Fliegender Drache am Himmel
Was geschähe, wenn der Vatikan einen Chinesen zum Nachfolger von Papst Johannes Paul II. wählte?
Nirgendwo wächst die katholische Kirche so schnell wie in China. Das ideologisch verwüstete und im radikalen Umbruch befindliche Land sucht nach spirituellen Werten. Die Wahl eines polnischen Papstes beförderte den Zusammenbruch des Sozialismus. Ein chinesischer Papst als Nachfolger Johannes Paul II. würde die Welt noch heftiger erschüttern – deshalb sei ein faktengestütztes kleines Gedankenexperiment gestattet.
Schwere Wolken hängen seit Wochen über der Kuppel des Petersdoms. Plötzlich erhellt ein Blitz die Marmorbrüstung der Fassade. Es fängt zu regnen an. Dennoch strömen auch heute Morgen wieder tausende Besucher über den Petersplatz auf die Sperranlagen in den Kolonnaden zu, wo ihre Taschen vor dem Besuch des Doms von Scannern durchleuchtet werden. In der Basilika, bei den Putten mit den enormen Schenkeln, die an den ersten Säulen hinter dem Portal die Weihwasserbecken tragen, strömt eine Gruppe von Chinesen nicht nach rechts zur weltberühmten Pietà Michelangelos, sondern bestaunt, wie die Römer an dem Weihwasserbecken die Finger ihrer rechten Hand in das Wasser tauchen und im Weitergehen mit dieser Hand zur Stirn fahren, zur Brust, zur linken Schulter und zur rechten Schulter. Als das Becken für einen Moment verwaist ist, geht ein Mann mit kurzem grauen Haar vorsichtig vor und versucht, sich auf die gleiche Weise langsam zu zeichnen: kreuzweise nach oben, nach unten, nach links, nach rechts.
Das Weihwasserbecken, in das er die Hände taucht, um sich mit feuchten Fingerspitzen auf katholische Weise zu bekreuzigen, ruft in Rom hinter jeder Kirchentür die Erinnerung an die Taufe wach. An der Schwelle jedes Kirchenraums erinnert das Wasser an den Jordan, den die Israeliten durchquerten, bevor sie nach ihrer 40-jährigen Wüstenwanderung das Gelobte Land in Besitz nahmen: bevor sie die Neue Welt betraten. „Wo kommen Sie bitte her?“ frage ich einen der Pilger auf Englisch. „Aus China.“ „Taiwan oder Festland?“ Er schaut mich entrüstet an: „Es gibt nur ein China. Taiwan ist eine unserer Provinzen.“ Ist er katholisch? Er weiß nicht, was ich damit meine. Welche Religion er hat, versuche ich ihm zu helfen. „Religion?“, lacht er jetzt, bevor er schnell seiner Gruppe nachläuft, die nach vorne auf das Grab des Apostels Petrus zugeht. „Nichts. Keine. Gar nichts!“
Gestern Abend habe ich in den Nachrichten noch gelesen, dass in diesen Tagen im Reich der Mitte erstmals viele zu fragen begännen, wer und was das eigentlich ist: dieser alte Papst in Rom in seinen weißen Gewändern, um dessen Krankheit im Weltreich der Informationen soviel Aufhebens gemacht wird. Vor allem junge Chinesen sollen die Frage stellen. Nachrichten über die Gesundheit des Papstes seien auf vielen Informationsseiten im chinesischen Cyberspace zugänglich, sogar auf „Chinadaily“, der offiziellen Website der Regierung. Der Papst erhole sich gut, hieß es heute Morgen im Bulletin. Doch alle wissen: Eines Tages wird er sich nicht mehr erholen. Eines Tages wird er nicht mehr Sonntag für Sonntag da oben ans Fenster mit den Worten treten: Carissimi fratelli e sorelle! (Sehr geliebte Brüder und Schwestern!). Darum ist dieses Jahr noch einmal besonders zum Jahr Johannes Paul II. geworden; in der allgemein öffentlichen Erfahrung seiner Vergänglichkeit mehr denn je. Vor den Augen aller Welt wächst ihm zu unserer Zeit auf dem Lehrstuhl des Leidens eine letzte Größe zu, die er sogar in den Heldenjahren seines weltbewegenden Pontifikats nicht gehabt hat. Er kann noch Jahre leben, doch nicht mehr ohne Leiden. Vor allen Augen gewiss ist jetzt nur, dass er sterblich ist. Eines Tages wird auch Johannes Paul II. einen Nachfolger haben – der dem Amt im letzten Vierteljahrhundert ein Gewicht und eine Aufmerksamkeit verschafft hat, die es noch nie zuvor in der Geschichte besessen hat.
Deshalb kreist, wenn er nur hustet, das Roulette der Spekulationen um seinen Nachfolger so hektisch. Doch neue Päpste sind immer Überraschungskandidaten. Das gehört zum Wesen des weißen Rauchs, der bei erfolgreicher Wahl aus dem Kamin der Sixtina in den römischen Himmel weht. Die Papstwahl unter Michelangelos Weltgericht in der Sixtinischen Kapelle muss man sich als das demokratischste Verfahren vorstellen, das die Welt kennt – in einem Kollegium erfahrener alter Männer, das nirgendwo seinesgleichen hat. Keiner kann über das Ergebnis im Voraus verfügen, keiner kann es manipulieren. Es gibt hier nicht zwei Parteien mit zwei Kandidaten, die in einem Wahl- und Ringkampf gegeneinander antreten. Und war die Wahl falsch oder zu ängstlich, macht ihnen vielleicht überhaupt der liebe Gott wieder einen Strich durch die Rechnung. Dann holt er den armen Kandidaten nach der Wahl vielleicht gleich wieder zu sich und die reiseunlustigen Kardinäle erneut nach Rom zusammen, wie er es schon bei dem so selig lächelnden Johannes Paul I. getan hat, nach dessen raschem Tod endlich der richtige Kandidat gewählt wurde. Bei Karol Woytilas Wahl tobte dann endlich Krakau und der Kreml zitterte, als er nur auf die Empore über dem Hauptportal des Petersdoms ins Freie trat.
Schon daher ist auf keinen einzigen Vatikanastrologen in der Frage Verlass, wer Johannes Paul II. nachfolgen wird. Sicher wird auch der Nachfolger eine Überraschung sein. Doch ich könnte mein Ohr noch so dicht an die Tapetentüren des Vatikans pressen: Der Mann ist im Voraus nicht zu erfahren. Die folgenden Überlegungen wollen sich deshalb weder mit einem neuen Gerücht oder einer besonders originellen Variante an dem Spekulationskarussell beteiligen, sondern allein das Überraschungspotenzial einmal ausloten, das der nächsten Papstwahl für die ganze Welt per se wieder innewohnt. Es ist ein auf viele Fakten gestütztes kleines Gedankenexperiment, das für die denkbar kühnste Entscheidung der Kardinäle die historischen Möglichkeiten einmal ein wenig konjugieren soll, die sich daraus für den Rest der Welt ergeben könnten.
Ein Papst für ein verwüstetes Land
Nehmen wir nämlich als Messschnur jene Überraschung, die die Wahl Kardinal Woytilas im Jahr 1978 war, dann wird für die globalisierte Welt und Kirche in einer womöglich ähnlichen Wende bei der nächsten Wahl kein Italiener oder Deutscher oder Mexikaner Nachfolger Petri werden, sondern ein Chinese. Das mag absurd klingen. Denn neben muslimischen Ländern wie Saudi-Arabien ist derzeit China das wohl unchristlichste Land, das sich denken lässt. Es ist ein ideologisch verwüsteter Planet, auf dem gerade der Markt die absolute Herrschaft an sich reißt. Sklaverei ist weit verbreitet. Bei Bergwerken, Fabriken, Ziegeleien und Großbaustellen sind regelrechte Lager für Wanderarbeiter entstanden, auf die oft folgende Karriere wartet: Erst Arbeit ohne Anstellung, dann Schuldknechtschaft, schließlich Kasernierung unter Bewachung. Versklavte Mädchen und Frauen dienen als Prostituierte oder werden an Ehemänner verkauft. Der akute Frauenmangel ist nur eine mörderische Konsequenz von Pekings Ein-Kind-Politik, die Deng Xiaoping einführte. Die ersten Opfer dieser Politik sind jedoch neugeborene Mädchen, die vielfach von aktiver oder fahrlässiger Tötung bedroht sind. Chinesen wollen Söhne, wenn sie schon nur ein Kind haben dürfen. Ein Bevölkerungsgesetz von 2002 schränkt die Zahl der Kinder massiv ein. Es berechtigt verheiratete Paare, ein Kind zu haben, und gestattet bestimmten Paaren, nach einer Frist von Jahren um die Erlaubnis zu ersuchen, ein zweites Kind zu bekommen. Wird ein „nicht genehmigtes“ Kind erwartet, sind „soziale Entschädigungszahlungen“ fällig, manchmal in der zehnfachen Höhe eines Jahreseinkommens. Millionen Kinder beiderlei Geschlechts werden jährlich abgetrieben. Nach einem Menschenrechtsbericht des US-State-Departments stehen Zwangsabtreibungen und Zwangssterilisationen nach wie vor auf der Tagesordnung.
Christliche Missionare dürfen nach China nicht einreisen – wo die Geschichte der Mission ohnehin auf eine außergewöhnliche Geschichte der Erfolglosigkeit zurückblickt, trotz spektakulärer Figuren wie Matteo Ricci oder Richard Wilhelm. Die alte konfuzianische chinesische Kultur begegnete dem christlichen Glauben an einen persönlichen Gott die längste Zeit der Geschichte grosso modo mit herzlichem Desinteresse. Das Prinzip der Partei ist atheistisch, die seit der Machtübernahme durch die Kommunisten 1949 zur alles beherrschenden Kraft und Macht des Staates geworden ist. Gottlosigkeit wurde zu einer Art Staatsreligion Chinas – obwohl auf dem Papier der Verfassung die freie Wahl der Religion garantiert sein soll. Vor allem aber ist Religion für die Partei immer noch das „Opium des Volkes“, vor dem die Untertanen vom fürsorglichen Staat entsprechend geschützt werden müssen.
Zum „Heiligen Stuhl“, wie sich der Vatikan im Konzert der Nationen nennt, unterhält China als eine der wenigen Nationen keine offiziellen Kontakte. Das kommunistische Albanien nahm sich bei seiner legendären Verfolgung der Christen das große China zum Vorbild, wo sich die Bilanz der systematischen Unterdrückung der Christen in den letzten 50 Jahren kaum vor den traurigen Rekorden der Christenverfolgung im alten Rom unter Diokletian zu verstecken braucht. Die Zeitung „Avvenire“ berichtete in diesen Tagen, dass sich die Kirche in Rom und Hongkong mit Blick auf die Olympischen Spiele von Peking im Jahr 2008 in einer Kampagne für die Freilassung von 19 Bischöfen und 18 Priestern in China einsetzen wolle. „Diese Geistlichen sind alle Mitglieder der so genannten Untergrundkirche“, also jener romtreuen Katholiken, die die minutiöse und erdrückende Überwachung jeder religiösen Aktivität durch die Pekinger Regierung strikt und unter großen Opfern ablehnen. „Trotz internationalen Drucks hat die Regierung immer Stillschweigen über sie bewahrt, weshalb wir das Schlimmste befürchten“, schreibt der katholische Dienst „AsiaNews“. Weitere 13 Bischöfe stünden „de facto unter Hausarrest. Sie stehen ständig unter strenger Kontrolle und können weder ihren seelsorglichen Dienst öffentlich ausüben noch Besuch von Gläubigen und Priestern erhalten. Die meisten von ihnen sind ungefähr 80 Jahre alt. Ihr einziges „Verbrechen“ bestehe in ihrer Weigerung, sich der patriotischen Vereinigung anzuschließen, die die Regierung 1959 errichtet hat, um sie ganz und gar kontrollieren zu können. Die Liste verschwundener oder inhaftierter Geistlicher der letzten Jahrzehnte ist endlos.
Was ist die Seele des Westens, was Ursache seines Erfolgs?
Das ist eine der vielen Seiten des modernen Chinas. Der explodierende Verkehr, der hemmungslose Kapitalismus, der dramatische Durst nach Öl, Energie und Waffentechnik vom Weltmarkt, die aggressive Umweltzerstörung hat schon jetzt Folgen für die ganze Welt. Im Zeitalter der Globalisierung zerkrümelt vor den Heeren der chinesischen Billigstarbeiter und Lohndrücker die Architektur der sozialen Marktwirtschaft Europas zu Staub. „In der Weltgeschichte gab es bisher nichts Vergleichbares. Noch nie hat sich ein so großes Volk, ein so riesiges Land in einer solchen Geschwindigkeit auf seinen Weg in die Weltwirtschaft gemacht“, schreibt Wolfgang Hirn in seinem Buch über die „Herausforderung China“. Die Millionenstädte brechen in Großbaustellen in die Zukunft auf. In zehn Jahren, sagte Weltbank-Präsident James Wolfensohn in Rom, sei überhaupt Chinesisch und nicht mehr Englisch die erste Sprache im Internet. Das Wachstum Chinas ist Schwindel erregend.
Diesen Wandel werden allerdings auch die kommunistischen alten Mythen auf lange Zeit nicht mehr überleben können. Im ideologischen Gebälk des Riesen gibt es mehr als nur Risse. Auf dem 16. Kongress der kommunistischen Partei wurden 2002 die Reichen offiziell zur Führung des Landes eingeladen. Sie dürften, so Jiang Zemin, Präsident der Volksrepublik, in seiner langen Ansprache vor dem Kongress, nicht länger als Gegner der Arbeiterklasse betrachtet werden. Nicht mehr der Atheismus, die expandierende Wirtschaft ist mittlerweile zur neuen Staatsreligion geworden. Profit ist der neue Gott einer „materiellen Zivilisation“ geworden.
Von einem gewendeten Materialismus wird sich aber auch eine so große Kulturnation wie das reiche China nicht gefahrlos weit in das dritte Jahrtausend hineinsteuern lassen. Die ideologischen Konstrukte des 19. Jahrhunderts haben nach einer mörderischen Spur durch die Geschichte allesamt ihre Kraft verloren. In China aber hat die Kulturrevolution des Großen Vorsitzenden ein kulturelles Vakuum geschaffen, wie es in der Geschichte der Völker vielleicht noch nie gesehen wurde. Die intellektuellen wie spirituellen Ressourcen der chinesischen Tradition sollten – für den rechten Neuanfang – in einer beispiellosen Verheerung auf Null herunter gebrannt werden. Die Folgen dieses Menschheitsexperiments stehen den chinesischen Eliten durchaus vor Augen. Nach der Jahrtausendwende hätten müde gewordene evangelische Pastoren und ausgebrannte katholische Pfarrer deshalb im Berliner Europa-Kolleg mit heißen Ohren Wissenschaftlern eines nationalen chinesischen Think Tank lauschen können (vom Institut für Weltreligionen an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften in Peking), die als Antwort für ihre heimliche Preisfrage (What makes the west tick?) immer deutlicher die christliche Religion nicht nur als Seele, sondern auch als Urheber des Erfolgs der westlichen Zivilisation zu erkennen meinten. Beobachter sprachen von einem historischen Vorgang, den der Münchner Dogmatiker Peter Neuner mit der Hellenisierung des Christentums in der Spätantike verglich und der chinesische Theologe Edmond Tang (von der Birmingham University) mit der Sinisierung des Buddhismus in der Tang-Dynastie. Steht nun auch der christliche Glauben vor einer Sinisierung? fragte damals Mark Siemons in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sicherlich nicht allein durch die Forschungen und Bemühungen einiger Fachgelehrter.
Die rund zwölf Millionen chinesischen Katholiken bilden knapp ein Prozent der Gesamtbevölkerung von rund 1,3 Milliarden Menschen. Zwölf Millionen Protestanten kommen dazu. In der Region Shaanxi bekennen sich etwa 70 Prozent zum katholischen Glauben. Die besondere Nachricht ist jedoch, dass die Katholiken Chinas in aller Bedrängung die am schnellsten wachsende Kirche der Welt bilden. In letzter Zeit gebe es einen regelrechten „Bekehrungsboom“, sagt Pater Bernardo Cervellera in Rom, der lange in Hongkong als Journalist gearbeitet hat. „Etwa 100 000 Menschen lassen sich pro Jahr taufen. In den Jahren des Kommunismus hat sich die Anzahl der Katholiken vervierfacht. Doch während die Unternehmer freie Hand bei Investitionen, Produktion, Einstellungen und Entlassungen haben, werden die offiziellen Religionen streng kontrolliert. Die Partei duldet immer noch keine deutungsmächtige Größe neben sich. Durch Verhaftungen und Verurteilungen trifft die religiöse Verfolgung tausende von Katakombengläubigen. Vor allem aber demütigt sie Millionen Gläubige, weil die Partei sie immer noch als bedrohlich und feindlich betrachtet“. Trotz alledem steige die Zahl der Priesterberufungen – im Gegensatz zu der Kirche im freien Westen – unter jungen Leuten, obwohl sie genau wüssten, wie schwer es unter vielen Schikanen sei, den Glauben in China zu leben. Schon seit der „Kulturrevolution“ verzeichneten Priesterseminare und Ordenshäuser regen Zulauf. Darüber sei in den letzten Jahren auch die Grenze zwischen der Untergrundkirche und der offiziellen „patriotischen“ Kirche immer fließender geworden – da sie in der verwirrenden Lage inzwischen fast ähnlich verfolgt würde, obwohl sie doch schon vom Staat kontrolliert werde. Besonders seit der Heiligsprechung chinesischer Märtyrer im Oktober 2000 in Rom werde dieser Prozess immer deutlicher. Die patriotische und die romtreue Kirche im Untergrund wachsen seitdem immer mehr zu einer einzigen Kirche zusammen.
Der Partei muss bei diesem Prozess immer unheimlicher zu Mute sein. Den Funktionären bleibt das große Interesse Jugendlicher, Intellektueller und Unternehmer am katholischen Glauben nicht verborgen. „Diese Menschen fragen sich, welchen Sinn der eigene Reichtum hat und all die Arbeit, deren Sklaven sie sind. Sie fragen sich nach der Grundlage der Gesellschaft mit ihren überholten Ideologien und diesem völlig enthemmten wilden Kapitalismus, der Familien spaltet und die letzten alten Werte zerstört. Der Pater lächelt: „Es ist eine Zeit der großen Krise. Nirgendwo auf der Welt wächst die Kirche so schnell wie in China!“
Andere Beobachter in Rom sprechen derzeitig vorsichtig von Tauwetter zwischen dem Vatikan und der Volksrepublik China. Der französische Kurienkardinal Roger Etchegaray hat kürzlich ein Buch mit dem Titel vorgelegt: „Zu den Christen Chinas“. Alle Bücher, alle Analysen, alle Signale und Kampagnen aber würden in dieser Situation schier überwältigt, wenn nach dem nächsten Konklave ein Mann aus China über die Brüstung und so auf die Welt und nach China schauen würde, wie Karol Woytila nach seiner Wahl 1978 auf die Welt und nach Polen zurück geblickt hat, dem „fernen Land“, aus dem er kam. Im noch ferneren „Land der Mitte“ würden nach der Wahl eines Chinesen viele Dämme brechen.
Ein Kandidat im Herzen – und die Welt risse sich aus der Verankerung
Es bleibt nur ein Problem bei diesem Gedankenspiel: Es gibt zurzeit keinen passenden Kardinal aus China. Kardinal Wu aus Hongkong ist 2002 gestorben. Eine Wahl des Kardinals Paul Shan Kuo-shi zum Papst, des Bischofs von Kaohsiung in Taiwan, würde die Verhärtung zwischen der Insel und dem Festland verheerend explosiv aufladen. Doch als im September 2003 Papst Johannes Paul II. 30 neue Kardinäle in den Senat der Weltkirche berief, verkündete er am Schluss auch noch einen 31. Kardinal „in pectore“, das heißt mit einer geheimen Namensnennung („nur in seiner Brust“), um den Kandidaten zu schützen. Seit eben jenen Tagen wollen die Gerüchte in Rom nicht mehr verstummen, dass es sich bei diesem 31. Kardinal um Joseph Zen Ze-Kiun, den Bischof von Hongkong handeln soll, den der Papst mit dem Inkognito vor Repressalien aus Peking schützen wollte. Denn der zart wirkende höfliche Mann hat sich seit 2002 in kürzester Zeit einen Namen als mutiger Anwalt der demokratischen und religiösen Freiheiten des alten Freihafens gemacht. Besonders scharf kritisierte er das neue „Antisubversionsgesetz“, das die Verbindung zur Untergrundkirche in der Volksrepublik einengen sollte. Peking hat dem Bischof danach gleich Einreiseverbot erteilt. Joseph Zen Ze-Kiun wurde 1932 in Shanghai geboren, ist ein ehemaliger Salesianerpater und steht seit Oktober 2002 der Diözese Hongkong vor.
Nehmen wir nun einmal an: Joseph Zen Ze-Kiun ist dieser geheime Kardinal. Nehmen wir weiter an, der Papst eröffnet dies dem Kardinalskollegium im nächsten Konsistorium, und nehmen wir danach an, die Kardinäle würden ihn mit kardinaler Kühnheit in einer epochalen Entscheidung zum Nachfolger aller Nachfolger Petri wählen. Was dann? Lässt sich das durchrechnen? Zum Teil schon. Als erstes wäre das Einreiseverbot nach Peking gegenstandslos, weil ihn seine wichtigste Reise ja nach Rom geführt hätte. Die Welt wäre entzückt von seiner Aura – die Medien würden durchdrehen, nicht im pathologischen, sondern im rein technischen Sinn. Seit der Mondlandung käme kein Ereignis dieser neuen Nachricht gleich. Die Wahl eines Kandidaten aus einem Missionsland, wo die Kirche in der Minderheit ist, wird auch schlagartig die Rolle der Kirche und Christenheit insgesamt neu versinnbildlichen, die weltweit ja Minderheit ist. Und dann? China würde von einem einzigen Feuerwerk beregnet werden. Ein chinesischer Papst würde gerade auch im konfuzianischen China als „fliegender Drache am Himmel“ wahrgenommen werden. Und alle, alle der 1,3 Milliarden Menschen würden fragen: „Was ist das, ein Papst?“ Sie würden die Nachbarn bestürmen und die Suchmaschinen des Internets befragen. „Das Haupt der Weltkirche, die die globale Welt ‚Westen‘ hervorgebracht hat? Und er soll jetzt einer von uns sein?“ Viel anders könnte gar nicht gefragt und geantwortet werden. Jedes Land – ob Spanien, Mexiko, Argentinien (vielleicht mit Ausnahme Deutschlands) – wäre außer sich, wenn es den nächsten Papst stellen würde, doch nirgendwo müsste es solche Folgen haben wie im atheistischen China. „Kennst du die chinesische Atombombe?“ hieß in den fünfziger Jahren ein Witz in der alten Bundesrepublik. „Wenn Mao Tse Tung am Radio in die Hände klatscht und alle Chinesen auf einmal auf den Boden springen! Die Erde würde aus der Bahn geworfen von dem Aufprall!“ Ob das so ist, werden wir spätestens erfahren beim ersten chinesischen Papst. China würde auf und ab springen vor Stolz und Freude, sobald die Menschen begriffen hätten, was da im fernen Rom vor sich gegangen ist. Es heißt bis jetzt, die Intellektuellen Chinas hätten größte Schwierigkeiten, die Theologie des Christentums zu begreifen; schon die Sprache sei ihnen fast unzugänglich. Doch das Christentum war allen Kulturen zunächst wesensfremd, zu denen es kam: Es war den Griechen fremd, den Römern, den Germanen, den Slawen wie anderen Barbaren. Es ist keine Religion, die auf den Bäumen wächst. Ein chinesisches Sprichwort sagt aber auch: „Wer den Fisch hat, kann die Reuse vergessen!“ Und mit dem Papst hätte China plötzlich den größten Fisch der Christenheit in den Händen; er würde ihnen auch schon das Christentum begreiflich machen (als die Reuse, die diesen Schatz für sie eingefangen hat) – und zwar auf Chinesisch. Die morsche Partei würde erzittern wie ein tönerner Koloss. Das Erdbeben würde die Funktionäre noch mehr erbleichen lassen als die Funktionäre im Kreml bei der Wahl des Polen – und wahrscheinlich auch viele im State Department in Washington. Die Entscheidung in der Sixtinischen Kapelle würde die Gewichte der Erde mit einem einzigen Glockenschlag neu verteilen. Millionen Chinesen würden der Kirche die Türe einrennen, schon am ersten Tag nach der Wahl, und am Tag danach nicht weniger …
Das Papstamt kehrt zu seinen Ursprüngen zurück
Denn de facto gibt es zwei bedeutende Ereignisse der Weltgeschichte, die sich mit dieser – streng hypothetischen Wahl – vergleichen ließen: Das wäre einmal die Konstantinische Wende im Jahr 313 und zum anderen die rasend schnelle Bekehrung der Azteken Mexikos im Jahr 1581. Die Konstantinische Wende fand nur 20 Jahre nach der schärfsten Christenverfolgung des römischen Reiches unter Kaiser Diokletian statt, als dessen Nachfolger Konstantin die bis dahin streng verfolgte kleine Minderheit in einer sensationellen Wende in seinem Toleranzedikt von Mailand mit Privilegien und Vorzügen ausstattete, von denen die Verfolgten in ihren kühnsten Träumen nicht zu träumen gewagt hatten. Zeitgenossen kam es vor wie ein Wunder. Keine 80 Jahre später war das Christentum Staatsreligion des römischen Weltreichs. Die Konstantinische Wende hatte das Abendland begründet.
In Mexiko hingegen hatte kurz nach der spanischen Eroberung in aussichtslos trüber Situation die Erscheinung der Jungfrau von Guadalupe im Dezember 1531 vor einem Indio am Stadtrand der Hauptstadt dazu geführt, dass acht Millionen Azteken in die Kirche liefen, um sich taufen zu lassen – als sich in Europa gerade acht Millionen Christen von Rom nach Wittenberg wandten. Es war die entscheidende Kompassjustierung für den Kurs Amerikas durch die Geschichte (das ja auch noch nicht am Ziel ist). In China aber geht es nicht um acht Millionen – sondern um das Zusammenspiel der Milliarden dieser Erde. Alle Gewichte der Weltpolitik würden neu justiert werden müssen, wenn China plötzlich in einer letzten großen Christianisierung als Global Player in der Arena stände. Der Kampf der Kulturen bekäme eine ungeahnte Wendung, auch der Konflikt mit der islamischen Welt. Amerika bekäme ein ethisches Gegengewicht; es wäre das Ende der Alleinherrschaft Washingtons. Die einsame Entscheidung der alten Männer in Purpurrot würde ein dramatisches neues Kapitel der Weltgeschichte aufschlagen.
Die Kardinäle könnten alternativ auch einen Inder wählen, wie den ausgezeichnet dafür geeigneten Kardinal Ivan Dias aus Bombay. Auch dann wären die Folgen dramatisch, wenn auch anders. Dramatischer aber als bei einem chinesischen Papst könnten sie zurzeit nicht sein. Irgendwann wird es sowieso einmal dazu kommen, es könnte also auch beim nächsten Mal sein. In Asien käme das Papstamt wieder dahin zurück, wo es herstammt, seit Petrus von der Landbrücke des Riesenkontinents zu Afrika nach Rom aufbrach, wo sein Grab unter der Peterskuppel für Jahrhunderte zum Herzstück Europas wurde. Die europäischen Katholiken müssten deshalb zunächst einmal hinter sich greifen, wie man im Fußball sagt, wenn sie plötzlich einen Chinesen über dem Petersplatz den ersten Segen erteilen sähen. All die Verbandskatholiken, die Kirchensteuerkatholiken, die Gemeinderatskatholiken, die ganze ängstlich, scheu und zaghaft gewordene europäische Kirche würde auch sich selbst neu sehen lernen müssen, wenn sie plötzlich einen Mann aus einer verfolgten und bedrängten Minderheitenkirche über sich sähen, in der das Knien, Schreiten, Schweigen und Händefalten, die Andacht und Ehrfurcht vor dem Heiligen noch Selbstverständlichkeiten sind. Die Weltkirche würde sich noch einmal auf unglaubliche Weise verwandeln. Das politische und kulturelle Europa aber würde sich umsehen und die Augen reiben, wenn das kostbarste Amt und Erbe plötzlich von ihm genommen und weiter gegeben würde, das sie in den letzten tausend Jahren wie einen selbstverständlichen Erbhof für sich beansprucht und bespottet haben: das Amt des Papstes! Konstantin stand am Beginn des christlichen Abendlands. Ein chinesischer Papst würde das Zeitalter eines christlichen Morgenlandes einleiten.
Der prophetische Papst Johannes Paul II. hat es schon vor Jahren gesagt: „Das dritte Jahrtausend wird das Jahrtausend Asiens für die Kirche.“
Internationale Politik 4, April 2005, S. 70 - 77.