Foresight: Eine Anleitung
Regieren ist ein Versprechen, die Zukunft besser zu gestalten als die Gegenwart. Außen- und sicherheitspolitische Vorausschau erfordert die Anwendung eines Methodenmix. Es geht nicht um Hellseherei, sondern um ein Fachkönnen: die größtmögliche Annäherung an die Wirklichkeit. Wie geht das?
Politikerinnen und Politiker sind keine Wahrsager; sie haben keine Kristallkugel und kein Pendel – doch wenn sie (mal wieder) etwas nicht haben kommen sehen, werden sie gescholten und verhöhnt. Dass diejenigen, die ihnen Kurzsichtigkeit oder Inkompetenz vorwerfen, an „hindsight bias“ beziehungsweise einem Rückschaufehler leiden – einer kognitiven Verzerrung, die dazu führt, dass man im Nachhinein überschätzt, wie vorhersehbar ein Ereignis war –, wird meist übersehen.
Und tatsächlich scheint die Liste lang. Zuletzt die überraschend schnelle Übernahme Kabuls durch die Taliban, Anfang 2020 die Coronavirus-Pandemie, 2014 der Einmarsch Russlands in die Ukraine, 2010 der Arabische Frühling, 2008 die Finanzkrise oder die Terroranschläge vom 11. September 2001 – nichts davon wurde angemessen vorhergesehen. Dies schafft deshalb ein Problem, weil Politik per definitionem ein Geschäft mit der Zukunft ist: Parteien entwerfen Visionen einer Gesellschaft, und Gesetzentwürfe und Reformen basieren auf der Annahme, dass sie bestimmte Konsequenzen haben werden. Regieren ist ein Versprechen, die Zukunft besser zu gestalten als die Gegenwart. Sie falsch einzuschätzen, wirft daher direkt Fragen zur Zukunftskompetenz auf.
Dabei ist diese im Gegensatz zur Hellseherei der griechischen Mythologie nicht in erster Linie ein gottgegebenes Talent, sondern eine Fertigkeit, ein Fachkönnen, das sich mit den richtigen Methoden verbessern lässt. Und diese Methoden fallen alle in die Familie des Foresight.
Was kann Foresight?
Foresight wird gerne mit Vorhersagen verwechselt, dabei sind dies doch zwei sehr verschiedene Paar Schuhe. Vorhersagen machen konkrete und messbare Aussagen zur Zukunft – die Wettervorhersage zum Beispiel legt sich auf konkrete Aussagen fest, welches Wetter an welchem Ort zu welcher Zeit herrschen wird (90 Prozent richtig mit bis zu fünf Tagen Vorlauf), und Wirtschaftsinstitute publizieren Prognosen über die Entwicklung des Bruttosozialprodukts im nächsten Quartal (meist sind sie ca. 1 Prozent optimistischer als die Realität). Vorhersagen sind daher erstens begrenzt auf eine spezifische Entwicklung und zweitens immer untermauert mit Zahlen. Doch ohne Interpretation haben diese Vorhersagen keine Aussagekraft: Erst wenn sie in Kontexte eingebettet, mit anderen Trends zusammengelegt, ihre Konsequenzen durchdacht und geprüft wurden, ergibt sich das bestmögliche Ganze: nämlich ein approximatives Lagebild der Zukunft. Und genau dieser Prozess der Interpretation ist Foresight.
Ein solches Lagebild der Zukunft ist natürlich nie ein genaues Abbild der Zukunft, vor allem aus zwei Gründen: Zum einen ist Ungewissheit ein Hauptmerkmal unserer physischen Welt, wie uns das Heisenberg-Prinzip von 1927 lehrt. Werner Heisenberg widersprach darin den Wunschträumen des Mathematikers Pierre-Simon Laplace (1749–1827), der davon ausgegangen war, dass der technologische Fortschritt irgendwann die Zukunft komplett vorhersehbar machen würde.
Zum anderen gibt es nie nur eine Zukunft, sondern immer mehrere. Seit dem 17. Jahrhundert hat sich in Europa die Idee durchgesetzt, dass Menschen einen freien Willen haben und damit die Zukunft die Folge ihrer Handlungen ist. Das bedeutet, dass jederzeit so viele Zukünfte möglich sind, wie Handlungsoptionen existieren. Und genau dies ist die Aufgabe von Foresight: nicht wie eine Wahrsagerin eine Zukunft zu produzieren, sondern Entscheidungsträgern dabei helfen zu erkennen, welche Arten von Zukunft wahrscheinlich, möglich oder wünschenswert sind. (Das Orakel von Delphi war dementsprechend kein guter Foresighter: Es machte schwammige Aussagen, die nicht der Entscheidungsfindung dienten.)
Bevor Foresight angewendet werden kann, gilt es ein paar Dinge zu beachten. So liefert Foresight immer eine Antwort auf eine konkrete Fragestellung – und die Qualität der Antwort hängt von der Qualität der Frage ab. Eine qualitative Frage definiert zunächst einmal klar, wer der Fragesteller ist (die Bundesrepublik? ein Ministerium? die EU?), denn mit der Zukunft ist es wie mit der Zahnbürste: Jeder braucht seine eigene. Die eigenen Annahmen, Prioritäten, Gefahrenwahrnehmungen, Werte, Hoffnungen und Ängste müssen Teil des Prozesses sein. Auch muss der Zeithorizont der Frage klar definiert werden, denn Foresight ist sowohl weit- als auch kurzsichtig: Aussagen über die nächsten drei Monate zu treffen, ist ähnlich schwierig wie darüber, was in 20 Jahren sein wird. Im ersten Fall hat dies damit zu tun, dass die Datenlage auf so kurze Sicht zu dünn ist, und im zweiten Fall, dass zu viele Interdependenzen und Optionen existieren, um die Zukunft fassbar zu machen. Und schließlich geht es um die Problemstellung selbst: Ob weit gefasst (Welche Herausforderungen wird Europa sich bis 2030 stellen müssen?) oder eng (Wie schnell kann die Energiewende in Deutschland vollzogen werden?), entscheidend ist, dass die Frage mit einem „W“ beginnt, damit die Antwort nicht binär „ja“ oder „nein“ lauten kann.
Daneben müssen noch ein paar Grundsätze beachtet werden. Der erste ist, dass Geschichte nur in kleinen Dosen eingesetzt werden kann. Sie ist zwar die größte Kausalkettendatenbasis, die wir zur Verfügung haben, doch wir greifen intuitiv nur auf die Elemente zurück, die wir bereits kennen. Der Impuls ist weit verbreitet: Kabul wurde mit Saigon verglichen, der 11. September mit Pearl Harbor, der Arabische Frühling mit dem Zerfall der Sowjetunion und die Kuba-Krise mit dem Münchener Abkommen (worauf 1988 Ernest R. May und Richard Neustatt in Thinking in Time hingewiesen haben). Das ist deshalb ein Problem, weil das überraschende Element der Zukunft sich stets im Neuartigen versteckt – doch wer zu sehr auf historische Analogien schaut, glaubt, die Zukunft schon zu kennen. Dies verschließt Handlungsoptionen und vergrößert das Überraschungselement.
Eine andere Regel ist die der Diversität: Auch wenn die Zukunftsgestaltung meist als etwas Elitäres oder sogar Geheimes begriffen wird, ist sie doch genau dort am effektivsten, wo sie besonders vielfältig ist. Dies liegt daran, dass verschiedene Hintergründe stets verschiedene Blickwinkel mit sich bringen, und damit der tote Winkel verkleinert werden kann. Ein Beispiel hierfür ist ein Foresightbericht, den eine Expertengruppe der französischen Regierung 1969 vorlegte: Wenngleich dieser in weiten Teilen sehr korrekte Zukunftsaussagen enthielt, fehlten doch zwei entscheidende Elemente: Immigration und der Anstieg der Zahl weiblicher Arbeitnehmer. Schuld für dieses Übersehen war die Homogenität des Expertenkreises, an dem weder Frauen noch Migranten beteiligt waren.
Nicht zuletzt gilt es bei Foresight stets, seine eigene Befangenheit klar zu artikulieren. Unsere Sicht der Welt gründet bei uns allen auf unseren Erfahrungen und Überzeugungen. Dies ist nicht per se ein Problem, doch die Annahmen, die wir in unsere Sicht der Zukunft einfließen lassen, müssen deutlich benannt werden, damit auch klar ist, unter welchen Umständen sie revidiert werden müssen. Beispiele sind der „Status quo bias“ (die Gegenwart wird überbewertet), der Pessimismus (die Wahrscheinlichkeit des Negativen wird überbewertet) oder der Verknüpfungs-Fehlschluss („conjunction fallacy“), wenn Ereignisse, zu denen wir über mehr Details verfügen, als wahrscheinlicher eingeschätzt werden als solche, zu denen es weniger Details gibt.
Welche Methode wofür?
Wenngleich Foresight als Methode bezeichnet wird, ist es ein Überbegriff für verschiedene Methoden. Welche ausgewählt wird, hängt von drei Kriterien ab: wie weit eine Politikidee vorangeschritten ist, denn am Anfang wird der Zukunftstrichter noch weiter aufgemacht als später, wenn man womöglich schon weiß, wie das Endergebnis aussehen soll oder wie nicht; zweitens davon, wer Einfluss auf das Politikfeld hat – je größer der Einfluss, desto mehr gestalterische Handlungsoptionen werden sich ergeben („offensive“ oder, bei geringem Einfluss, „defensive foresight“); und davon, wie beständig ein Politikfeld ist: Je instabiler es ist, desto kürzer müssen die Zeithorizonte sein.
Dementsprechend ergeben sich grob vier Kategorien von Foresight-Methoden je nach Politikanliegen.
Potenziale verstehen: Hierbei stehen wir am Anfang einer Reise in die Zukunft: Wir möchten verstehen, in welche Richtungen sich ein Politikfeld entwickeln könnte. Hier besteht die Aufgabe von Foresight darin, in erster Linie Informationslücken zu schließen. Der Ansatz ist explorativ. Methoden, die hier angewandt werden, sind „horizon scanning“ (die offene Suche nach Trends, was sie ausgelöst hat und antreibt), die Suche nach „weak signals“ (dem schwachen ersten Indiz eines neuen Trends) sowie die Trendanalyse (die sich allerdings erst anbietet, wenn sich ein Trend schon über einen gewissen Zeitraum verfestigt hat). Politikfelder, für die sich diese ergebnisoffenen Methoden besonders eignen, sind solche, auf denen Veränderungen stabil und sichtbar sind, genug Daten vorhanden sind, um Entwicklungen zu interpretieren, und es eine Vielzahl von Akteuren gibt, zum Beispiel Technologie, Demografie, Umwelt oder Gesundheit.
Für Politikfelder, die schnelllebig sind und von den Entscheidungen kleiner Gruppen abhängen, wie der Außen- und Sicherheitspolitik, sind diese Methoden für sich genommen weniger passend. Da sie jedoch trichterförmig einen relativ breiten Raum eröffnen, innerhalb dessen die Zukunft stattfindet, werden sie auf diesen Politikfeldern gerne in Kombination mit anderen Methoden verwendet.
Lösungen entwickeln: Aufgabe der Politik ist es auch, Lösungen für Probleme zu entwickeln, die für die Gegenwart oder die Zukunft identifiziert wurden. Häufig werden Lösungen spontan entwickelt (meist aus einem intuitiven Kausalverständnis heraus), doch es ist nicht immer klar, welche tatsächlich die angemessenste ist. Foresight kann diese Lösungen in explorativen Szenarien testfahren. Dabei werden die vorgeschlagenen Lösungen in „Was wäre wenn?“-Konstrukte des Problems eingespeist und im größeren Kontext durchdacht. Dabei müssen zwingend andere Variablen mit ins Spiel gebracht werden, die die Lösung beeinflussen könnten. Ein Beispiel wäre ein Szenario, das die Effekte einer Entschuldung durchdenkt und dabei Variablen wie Wirtschaftswachstum oder politische Instabilität testet.
Diese Methode bietet sich besonders an, wenn der Einfluss auf das Problem groß ist, Entscheidungen unter datenarmen Umständen getroffen werden müssen und mehr als zwei Lösungen denkbar sind. Beispiele sind etwa die Entwicklungs- oder Wirtschaftspolitik.
Die Defensive stärken: Die Zukunft wird auch von anderen gestaltet, die außerhalb unseres Einflusses stehen. Dies bedeutet, dass wir meist ein unvollkommenes Lagebild haben und weder Wahrscheinlichkeit noch Ausmaß einer potenziell negativen Zukunft klar benennen können. Um sich hiervor zumindest zum Teil abzusichern, gibt es „defensive foresight:“ Methoden, die uns helfen, unsere Reaktionsmechanismen zu verbessern oder Effekte von Gefahren zu vermindern.
Die etablierteste Methode ist das disruptive Szenario: Im Gegensatz zum ergebnisoffenen explorativen Szenario wird gezielt nach Ereignissen gesucht, die problematisch für den Fragesteller sind. Diese sind meist überraschend, haben einen disproportionalen Effekt und sind schwierig vorauszusehen. Eine Methode, die hier in der Entwicklung ist, sind Hochrechnungen und Modellierungen mittels Massendaten und Künstlicher Intelligenz.
Doch je nach Politikfeld sind diese Modelle noch kein Ersatz für qualitative Szenarien: In der Konfliktvorhersage, zum Beispiel, können Modelle wie das Conflict Early Warning System der EU drei Monate vor einem Konflikt solide Aussagen zur Wahrscheinlichkeit machen. Weil jedoch die Kausalkette von Konflikten wissenschaftlich noch nicht sauber etabliert ist, ist oft nicht klar, was Entscheidungsträger tun sollen, um ihn abzuwenden. Im Fall Afghanistans hatte genau dieses System vier Szenarien errechnet, wobei das eingetretene das zweitwahrscheinlichste war.
Diese Methoden eignen sich besonders für Außenhandel, Außen- und Sicherheitspolitik, Naturkatastrophen und Epidemien. Da sie mit Wahrscheinlichkeiten operieren (einem komplexen Teilbereich der Mathematik), ist nicht immer klar, wie diese zu bewerten sind. Menschen tendieren zum Beispiel dazu, teure Maßnahmen gegen ein Ereignis von geringer Wahrscheinlichkeit nicht einzuleiten in der Annahme, dass es nicht eintreten wird.
Vision testen: Eine letzte Methode dient dazu, eine bereits existierende Zukunftsidee umzusetzen. Im „backcasting“ wird getestet, welche Herausforderungen und Hindernisse dieser Idee im Wege stehen. In einem nächsten Schritt können dann Mechanismen entwickelt werden, diese zu überwinden. Diese Methode funktioniert am besten in Politikfeldern, in denen der Einfluss des Fragestellers oder der Fragestellerin besonders groß ist und wenige Überraschungen zu erwarten sind. Ein Beispiel ist die Bildungspolitik.
Und schließlich: Nach dem Foresight ist vor dem Foresight. Eine Zukunft ist in dem Moment bereits veraltet, in dem sie formuliert wurde. Foresight muss also regelmäßig stattfinden, nicht nur in Extremsituationen. Institutionen wie der Bundesnachrichtendienst betreiben dies auch permanent, aber für viele andere ist Foresight eine Praxis, die nicht besonders weit in die Zukunft schaut oder unregelmäßig stattfindet.
Nicht zuletzt wird die Treffgenauigkeit von Foresight nur dann besser, wenn die eigenen Aussagen über die Zukunft regelmäßig überprüft und fehlerhafte Annahmen vorurteilsfrei untersucht werden. Nur wer seine Befangenheit und Wissenslücken erkennt, kann seine Zukunftskompetenz verbessern.
Dr. Florence Gaub ist stellvertretende Direktorin des European Union Institute for Security Studies (EUISS) in Paris.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 39-43