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01. Juni 2004

Fratze im Spiegel

Zur Diskussion um die Relegitimierung der Folter

Eigentlich sollte es in Deutschland keine Debatte über Folter geben, denn es gibt darüber nichts zu
diskutieren, so der Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Folter ist und bleibt
unter allen Umständen verboten und jede Abweichung von diesem Verbot stellt einen Zivilisationsbruch
dar. Wenn man Ausnahmen zulasse, so der Autor, werde der Rechtsstaat und damit die
moderne westliche Zivilisation in ihren Grundfesten erschüttert.

Im Jahre 1958 veröffentlichte der französische
Journalist Henri Alleg ein Buch über seine Inhaftierung
und Folterung durch Soldaten der französischen 10.
Division unter General Jacques Massu in einem Folterzentrum in
einem Vorort von Algier. Das Vorwort schrieb Jean-Paul Sartre,
und es begann mit diesen Worten: „1943 schrien in der Rue

Lauriston Franzosen vor Angst und Schmerz; ganz Frankreichhörte sie. Der Ausgang des Krieges war ungewiss, und wir
wollten nicht an die Zukunft denken; eines jedenfalls erschien
uns unmöglich: dass jemals in unserem Namen Menschen zum
Schreien gebracht werden könnten. (…) 1958 wird in
Algier regelmäßig und systematisch gefoltert; jeder
weiß es.“

Man wusste es, doch erst nach Allegs Buch konnte das Wissen
nicht mehr geleugnet werden. Sein Buch und Sartres Vorwort
konfrontierten Frankreich mit sich selbst: „Und als wir
endlich den Kopf hoben, sahen wir im Spiegel ein fremdes, ein
hassenswertes Gesicht: unser eigenes.“ Auch auf den
Bildern aus den Zellen von Abu Ghraib sehen wir unser eigenes
Gesicht. Wer wir sind, erfahren wir aus dem, was wir aus
anderen gemacht haben. Susan Sontag hatte Recht, als sie in der
Ausgabe vom 23. Mai 2004 der New York Times schrieb:
„Diese Fotos, das sind wir.“ Damit reklamierte die
NYT als amerikanische Zeitung nicht nur eine gemeinsame
politische Verantwortung für das, was in Irak geschieht,
sondern sie verstand sich auch – zu Recht – als
Dokument unserer gemeinsamen Kultur zu Beginn des 21.
Jahrhunderts.

Unterschiedliche politische Optionen, wie immer man sie
sonst bewerten mag, spielen dabei keine Rolle. In Deutschland
hat die Tatsache der systematischen Anwendung von Folter durch
amerikanische Truppen in Irak zwar weithin Abscheu
ausgelöst (wie in den USA übrigens auch), aber
gleichzeitig auch eine Diskussion in Gang gesetzt, die die
Unabdingbarkeit des Verbots der Folter in Frage stellt. Man ist
sich einig, Folter scheußlich zu finden, aber viele geben
zu bedenken, ob das Scheußliche nicht unter
Umständen akzeptabel sein könnte. Und nahezu alle
meinen, man müsse das diskutieren. Ich beteilige mich an
der Diskussion und meine, dass das der Begründung
bedarf.

Am 13. April 2004 hatte Jeffrey Gedmin, der Direktor des
Berliner Aspen-Instituts, in der Welt einen Kommentar
veröffentlicht, in dem er die Proteste gegen das
Internierungslager Guantánamo zum Anlass genommen hatte,
sich für einen flexiblen Umgang mit der Rechtsnorm des
Folterverbots oder doch wenigstens für eine Öffnung
der Debatte darüber auszusprechen. Ich habe ihm in der
Ausgabe vom 21. April darauf geantwortet. Es ging mir darum,
eine der in regelmäßigen Abständen als
unkonventionell-mutiger Tabubruch daherkommenden
Fahrlässigkeiten zurückzuweisen. Die Fotos aus Abu
Ghraib erschienen wenig später. Sie haben die Diskussion
nicht beendet, sondern weiter angefacht.

Wer sich an einer Debatte beteiligt, trägt dazu bei,
ihren Gegenstand weiterhin diskussionswürdig zu machen.
Wer sich einer Debatte verweigert, setzt sich dem Vorwurf aus,
etwas zu tabuisieren. Der Vorwurf wäre so schlimm nicht
– allerdings ist das Thema, wenn es erhoben wird, meist
schon enttabuisiert worden. Man kann es nicht per Akklamation
wieder auf die Agenda setzen. Es nützt auch nichts, die
Angelegenheit als bloße Verirrung einiger Wirrköpfe
abzutun. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen: Europa
und Amerika haben das Bekanntwerden der Folterungen in Irak zum
Anlass genommen, über die Legitimität der Folter zu
diskutieren.

Der Vorgang ist nicht ohne Präzedenz. Als die
systematische Anwendung der Folter durch das französische
Militär in Algerien einen Skandal auslöste, trat
General Massu dafür ein, die Folter unter bestimmten
Bedingungen zu legalisieren. Er war damit nicht erfolgreich.
Das bloße Eröffnen einer Debatte bestimmt noch lange
nicht deren Ausgang. Wenigstens das.

Wer immer sich an Diskussionen von einiger Wichtigkeit
beteiligt, sollte bedenken, was er wirklich zu ihr beitragen
kann. Sich in den Chor jener einzureihen, die lauthals
„Skandal!“ schreien, hat wenig Sinn. Von denen gibt
es glücklicherweise genug. Unglücklicherweise wissen
aber die wenigsten von ihnen, warum sie eigentlich
„Skandal!“ rufen, und wenn sie in eine dieser
Diskussionen geraten, in denen es um den sachlichen Austausch
von Argumenten pro und kontra gehen soll, machen sie oft eine
schlechte Figur. Aber auch diejenigen, die uns versichern,
natürlich seien sie schockiert über Abu Ghraib,
gewiss, und selbstverständlich gegen die Folter, das
verstehe sich doch von selbst, aber dann alle Naivität,
die sie mobilisieren können, aufbieten, um nach diesem
obligatorischen Statement endlich einmal ganz vorurteilslos zu
fragen, ob nicht unter gewissen Umständen, ganz gewissen
Umständen, nicht wahr, möglicherweise doch …
Auch diejenigen, so scheint mir, wissen oft nicht, was sie da
reden.

Wer immer sich an Debatten beteiligt, sollte sich nicht
einbilden, man habe auf ihn gewartet, um den anderen
Beteiligten die Köpfe zurechtzurücken und ihnen zu
erklären, wie man denken müsste, und vor allem, wie
die anderen eigentlich dächten, ohne es selber so richtig
zu wissen. Aber überall dort, wo etwas
selbstverständlich ist, denkt keiner mehr darüber
nach, sondern man reagiert nur noch, und zwar mehr oder weniger
affektbetont. Und wenn dann das Selbstverständliche nicht
mehr als selbstverständlich wahrgenommen wird, stellt sich
das Wissen darüber, wie man denn eigentlich einmal dazu
gekommen ist, nicht einfach wieder ein. Für die einen wird
das bisher Selbstverständliche zum Vorurteil, das im
Zweifelsfall zu überwinden ist; für die anderen wird
das bisher Selbstverständliche etwas, das es um jeden
Preis zu verteidigen gilt – doch verfügt man nicht
mehr über das Wissen, das man bräuchte, um diese
Anstrengung zu rechtfertigen.

Der gravierendste Fehler, der in der gegenwärtigen
Diskussion unterläuft, ist der, die Frage nach dem Verbot
der Folter für eine moralische Frage zu halten. Darum
klingt es so plausibel, wenn der Fall des im Jahr 2002
entführten und ermordeten Bankierssohns Jakob von Metzler
angeführt wird, dessen Leben, hätte er noch gelebt,
hätte gerettet werden können, als man dem
Entführer Folter androhte. Ist in einem solchen Fall, und
in anderen Fällen, in denen das Leben Unschuldiger gegen
eine abstrakte Norm oder das Schmerzempfinden eines Menschen
steht, der es in der Hand hätte, diese Leben zu retten,
nicht Folter erlaubt, mehr noch: geboten?

Es gibt keine materialen Normen, deren Geltung nicht in
einem kasuistischen Disput in Frage gestellt werden
könnte, und das ist der Grund, warum moderne Ethiken sich
auf formale Normen stützen. Solche formalen Normen sind
dazu da, ein kompetentes Abwägen materialer Normen zu
gewährleisten, und da kann es immer vorkommen, dass es
moralisch zulässig und sogar geboten sein kann, auch gegen
einen bisher als unumstößlich geltenden moralischen
Grundsatz zu verstoßen.

Aber das Verbot der Folter gehört nicht in den Bereich
der Moralität, sondern in den der Sittlichkeit. Es geht
nicht um Regeln für das Verhalten Einzelner und ihr
Verhalten im Einzelfall, sondern um die Verfassung des
Gemeinwesens. Es geht dabei nicht um die Frage, wie jemand in
dieser oder jener Situation handeln soll oder nicht, sondern
darum, welche Normen gelten sollen, damit wir die sein
können, die wir sein wollen.

Warum hat – noch bin ich nicht genötigt zu
schreiben: hatte – das Verbot der Folter einen so
zentralen Stellenwert in unserem modernen Verständnis von
Sittlichkeit, dass es zur Selbstverständlichkeit geworden
ist, dass ein Verstoß dagegen zum
selbstverständlichen Skandal wird und dass eine Diskussion
über ihre mögliche Relegitimierung bisher eine
Unmöglichkeit war? Deshalb, weil seine Suspendierung die
Idee des Rechtsstaats in ihrer Substanz beschädigte, und
es ist die Idee des Rechtsstaats, auf der unsere moderne
westliche Kultur beruht. Rechtsstaat bedeutet, dass jede
Maßnahme der Exekutive einer unabhängigen
rechtlichen Überprüfung – und zwar auch in Gang
gesetzt durch den Betroffenen – offen steht. Das ist eine
rein formale Definition, und die Tradition, den Rechtsstaat
formal zu definieren, sollte nicht verlassen werden. Aber die
formale Bestimmung des Rechtsstaats hat materiale
Äquivalente. Voraussetzung des Rechtsstaats ist die Idee
des rechtsfähigen Subjekts. Der Rechtsstaat kann, etwa im
Fall der Freiheitsstrafe, die Bewegungsfreiheit eines
Bürgers extrem einschränken, aber er darf ihn nicht
rechtlos machen. Er kann ihn zu bestimmten Arbeiten
verpflichten, aber er darf ihn nicht versklaven. Er kann ihn
vom Leben zum Tode befördern – die Todesstrafe ist
mit dem Rechtsstaat vereinbar (nichtsdestotrotz eine Barbarei,
aber das steht auf einem anderen Blatt). Doch die Folter ist es
nicht, weil durch sie das Individuum in seiner Fähigkeit,
ein Rechtssubjekt zu sein, angegriffen, ja im Extremfall als
autonomes Individuum zerbrochen und zerstört wird.

Voraussetzung des Rechtsstaats ist die Rechtsfähigkeit
seiner Bürger. Sie müssen das Recht und die
Fähigkeit haben, seine Instrumente zu nutzen. Das setzt
voraus, dass sie nicht Maßnahmen unterworfen werden, die
diese Fähigkeit außer Kraft setzen oder
zerstören. Die Folter zielt auf die totale Unterwerfung
des Gefolterten. Der Rechtsstaat garantiert dem von seinen
Maßnahmen Betroffenen stets ein Minimum an
Widerstandsmöglichkeit. Er muss nicht kooperieren. Zwar
kann er in gewissen Grenzen Vorteile gewinnen, wenn er es tut
und wird in gewissen Grenzen Nachteile hinnehmen müssen,
wenn er es nicht tut, aber er darf zur Kooperation nicht
gezwungen werden. Er darf zum Beispiel nicht gezwungen werden,
gegen sich oder jemand anderen auszusagen. Er kann sich
möglicherweise strafbar machen, aber gezwungen werden darf
er nicht. Und er muss immer die Möglichkeit haben, die
Umstände, unter denen er eventuell kooperiert hat, einer
nachträglichen Prüfung ihrer
Rechtmäßigkeit zu unterziehen, und diese
Rechtmäßigkeit ist immer dann nicht gegeben, wenn
diese Umstände ihn als Rechtssubjekt ignoriert haben. All
dies schließt die Anwendung der Folter aus.

Der Kampf gegen die Folter, ihre Delegitimierung bis hin zu
ihrem Verbot gehören zur Entstehungsgeschichte des
Rechtsstaats. Das Verbot der Folter gehört zum Kernbestand
unserer modernen westlichen Zivilisation. Wann immer diese
zusammenbrach, war das auch der Zusammenbruch des Rechtsstaats
und mit ihm wurde die Folter wieder eingeführt, und wo die
Folter zugelassen wurde, zerbrach der Rechtsstaat. Es ist die
Idee des Rechtsstaats gewesen, die jede antitotalitäre
Politik angetrieben hat, nicht die der Demokratie. Demokratie
und Despotie (die der Mehrheit gegenüber der Minderheit)
vertragen sich bekanntlich ganz gut. Nur die rechtsstaatliche
Verfassung hindert die Demokratie daran, ebenso diktatorisch zu
werden wie jede andere Regierungsform es werden
könnte.

Der Begriff der Folter ist nicht ohne Grund in besonderer
Weise imaginativ aufgeladen. Er ruft Zustände in
Erinnerung, die durch den Rechtsstaat überwunden wurden,
und wo die Folter geduldet wird, sieht es nicht zufällig
wieder so aus, wie in den durch das Wort „Folter“
ausgelösten Fantasien. Wer mit dem Begriff Folter
leichtfertig umgeht, setzt sich dem Verdacht aus, den
Rechtsstaat und damit das, was unsere Zivilisation im Kern
ausmacht, angreifen zu wollen.

Und, wann ist etwas Folter? Es ist erlaubt, Menschen bei
Vernehmungen unter Druck zu setzen; das geschieht. Aber es hat
eben eine Grenze. Wo verläuft die? Es ist nicht
möglich, sie abstrakt zu bestimmen. Aber sie verläuft
da, wo der Mensch so behandelt wird, dass seine
Möglichkeit zu widersprechen, auf Zeit oder gar auf Dauer
zerstört wird. Wo diese Grenze verläuft, mag immer
wieder umstritten sein, und es gehört zum Wesen des
Rechtsstaats, dass im Einzelfall von Gerichten beurteilt wird,
ob sie überschritten worden ist.

Aber was ist mit den spektakulären Einzelfällen,
die doch möglicherweise (moralisch) das Übertreten
der rechtsstaatlichen Norm rechtfertigten? Wer meint, es sei
moralisch erlaubt, gar geboten, diese Norm zu übertreten,
tut dies aus Überzeugung. Diese individuelle
Überzeugung mag man achten; es mag sogar derjenige, der
nach solcher Überzeugung handelt, von manchen – oder
von der Mehrheit – für einen Helden gehalten werden.
Nur ändert das nichts daran, dass das Verbot der Folter
keine Ausnahme zulässt, auch nicht im Falle desjenigen,
der bereits einer Tat überführt ist. Das Verbot der
Folter gehört zwar auch zu jenen Schutzrechten, die auch
die Schuldigen schützen, weil nur so die Unschuldigen
geschützt werden können. Aber das ist nicht alles.
Das Verbot der Folter ist vor allem mit jenem Schutz
deckungsgleich, den der Rechtsstaat als solcher gewährt,
und steht nicht der einzelfallbezogenen Abwägung offen.
Normen, deren Gültigkeit von dem Gutdünken einer
Exekutive abhängen, sind generell außer Kraft
gesetzt.

Gleichwohl: auch der Rechtsstaat kennt den
außergesetzlichen Notstand. Nur taugt ein Szenario
außergesetzlichen Notstands definitionsgemäß
nicht dazu, die Änderung einer gesetzlichen Norm zu
begründen. Wer mit der Beschwörung eines
möglichen Ausnahmezustands begründen will, was Norm
sein soll und was nicht, indem er den Ausnahmezustand als
bloße Abweichung vom Normalfall definiert, treibt im
besten Fall ein intellektuell und politisch fahrlässiges
Spiel mit Worten und Begriffen. Aber auch im besten Fall
arbeitet er an der Zerstörung unserer Zivilisation.

Die Diskussion um die mögliche Relegitimierung der
Folter zeigt, dass die Fotos aus den Kellern von Abu Ghraib
unser Spiegel sind. In dieser Weise kann das Gesicht unserer
Zivilisation zur Fratze werden. Das Beispiel Algerien hat
gezeigt, dass es dabei nicht bleiben muss. Beginnen wir mit dem
Schluss der Diskussion darüber, ob wir der Fratze etwas
abgewinnen könnten.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 95-100

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