Finanziers ohne Fortune
Während die Türkei, China und Russland ihre Claims auf dem Westbalkan abstecken, investiert die EU in der Region viel – und erreicht wenig.
Niemand engagiert sich stärker in den Ländern des Westlichen Balkans, niemand schickt mehr Diplomaten und Experten dorthin, niemand gibt mehr Milliarden dort aus als die Europäische Union. Dennoch gelingt es Brüssel nicht, diese Staaten in euroatlantischen Strukturen zu verankern.
Die kopflose Politik der EU gegenüber dem Westlichen Balkan war just wieder im Kosovo-Serbien-Konflikt zu besichtigen, den man seit über einem Jahrzehnt vergeblich einer Lösung näherbringen will. Am 27. Februar trafen sich der serbische Staatspräsident Aleksandar Vučić und Kosovo-Ministerpräsident Albin Kurti in Brüssel. Der vermittelnde EU-Außenbeauftragte Josep Borrell meldete einen „Durchbruch“ und verkündete einen „Deal“ der beiden Kontrahenten. Nach einem weiteren Treffen Mitte März im nordmazedonischen Ohrid jubelte Borrell, man habe sich auf die Implementierung dieses Abkommens verständigt. Dass Serbien und Kosovo nichts unterschrieben hätten, sei für die Rechtsverbindlichkeit des Abkommens unerheblich, teilte Borrell der erstaunten Öffentlichkeit mit.
Alles auf Anfang
Diese Erfolgsmeldung hielt nicht einmal wenige Tage. Vučić versicherte zu Hause, er werde niemals einem Beitritt der 2008 von Serbien abgefallenen und heute fast nur noch von Albanern bewohnten einstigen Provinz Kosovo zu internationalen Organisationen und vor allem zu den Vereinten Nationen zustimmen – ein Kernpunkt der EU-Vermittlung. Auch Kurti kassierte einen zentralen Punkt des angeblichen Kompromisses mit Belgrad: Der dort vorgesehene autonome „Gemeindeverband“ für die kleine serbische Minderheit im Nordkosovo mit echten exekutiven Kompetenzen komme nicht infrage. Somit stehen die EU-Bemühungen in diesem Dauerkonflikt einmal mehr auf Anfang.
Zweites Beispiel: Die Universität Regensburg und die Universität Zagreb gründeten am 16. März ein gemeinsames „Zentrum für Deutschland- und Europastudien mit dem regionalen Schwerpunkt Südosteuropa“. Diese gemeinsame Institution zielt auf die von Nationalismus, Autoritarismus und Demokratieverfall geprägte Westbalkanregion. Es geht auch um die Weiterbildung von Nachwuchsjournalisten aus dieser Ecke Europas, um den konzentrierten, kontrollierten und zensierten Medien Südosteuropas etwas entgegenzusetzen.
Die politische Bedeutung dieses Vorhabens wurde von kroatischer Seite durch die Teilnahme von Außenminister Gordan Grlić Radman unterstrichen. Die auf deutscher Seite eingeladene Außenministerin Annalena Baerbock erschien ebenso wenig wie der von ihr eingesetzte Parteifreund Manuel Sarrazin als „Balkanbeauftragter“ – eine vertane Chance, jenseits aller Sonntagsreden Konkretes auf den Weg zu bringen.
Bauherr Erdoğan
Ein Blick auf die Landkarte offenbart, warum der Westliche Balkan nicht nur für die EU, sondern auch für andere mächtige politische Akteure wichtig ist. Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien und der Kosovo sind ausschließlich von EU- und NATO-Mitgliedern umgeben. Bosnien-Herzegowina und der Kosovo gehören weder der EU noch der NATO an. Albanien, Nordmazedonien und Montenegro sind zwar in der NATO, die Verhandlungen über einen EU-Beitritt stehen aber noch ganz am Anfang. Für Serbien ist die NATO ein rotes Tuch, seitdem das Bündnis 1999 Belgrad durch eine 78-tägige Bombardierung zwang, sich aus dem Kosovo zurückzuziehen, wo serbisches Militär und Paramilitär zuvor bis zu 800.000 Albaner vertrieben hatten. Allerdings verhandelt Serbien seit 2014 mit Brüssel über einen EU-Beitritt und gehört seitdem zu den mit Abstand größten Geldempfängern.
In dieser politisch noch nicht festgelegten Region forcieren auch die Türkei, China und vor allem Russland ihre eigenen Interessen, die denen der EU zuwiderlaufen. So weihte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Januar 2022 die mit Geldern seines Landes renovierte historische Et‘hem-Bey-Moschee in Tirana ein – immerhin das Wahrzeichen der albanischen Hauptstadt. Schon zuvor hatte die Türkei ein knappes Dutzend andere Moscheen und historische Uhrentürme etwa in Gjirokastra oder Kavaja finanziert, dazu Wohnungs- und Gewerbeprojekte. Im Kosovo betrieb man die Restaurierung historischer Moscheen, etwa in der Hauptstadt Pristina, oder den Neubau von knapp zwei Dutzend kleineren islamischen Gotteshäusern auf dem Land.
Auch in Bosnien-Herzegowina ist die Türkei aktiv – im August 2021 weihte Erdoğan dort die alte Bascarsija-Moschee in der Hauptstadt Sarajevo ein. Infrastruktur, geschichtliche Gebäude und Gewerbe stehen auch im Zentrum türkischer Investitionen in Serbien und Nordmazedonien. Nicht wenige Kritiker dieses Engagements behaupten, Erdoğan träume von einer Wiederauferstehung des Osmanischen Reiches, das die Balkanhalbinsel fast 500 Jahre beherrschte, zum Teil bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
Kontrolle durch Kredite
Während die Türkei auf Sympathien bei der muslimischen Bevölkerung im Westlichen Balkan setzt, geht China einen anderen Weg. Peking steckt viel Geld in den Ausbau von Infrastruktur – oft im Zusammenhang mit seinem Projekt der „Neuen Seidenstraße“. Der Ausbau von zentralen Schienen- und Straßenverbindungen etwa in Serbien wird durch Kredite chinesischer Staatsbanken finanziert.
Trotz aller Geheimhaltungsklauseln dieser Verträge ist durchgesickert, dass die Kreditvereinbarungen für die Empfängerländer ausgesprochen ungünstig sind. Dafür fragt aber niemand nach der Machbarkeit solcher Projekte, ihrer Umweltverträglichkeit, ihren Kosten. Die Menschen, die an den neuen Straßen und Schienen arbeiten, kommen ebenso fast ausschließlich aus China wie die verwendeten Maschinen – die Wertschöpfung bleibt also in einem geschlossenen chinesischen Kreislauf.
Dass die neue Abhängigkeit von China rasch in eine regelrechte „Schuldknechtschaft“ abgleiten kann, zeigt das Beispiel des kleinen Adriastaats Montenegro. China stellte knapp eine Milliarde Dollar für den Bau einer – wirtschaftlich von Anfang an umstrittenen – Autobahn von der Küste in Richtung Norden zur Verfügung. Das von chinesischen Arbeitern gebaute spektakuläre Teilstück von fast 40 Kilometern endet bis heute mitten im Gebirge, wichtige Teile der begleitenden Infrastruktur wie die Wasser- und Stromversorgung oder die Anschlüsse an lokale Straßen hatte man „vergessen“. Als aber im vergangenen Jahr die erste Kreditrate fällig wurde, drohte Montenegro mit seinen nur 620.000 Einwohnern der Staatsbankrott. Französische und amerikanische Banken mussten einspringen, um das zu verhindern.
Neben Verkehrswegen hat China etwa in Serbien wichtige Industriebetriebe übernommen, beispielsweise das Stahlwerk in der Stadt Smederevo, mit dessen Hilfe man europäische Importzölle für chinesischen Stahl ausbremsen konnte, oder die Kupfer-, Erz- und Edelmetallförderung in Bor im Osten des Landes. Der Ausbau und die Modernisierung wichtiger serbischer Kraftwerke wie etwa TENT in Obrenovac oder des Wärmekraftwerks Kostolac stehen ebenso auf der Liste chinesischer Engagements.
Russisches Propaganda-Dauerfeuer
Einen dritten Weg wählt Russland, um seinen Einfluss in der Region zu stärken und der EU und den USA Paroli zu bieten. Zwar haben Serbien und die serbische Landeshälfte von Bosnien-Herzegowina die komplette Erdölindustrie sowie das Tankstellennetz an Russland regelrecht verhökert, wie selbst der ehemalige Finanzminister Mladjan Dinkić eingeräumt hat. Doch die eigentliche Macht und der dramatische Einfluss Moskaus laufen über die Medien.
Seit 2014 arbeitet in Belgrad eine vielköpfige Redaktion der russischen Staatsagentur Sputnik. Im November vergangenen Jahres folgte das Staatsmedium RT (früher Russia Today). Beide Medien produzieren täglich viele Dutzend Berichte in serbokroatischer Sprache, die kostenlos allen Medien in Serbien und dessen Nachbarländern zur Verfügung gestellt werden. Angesichts der chronischen Unterfinanzierung praktisch aller Medien werden diese Inhalte von den renommierten Zeitungen, TV-Sendern und Portalen ebenso eins zu eins übernommen wie von den vielen kleinen lokalen Webauftritten politisch interessierter Akteure. Serbiens politische Elite hat nichts gegen diese russische Medienflut einzuwenden, im Gegenteil: Ihre Inhalte kommen ja den eigenen politischen Positionen sehr nahe.
Aus einer ganzen Reihe von Inhaltsanalysen lässt sich entnehmen, welche Stoßrichtung die beiden russischen Staatsmedien verfolgen: Verteufelung des Westens; Glorifizierung Russlands; Beschwörung der angeblich historischen serbisch-russischen Verbindungen durch den orthodoxen Glauben und die gemeinsame slawische Sprache; Befeuerung der nationalen Konflikte in der Region, wobei immer serbische Positionen unterstützt werden; Überlegenheit des russischen und chinesischen politischen und gesellschaftlichen Systems; Unterstützung christlicher Lebensmodelle gegen angebliche westliche Dekadenz in Form der LGBTQ-Community.
Dieses propagandistische Dauerfeuer hat dazu geführt, dass die Bevölkerung nicht nur Serbiens einer virtuellen Welt anhängt, die mit der Realität rein gar nichts zu tun hat. Russland und China werden als die größten politischen Freunde und wirtschaftlichen Förderer Serbiens angesehen, obwohl die EU mehr als zwei Drittel aller Investitionen, des gesamten Handels und aller nicht rückzahlbaren Gelder bestreitet. Nur noch 34 Prozent der Bürgerinnen und Bürger im EU-Kandidatenland Serbien wollen der Union auch beitreten. Die große Mehrheit tritt für eine verstärkte Anlehnung an Moskau und Peking ein, auch wenn niemand unter den Zehntausenden von ihrer Heimat enttäuschten Auswanderern auf die Idee käme, in Russland oder China zu arbeiten oder zu studieren. Alle wollen nach Österreich, in die Schweiz oder die USA und vor allem nach Deutschland.
Die Herzen der Menschen erreichen
Was kann die EU als der eigentlich wichtigste Akteur tun, um die Bürger der Westbalkanländer auf ihre Seite zu ziehen, was trotz enormen Einsatzes von Milliardengeldern und Manpower bisher nicht ansatzweise gelungen ist? Zunächst einmal fehlt es an einem längerfristigen politischen Konzept der Union. So müsste beispielsweise in der Jugend- und Bildungspolitik angesetzt und der Austausch in der Region und Westeuropa intensiviert werden. Zudem mangelt es an Schul-Curricula, die internationalen Standards entsprechen. Das ist eines der Arbeitsfelder des erwähnten neuen deutsch-kroatischen Zentrums, für das offensichtlich auf deutscher Seite wenig Interesse besteht. In den derzeit verwendeten Unterrichtsmaterialien werden die Schulkinder nationalistisch „aufgerüstet“ und politisch im antiwestlichen Sinne instrumentalisiert. Die Regierung plant sogar neue „nationale Schulbücher“, die diese Stoßrichtung noch verstärken.
Internationale Organisationen wie die United Nations Interim Administration Mission UNMIK, die Rechtsstaatlichkeitsmission EULEX oder die EU-Mission müssen Personal rekrutieren, das sich wirklich mit der jeweiligen Problematik auskennt. Es ist alles andere als ideal, wenn etwa die Leiterin von UNMIK aus internationalen Proporzgründen aus dem Libanon kommt oder wenn EULEX zwischenzeitlich von Abgesandten aus Ländern geleitet wurde, die dem Kosovo die völkerrechtliche Anerkennung verweigern. Damit soll keineswegs einer diskriminierenden Personalauswahl das Wort geredet werden. Doch müssen die Themen wieder mehr im Vordergrund stehen als der internationale Personalverteilungsschlüssel.
Wichtigster Ansatz im Sinne einer Conditio sine qua non ist jedoch die grundlegende Demokratisierung der streng kontrollierten und zensierten Medienlandschaft. Die selektiven und sehr beschränkten Finanzmittel aus Brüssel für wenige systemkritische Medien ohne größere Reichweiten helfen nicht weiter.
Wie bei der Vorbereitung der Jugoslawien-Kriege (1991–1999) dienen die Medien in Serbien zur ideologischen „Munitionierung“ breiter Bevölkerungsschichten. Die heutigen Medien können die Lage auf Knopfdruck mit jeder noch so unlogischen und wahrheitswidrigen Behauptung dramatisch anheizen. Es geht nicht an, dass die Medien groteske Unwahrheiten verbreiten („Die Ukraine hat Russland angegriffen“) oder regelmäßig Bashing ihres wichtigsten wirtschaftlichen Partners Deutschland betreiben („Erben Hitlers“). Eine wirksame EU-Politik hat nur dann eine Chance, wenn diese negative Medienmacht eingedämmt und ihr ein Korrektiv entgegengesetzt wird. Sonst steht die EU weiter auf verlorenem Posten, weil sie die Herzen der Menschen auf dem Westbalkan nicht erreicht.
Dr. Thomas Brey war viele Jahre Regionalbüroleiter der Deutschen Presse-Agentur für Südosteuropa und ist heute Lehrbeauftragter deutscher Universitäten in den Fächern Politikwissenschaft und Journalistik.
Internationale Politik Online Exklusiv, 21. April 2023