der bereits einer Tat überführt ist. Das Verbot der Folter gehört zwar auch zu jenen Schutzrechten, die auch die Schuldigen schützen, weil nur so die Unschuldigen geschützt werden können. Aber das ist nicht alles. Das Verbot der Folter ist vor allem mit jenem Schutz deckungsgleich, den der Rechtsstaat als solcher gewährt, und steht nicht der einzelfallbezogenen Abwägung offen. Normen, deren Gültigkeit von dem Gutdünken einer Exekutive abhängen, sind generell außer Kraft gesetzt.
Gleichwohl: auch der Rechtsstaat kennt den außergesetzlichen Notstand. Nur taugt ein Szenario außergesetzlichen Notstands definitionsgemäß nicht dazu, die Änderung einer gesetzlichen Norm zu begründen. Wer mit der Beschwörung eines möglichen Ausnahmezustands begründen will, was Norm sein soll und was nicht, indem er den Ausnahmezustand als bloße Abweichung vom Normalfall definiert, treibt im besten Fall ein intellektuell und politisch fahrlässiges Spiel mit Worten und Begriffen. Aber auch im besten Fall arbeitet er an der Zerstörung unserer Zivilisation.
Die Diskussion um die mögliche Relegitimierung der Folter zeigt, dass die Fotos aus den Kellern von Abu Ghraib unser Spiegel sind. In dieser Weise kann das Gesicht unserer Zivilisation zur Fratze werden. Das Beispiel Algerien hat gezeigt, dass es dabei nicht bleiben muss. Beginnen wir mit dem Schluss der Diskussion darüber, ob wir der Fratze etwas abgewinnen könnten.
Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 95-100
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