Fließende Grenzen
Über den Wandel von Populismus und Liberalismus in den USA, Deutschland und Israel
Eines der unerwarteten Ergebnisse der Corona-Krise ist ein gewisser Rückgang der Stärke des Populismus. Während populistische Staats- und Regierungschefs wie Donald Trump und Benjamin Netanjahu mit ihrer Reaktion auf die Krise gescheitert sind, haben doch viele liberale Regierungen ihre Überlegenheit unter Beweis stellen können. Der Liberalismus, den Carl Schmitt mangelnder Fähigkeiten im Umgang mit dem „Ausnahmezustand“ bezichtigte, hat eines bewiesen: In Krisenzeiten ermöglichen ordnungsgemäße Entscheidungsverfahren erfolgreiche Gefahrenbewältigung – gestützt auf objektive Experten statt auf die Begeisterung der Massen. Nun blicken die USA und Israel – „die auserwählten Völker“, wie der Soziologe Todd Gitlin sie bezeichnete – in einer Art historischen Ironie neiderfüllt auf das von Merkel regierte Deutschland.
Das Versagen der Populisten im Umgang mit Corona spiegelte sich im Sommer auch in den Umfragen. Trump hinkte Joe Biden, seinem Rivalen aus dem Establishment, hinterher. In Israel gab es massenhafte Demonstrationen gegen die Regierung Netanjahu, zum ersten Mal seit Jahren war er ernsthaft in seiner Macht bedroht. Israel und die USA befinden sich an einer schicksalhaften Weggabelung: Populismus oder Liberalismus, eine Fortsetzung der Disruption oder eine Rückkehr zu jenem Fundament, das die Weltordnung in den vergangenen Jahrzehnten getragen hat. Jedenfalls, so warnte der Historiker Samuel Moyn jüngst, ist die Hoffnung unbegründet, der Populismus werde einfach verschwinden. Diese Hoffnung geht davon aus, der Populismus sei eine Abweichung von der Weltordnung, eine fremde und rätselhafte Anomalie. Zutreffender wäre es, ihn als Teil dieser Weltordnung selbst zu betrachten.
Es ist verlockend, die Corona-Pandemie als Bestätigung gängiger Analysen der unterschiedlichen politischen Logik populistischer und liberaler Regime zu begreifen. So behaupten die Populisten, der Liberalismus ersetze die öffentliche Meinung durch Technokraten, die im Namen ökonomischer Effizienz regierten und den Wünschen des Volkes nicht entsprächen. Dagegen träten sie dafür ein, die Demokratie wieder dem Demos zuzuführen, mit mehr direkter Repräsentation der Massen. Die Liberalen andererseits befürworten indirekte Repräsentation. Sie legen den Akzent auf Dritte-Sektor-Organisationen, die den Schutz von Rechten garantieren, auf die Pflege von Expertise sowie auf ein starkes und apolitisches professionelles Beamtentum, das dem Staat stärker verpflichtet ist als der gewählten Regierung.
Indes sind die Grenzen zwischen Liberalismus und Populismus unklarer als gemeinhin angenommen. Schon in den 1920er Jahren hat eine Reihe deutscher Philosophen die Ansicht vertreten, das schmeichelhafte Selbstbild des Liberalismus – als rational und von der Stärke intellektueller, konsensorientierter Diskussionen überzeugt – sei unzutreffend. Die Tendenz des Liberalismus, einen Generalangriff auf seine Feinde zu erklären, sei im Kern der liberalen Logik verankert. Tatsächlich ist es eher der Populismus, der sich als optimistisches und naives System erweist, das unfähig ist, Krisen zu meistern. Außerdem sind die Unterschiede zwischen Liberalismus und Populismus nicht so tiefgreifend wie sie zunächst erscheinen. Nicht nur stehen beide Ideologien ähnlichen Fragen gegenüber – die Grenzen zwischen ihnen sind fließend.
Dieser Text konzentriert sich auf das Dreigespann aus Deutschland, den USA und Israel; er behandelt zwei Episoden zum Verhältnis zwischen Liberalismus und Populismus, die die Nähe oder wenigstens die Verbindung zwischen den zwei Ideologien illustrieren. Diese Schwerpunktsetzung soll Aufschluss geben über die zwischen Populismus und Liberalismus changierende Situation zwischen den drei Staaten; diese veranschaulicht das internationale Wesen des Populismus, der sich üblicherweise darin gefällt, als lokale und authentische Bewegung zu gelten. Tatsächlich ist offenkundig, dass der Populismus eine internationale Bewegung ist. Ohne den Austausch von Ideen und Menschen durch die Globalisierung – die er Tag und Nacht beschimpft – hätte der Populismus niemals entstehen können.
Der erste Teil des Artikels konzentriert sich auf den Moment, als Liberalismus und Populismus rivalisierende Bewegungen wurden, die aufeinander reagieren. Wie der Historiker Udi Greenberg dargestellt hat, ergibt sich diese Konfrontation keineswegs von selbst. Ihre Wurzeln müssen im Deutschland der Weimarer Republik gesucht werden – demselben Land, das heute als Retter des Liberalismus gilt, exportierten doch nach dem Zusammenbruch der Weimarer Republik im Exil lebende Philosophen diese Gegenüberstellung in die USA und später nach Israel. Der zweite Teil handelt von der gegenwärtigen Beziehung zwischen Liberalismus und Populismus in den USA und Israel. Darin werden Veränderungen in der israelischen Rechten, inspiriert und beeinflusst von Entwicklungen in Amerika, und ihre Entscheidung zugunsten einer populistischen statt einer liberal-konservativen Ausrichtung analysiert.
Das Weimarer Jahrhundert
In den letzten Jahren hat die Weimarer Republik die Vorstellungskraft politischer Theoretiker auf der ganzen Welt beansprucht, die behaupten, die Grundlagen unserer politischen Konfiguration seien aus Weimar hervorgegangen. In der Weimarer Republik experimentierte eine gespaltene, vom Ersten Weltkrieg traumatisierte Gesellschaft erstmals mit einer Massendemokratie. Oftmals wird Weimar als „Republik ohne Republikaner“ beschrieben; als Ort, an dem sich allerlei Radikale mit geteilter Verachtung für das liberaldemokratische System versammelten. Die Goldenen Zwanziger Weimars waren in erster Linie für ihren kulturellen Avantgardismus – in Literatur, Künsten und Philosophie – bekannt, der zur Geringschätzung der Bourgeoisie und dem als bourgeois abgestempelten parlamentarisch-liberalen System neigte.
Doch zieht Weimar in den letzten Jahren nicht nur als Wiege reaktionären oder populistischen Denkens Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch als wichtigster Schauplatz liberalen Denkens. Wie der Politikwissenschaftler Jens Hacke aufzeigte, war keine der Parteien der Koalition, die die Weimarer Republik gründete, von ihrer Zwangsehe begeistert – gerade dies sorgte letztlich dafür, dass intensiv darüber nachgedacht wurde, wie das Regime auch in Krisensituationen erhalten werden könnte. Insbesondere diente der Liberalismus als Barriere gegen die direkte Beteiligung der Massen. Die Massen wurden in Weimar als dynamische und undisziplinierte Kraft betrachtet, leicht zu manipulieren von Demagogen jeder politischen Couleur. Daher waren auch Juden in Weimar überproportional repräsentiert. Wie der Historiker Philipp Nielsen aufzeigte, unterstützten viele Juden, die sich vor dem Antisemitismus der Massen fürchteten, Spielarten elitärer und indirekter politischer Repräsentation und teils sogar die alte imperiale Ordnung. Dies war womöglich die früheste jüdische Version eines skeptischen Blickes auf den Populismus.
Die Machtübernahme der Nazis löste eine Massenemigration von mehr als 300 000 Personen aus Deutschland aus. Einige Sektoren in Deutschland, wie die akademische und kulturelle Welt, haben sich bis heute nicht vollständig von dieser Emigration erholt. Einer vorherrschenden Annahme – oder Hoffnung – zufolge sind Philosophen, die das Trauma der Emigration erlebt haben, Anhänger toleranter Ideologien. So wird in der zeitgenössischen kritischen Theorie die Idee des Exils der Idee der Souveränität gegenübergestellt; demnach deutet das Exil auf einen kritischen Blick auf die Macht des Staates hin. Die im Exil lebenden Philosophen Weimars taten aber just das Gegenteil. Sie schworen, das Trauma des Zusammenbruchs des Liberalismus werde sich nicht wiederholen, und suchten nach Wegen, um die Beteiligung der Massen zu verhindern.
Dies ist der Kontext des „Weimarer Jahrhunderts“ in den USA, wie Greenberg es definiert: der Versuch, eine liberale Demokratie zu gestalten, deren Überleben nicht von den Massen gefährdet wird. Die liberale Demokratie wurde im Kampf gegen Kräfte, die sie zerstören wollten, geformt. Der Politikwissenschaftler John Gunnell beschreibt dies als kulturelle Revolution, die von den deutschen Exilanten nach Amerika gebracht wurde. Während die Amerikaner zuvor in einem pragmatischen Geist davon ausgingen, die Demokratie zeichne sich gerade durch ihre moralische Indifferenz aus, versuchten diese Exilanten die Demokratie in metaphysischen Überlegungen zu verankern. Dies, so glaubten sie, sei der einzige Weg, sie vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Die liberale Demokratie setzte mithin ein manichäisches System voraus, in dem sie sich selbst mit dem Guten und ihre populistischen und kommunistischen Feinde mit dem Bösen identifizierte.
Demgemäß transformierte Weimar den Liberalismus von einer Anti- zu einer wehrhaften Ideologie, die sich vornehmlich gegen den Populismus richtete. Greenberg verortet die Erfindung der Idee der wehrhaften Demokratie, die Auswirkungen auf die USA, Deutschland und sogar Israel hatte, in diesem Kontext. Die exilierten Denker präsentierten die liberale Demokratie als eine Art Super-Ideologie, um das kommunistische Regime auszustechen, von dem sie sich existenziell bedroht fühlten. „Sie vertraten das anspruchsvolle Argument, dass die Demokratie das einzig legitime Regime sei; ein Regime mit dem Recht, seine Feinde gewaltsam zu zerschlagen“, schreibt Greenberg.
Weimar und Israel
Ein solcher Prozess fand nicht nur in den USA, sondern auch in Israel statt. Jahrelang galten deutsche Immigranten in Israel als Anhänger mittiger, liberaler Positionen. Jedoch brachten die liberalen Emigranten, wie der Historiker Nitzan Lebovic aufzeigte, eine beachtliche ideologische Militanz mit sich. Der Einfluss der Weimarer Philosophen war besonders im Obersten Gericht Israels deutlich erkennbar, in dem deutsche Emigranten stark vertreten waren. Das Oberste Gericht wurde zwar im Allgemeinen als Vertreter des Liberalismus betrachtet; doch war seine Interpretation liberaler Ideologie von traumatischen Erfahrungen und kämpferischem Geist geprägt. Das ist der Grund, warum beispielsweise das Gericht der Herrschaft des Militärregimes über die israelischen Araber bis 1966 zustimmte. Der israelische Liberalismus wurde somit auch als Regime gestaltet, das einer Beteiligung der Massen entgegenwirkt und gegen seine Feinde Krieg führt.
Die Gegenüberstellung von Liberalismus und Populismus stammt also aus Weimar und wurde nach Israel und in die USA exportiert. Dabei war die Angst der deutschen Exilanten vor dem Populismus nicht bloß theoretischer Natur, denn die Emigration aus Deutschland brachte jedenfalls potenziell auch deutsche Populisten nach Israel und in die USA.
Liberalismus und Populismus könnten daher fluide Konzepte sein, was die Fluktuation zwischen ihnen erst ermöglicht. Damit ist auch das verzerrte Selbstbild beider Anschauungen aufgezeigt. Im Gegensatz zu den Anschuldigungen des Populismus ist der Liberalismus keine Haltung, die naiven und optimistischen Fortschrittsideen folgt. Tatsächlich erweist sich der Liberalismus als eindeutig pessimistisches Konzept; er verfügt über einen kämpferischen Ansatz, der die Welt in Freund und Feind einteilt, und muss stets auf der Hut vor der Gefahr des eigenen Zusammenbruchs sein. Im Gegensatz zum Liberalismus ist vielmehr der Populismus ein optimistischer Ansatz, der große Naivität offenbart – dieselbe Naivität, vor der er den Liberalismus unermüdlich warnt. Der Populismus rühmt den Ausnahmezustand, doch verhindert sein dauerrevolutionäres Wesen einen effektiven Umgang mit Krisen – ein Phänomen, das der Jurist und Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel bereits in den 1930er Jahren diskutierte.
Kurz gesagt: Die Schwäche des Populismus als politisches System hat den wehrhaften Liberalismus, der die Vereinigten Staaten und Israel leitete, geformt. Weimar konfrontiert uns daher scheinbar mit einer schweren Entscheidung: wehrhafter Liberalismus oder naiver Populismus. Ist dies die Entscheidung, vor der heute die Demokratie steht?
Es ist schwierig, eine direkte Verbindung zwischen den Weimarer Exilanten und der heutigen populistischen Politik aufzuzeigen. Doch scheint es, als würden die Geister Weimars die gegenwärtige Politik in Amerika und Israel auf dreierlei Weise weiterhin heimsuchen. Erstens werden Populismus und Liberalismus bis heute als Gegensätze konstruiert und stehen sich frontal gegenüber. Zweitens stützen sich Amerikaner und Israelis eindeutig auf ein politisches Modell Weimars, wenn sie zu einem direkten und populistischen politischen Modus zurückkehren wollen. Und drittens handelt es sich beim Populismus mehr denn je um ein internationales Phänomen – eine ironische Tatsache für eine Bewegung, die den Kampf gegen Globalismus und Internationalismus verficht. Dies wird besonders durch Entwicklungen in der amerikanischen und israelischen Rechten deutlich.
Beginnen wir mit den USA. Es gibt amerikanische Populisten, die sich als Erben der politischen Theorie des Konservatismus betrachten. Die konservative Bewegung in den USA entwickelte sich entgegen ihren Behauptungen von angeblich langer Tradition im Wesentlichen nach dem Zweiten Weltkrieg, auch unter Mitwirkung deutscher Emigranten. Sie war zunächst einerseits mit einem Wiederaufleben des Christentums und andererseits mit einem ideologischen Draufgängertum verbunden, das versuchte, die amerikanischen Ideale angesichts des New Deal und der Gefahr des Kommunismus zu bewahren. In den 1960er und 1970er Jahren gab es als Teil dessen, was Jürgen Habermas als „Neue Rechte“ bezeichnete, eine zweite Welle des Konservatismus in den USA. Diese Welle war in erster Linie als Reaktion auf die kulturelle Revolution in den USA zu verstehen; aktivistischere und weniger elitäre Ansichten wurden vermehrt unterstützt.
Die Verbindung zwischen Konservativen und Populisten mag überraschend erscheinen. Seinem Wesen nach neigt der Konservatismus eher zu einem kulturellen Elitismus, der nicht zur Ignoranz der Trump-Regierung passt. Daher konnten sich Konservative jahrelang eher vorstellen, Allianzen mit verschiedenen Spielarten des klassischen Liberalismus zu schmieden als mit dem Populismus. Doch bei Lichte betrachtet können Konservative tatsächlich eine Gelegenheit im Populismus erblicken. Konservative etwa, die in der internationalen Arena auf Abschottung setzen, werden einen Populismus unterstützen, der die Grundlagen der Globalisierung zu unterminieren sucht. Konservative, die Eingriffe der Regierung verabscheuen, werden häufig die Schwächung staatlicher Institutionen durch Populisten begrüßen. Da sie die Idee der Freiheit vor dem Staat betonen, liegt es nahe, dass sie Formen von Gemeinschaft entwickeln, die sich gegen das Establishment richten – das ihnen als vom Volk entfremdet erscheint.
Stand zuvor eine qualifizierte Unterstützung des wehrhaften Liberalismus auf der Agenda der amerikanischen Konservativen, unterstützen sie heute den Populismus auf eine Art und Weise, bei der die Idee der Freiheit betont wird. Diese Tendenz lässt sich anhand anderer gegenwärtiger Erscheinungsformen der Fluidität zwischen Liberalismus und Populismus veranschaulichen: Es gibt einen Grund, warum die deutsche AfD als neoliberale Bewegung begann und warum Marine Le Pen die Invasion des Irak abgelehnt hat. Eindeutig liberale Positionen wie die Verdächtigung des Staates, das Meiden internationaler Interventionen und die Bevorzugung des freien Marktes gegenüber zentralisierten Institutionen – all dies kann schnell zu Populismus verkommen, der einen anderen Rahmen für dieselben Positionen bereithält. Mit genau diesen Entwicklungen hat die amerikanische Rechte zuletzt Erfahrungen gemacht.
Schauen wir auf Israel. Es ist leicht, die populistische Politik Netanjahus der Tatsache zuzuschreiben, dass er Korruptionsanklagen gegenübersteht. Doch ignoriert diese Interpretation den tiefgreifenden Wandel der israelischen Rechten in den vergangenen Jahren, der von Ereignissen in den USA inspiriert ist und seinen Höhepunkt im Übergang von Konservatismus zu Populismus erreichte. Netanjahu beobachtet die Ereignisse in den USA, wo er jahrelang lebte, in aller Regel sehr aufmerksam. Während seiner Amtszeit als Premierminister – der längsten in der Geschichte Israels – hat er sich selbst immer wieder angloamerikanischen Trends gemäß neu erfunden. Als junger Regierungschef unterstützte er in den 1990er Jahren den ökonomischen Liberalismus im Geiste Clintons und Blairs. Während Obamas Amtszeit wurde er zu einem sicherheitspolitischen Falken im Geiste der neokonservativen Bush-Regierung. Der Bienenstaat, der Netanjahu im vorangegangenen Jahrzehnt umgab, gehörte größtenteils zum amerikanischen neokonservativen Establishment.
In den letzten Jahren positioniert sich Netanjahu dagegen als eine Art Gegenstück zu Donald Trump. Seine militante Außenpolitik wurde durch Angriffe auf vermeintliche innere Feinde wie das Oberste Gericht und die israelische Linke ersetzt. Israel rechtfertigt die Besetzung nicht mehr im Sinne des ehemaligen Premierministers Jitzchak Schamirs oder der Arbeiterbewegung mit harten sicherheitspolitischen Gründen, sondern verwendet ultranationalistische Rhetorik, die die Macht der Nation betont. Dies ist der wichtigste Kontext für das Nationalstaatsgesetz, wie der israelisch-arabische Politikwissenschaftler Raef Zreik veranschaulichte. In einer wichtigen Analyse, die der israelische Essayist Assaf Sagiv kürzlich veröffentlichte, wurde die Verbindung zwischen dem Wandel der israelischen und der amerikanischen Rechten erklärt.
In den letzten Jahren haben konservative amerikanische Stiftungen wie der Tikvah Fund Versuche unternommen, mithilfe orthodoxer Stiftungen in Israel eine populistische Version rechter Identität zu verbreiten. Viele Führungspersonen der Siedlungsbewegung behaupten nun, während sie eigentlich schlicht eine militante und trumpistische Spielart der Ausgrenzung innerer, die Nation unterlaufender Feinde anbieten, sie seien konservativ. Diese Xenophobie wird von einer evangelistischen Lesart der jüdischen Heiligen Schriften gestützt, welche der jüdischen Vorherrschaft in den besetzten Gebieten Legitimität verleiht. Sagiv kontrastiert diesen populistisch-konservativen Ansatz mit einem authentischeren Konservatismus, der zu Pessimismus neigt und sich eines Bekenntnisses zu dauerhaften politischen Standpunkten enthält.
Der Wechsel zum Populismus rückt die israelische Rechte in die Nähe antisemitischer Symbole und einer Zusammenarbeit mit Antisemiten. In den letzten Jahren hat sich Israel mit der antiliberalen Visegrád-Gruppe gemein gemacht. Die israelische Regierung hat sogar mit einer antisemitischen Kampagne in Ungarn gegen George Soros kooperiert. Die ehemalige Justizministerin Ayelet Shaked, die eine tiefgreifende, die Unabhängigkeit des Justizsystems unterminierende Reform vorangetrieben hat, zögerte bei einer Wahlkampfveranstaltung im vergangenen Jahr nicht, ein Parfum namens „Faschismus“ zu mischen – sie behauptete, es rieche nicht so übel. Yair Netanyahu, der Sohn des Premierministers, vergleicht auf seinem beliebten Twitteraccount Linke mit Verrätern. Er tauchte kürzlich in AfD-Werbefilmen auf, die von der „jüdisch-christlichen Zivilisation“ handeln. Die politische Gewalt in Israel hat sich in letzter Zeit ebenfalls ihrem Wesen nach verändert. Sie geht nicht mehr von radikalen religiösen Gemeinschaften aus, sondern von einem Mob, der in der Manier von Fußballhooligans Teilnehmer von Anti-Netanjahu-Demonstrationen verprügelt.
Trotz des Einflusses der amerikanischen auf die israelische Rechte hat der israelische Populismus zwei einzigartige Merkmale. Erstens ermöglicht das Umlenken in eine populistische Richtung der Rechten eindeutig, eine aggressive Politik gegenüber den Palästinensern zu legitimieren. Nachdem sogar alteingesessene Verteidiger Israels als jüdischen und demokratischen Staat warnten, dass Israel mit Annexionen eine moralische Überlegenheit einbüßen würde, versuchen die Populisten Annexionen zu verteidigen, indem sie diese zu einem Teil eines übergreifenden Krieges der Zivilisationen erklären. Zweitens erfüllt die Ablehnung der Globalisierung ein existenzielles Bedürfnis Israels – denn wenn der Staat global wird, kann er nicht mehr jüdisch sein. Wie der Politikwissenschaftler Yaacov Yadgar schrieb, hängen „die souveränen Juden“ vom Jüdischsein ihres Nationalstaats ab, um jüdisch zu bleiben.
Zu einem gewissen Grad hängt Israels Schicksal tatsächlich am Projekt des Nationalstaats, das Populisten zu seinen begeistertsten Verteidigern zählt. Möglicherweise muss Israel, wenn es ein jüdischer Staat bleiben will, der letzte Nationalstaat der Welt und damit auch populistisch sein. Indes erfordert die Methode, mittels derer Israel dies erreichen möchte, die Übernahme der schlimmsten Elemente des amerikanischen Populismus und den Verlust jeglicher Verbindung zur jüdischen Tradition. Andererseits veranschaulicht dies erneut die Fluidität des Übergangs zwischen Liberalismus und Populismus: Wenn Netanjahu sich in seiner früheren Version als eindeutiger Vertreter des Neoliberalismus darstellen konnte, verfolgt er nun weiterhin dieselbe Politik, aber mit populistischen Mitteln – inspiriert von Amerika. Es wäre ein Fehler, dies allein seinem Zynismus zuzuschreiben.
Fazit: Wege im Wandel
Die Legitimitätskrise und die Frage nach der Legitimität der Demokratie insgesamt sind ein neues Phänomen der letzten 100 Jahre. Die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Populismus zeigt tiefgreifende Widersprüche der Massenpolitik auf; eine eindeutige Lösung dieser Auseinandersetzung kann es daher nicht geben. Moderne Politik gründet sich auf der Legitimierung durch das Volk, ist jedoch auf eine nationale Gemeinschaft beschränkt. Sie spricht im Namen der Menschenrechte, gewährt aus politischen Gründen jedoch nur Bürgerrechte. Sie setzt voraus, das ganze Staatsvolk zu repräsentieren, grenzt tatsächlich aber verschiedene Gruppen aus den politischen Entscheidungszentren aus. Sie spricht im Namen der Menschheit, doch sorgt sich um Macht.
Anzunehmen, Liberalismus und Populismus böten konträre Antworten auf diese grundlegenden Fragen, wäre jedoch ein Fehler. Es ist unzutreffend zu behaupten, der Liberalismus verstünde Politik als auf Vernunft gegründet, Interessen aushandelnd, Gerechtigkeit garantierend und als Versuch, den Universalismus zu verwirklichen, während für den Populismus die Politik willensbasiert, Identitäten verhandelnd, Begierden versprechend und auf Partikularität abzielend wäre. Der dreifache Fall von Deutschland, den USA und Israel macht deutlich, dass sowohl Liberalismus als auch Populismus verschiedene Versionen dieser Ansätze anbieten. Die Frage nach dem Politischen, so scheint es, wartet noch immer auf eine Antwort.
Itamar Ben-Ami ist Doktorand am Institut für Politikwissenschaft der Hebräischen Universität Jerusalem und Absolvent der ultraorthodoxen Jeschiwa-Welt. Seine Dissertation konzentriert sich auf kritische und theokratische Konzeptualisierungen des modernen souveränen Staates mit einem Fokus auf deutsch-jüdische Gelehrte in der Weimarer Republik. Forschungsinteressen: Geistesgeschichte, politische Theologie, Kritische Politische Theorie und Begriffsgeschichte.
Aus dem Englischen von Matthias Hempert
Internationale Politik Special 2, November 2020, S. 6-13