IP

01. März 2007

»Fest im Griff des Regimes«

Die IP im Gespräch mit Garri Kasparow, der im März 2005 seine Schachkarriere beendete und nun Politik macht

IP: Herr Kasparow, Sie kritisieren Wladimir Putin schärfer als die meisten russischen Politiker. Sie haben sein Regiment sogar mit dem frühen Faschismus verglichen …

Kasparow: Wenn wir eine historische Parallele zum heutigen Russland suchen, dann finden wir sie in Mussolinis Faschismus Mitte der zwanziger Jahre: ein korporativer Staat, gelenkt von einer weichen Diktatur.

IP: Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie?

Kasparow: Umberto Eco hat einen Aufsatz über den „Ewigen Faschismus“ geschrieben. Als ich den las, hatte ich das Gefühl, es sei eine Darstellung der aktuellen Lage in Russland. Aber Eco beschreibt Mussolinis italienisches Modell: volle Kontrolle über die Gesellschaft durch die Mechanismen einer dekorativen, kontrollierten Demokratie, die im Grunde keine mehr ist. Formal existiert ein Parlament, existieren gesellschaftliche Organisationen. Aber sie alle werden aus einem Zentrum gesteuert.

IP: Der Kreml redet selbst gern von „gelenkter Demokratie“. Viele westliche Beobachter glauben, dass Russland unter Putin einen autoritären Umweg mache, sich aber trotzdem Richtung Demokratie bewegt.

Kasparow: Putins Regime hat mit einer Demokratie nichts gemein. Es beseitigt konsequent die demokratischen Bürgerrechte. Es gibt keine freie Konkurrenz, keine Möglichkeit für die Bürger, ihre politischen Freiheiten, ihre wirtschaftlichen Interessen, ihr Recht auf Besitz zu verteidigen. Die Exekutive kontrolliert die Gerichte ebenso wie die Wahlen. Die Machthaber, sowohl im Zentrum als auch in den Regionen, akzeptieren nicht mehr, dass sie austauschbar sind.

IP: Wladimir Putin hat wiederholt erklärt, er werde nach den nächsten Präsidentschaftswahlen 2008 sein Amt abgeben. Was erwarten Sie vom Jahr 2008?

Kasparow: Ich befürchte, dass schon in den nächsten vier, vielleicht sechs Monaten die Staatsmacht die Spielregeln grundsätzlich ändern wird, um das eigene Fortbestehen zu sichern. Vielleicht erwartet uns die Verwandlung des Präsidenten Putin in den Generalsekretär der Staatspartei „Einiges Russland“, vielleicht eine Vereinigung mit Weißrussland oder mit Kasachstan. Da gibt es viele Varianten. Und dieses Jahr steht die Reform der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft an, mit enormen finanziellen Belastungen für die Bevölkerung. Eben das wird der Moment sein, in dem die Menschen demonstrieren müssen, dass sie nicht einverstanden sind.

IP: Die Reform des Kommunalwesens wird die Wohnkosten für die meisten Russen um 50 Prozent erhöhen. Zeigen nicht gerade solche unpopulären Reformen, dass Putins Minister langfristig andere Ziele verfolgen als den bloßen Machterhalt?

Kasparow: Setzen Sie das Wort Reform besser in fette Anführungsstriche. Nehmen Sie die Monetarisierung der sozialen Privilegien. Als „Reform“ ist sie schlecht durchgeführt worden, sie führte zu schweren Einbußen für Millionen Menschen. Aber vom Standpunkt ihrer Autoren lieferte sie glänzende Resultate, weil sie neue Finanzströme schuf. Eben dafür existiert unsere Beamtenschaft: Wo viel Geld ist, da konstruiert sie bürokratische Prozeduren, um dieses Geld unter ihre Kontrolle zu bekommen. Als eine Folge der Monetarisierung begann der Staat, kostenlose Medikamente bereitzustellen. Ein Arzneimittelmarkt von über einer Milliarde Dollar im Jahr entstand. Und wer bekam einen Großteil der Staatsaufträge auf diesem Markt? Eine Firma, die dem Gesundheits- und Sozialminister sehr nahe steht.

IP: In Russland sind Reformen nur noch Geschäftemacherei?

Kasparow: In Russland herrscht staatsbürokratischer Kapitalismus. Alle Ressourcen des Landes arbeiten ausschließlich für die Bürokratie. Und die Bürokratie gebiert neue Bürokratie, organisiert immer neue Geldströme und neue bürokratische Strukturen, die diese Geldströme steuern. Wie eine Petersburger Zeitung treffend schrieb: Macht ist wie Speck. Sie wandert von Hand zu Hand, und überall bleibt ein bisschen kleben.

IP: Sie reisen durch Russland und rufen das Volk zum Protest gegen Putins Regime auf. Sie haben keine neue Partei gegründet, sondern eine „Offene Bürgerfront“. Das klingt nach Revolution.

Kasparow: Ich glaube, der Vergleich mit der Lage in Chile Ende der achtziger Jahre ist angebracht. Dort vereinigten sich alle politischen Gruppen von den Kommunisten bis zu den Christdemokraten, um zu verhinden, dass Pinochet seine Diktatur per Volksabstimmung verlängerte. Und um die Errichtung einer persönlichen Diktatur von Präsident Putin zu verhindern, schlagen wir heute die Gründung einer großen Links-Rechts-Koaliton vor. Wir verstehen sehr gut, dass solch eine Vereinigung nur befristet sein kann. Und dass, sobald unsere Hauptziele, freie Wahlen und Abschaffung der Pressezensur, erreicht sind, die heutigen Verbündeten völlig unterschiedliche Programme zur Diskussion stellen werden.

IP: Sie als erklärter Liberaler arbeiten jetzt mit Nationalbolschewisten zusammen. Haben Sie keine Angst, dass Ihre Front zu linkspatriotisch wird?

Kasparow: Diese Frage erinnert mich an die These, die jetzt in Moskau eifrig verbreitet wird: Freie Wahlen stellten für Russland eine extreme Gefahr dar. Denn sie brächten Faschisten und Nationalisten an die Macht. Putin und sein Apparat seien natürlich auch nicht optimal, aber auf jeden Fall besser als die Schrecken, die uns nach einem Machtwechsel erwarteten. Das ist Teil einer PR-Kampagne, die nicht nur auf die Russen, sondern auch auf den Westen zielt, nach dem Motto „Putin bedeutet Stabilität“.

IP: Und Kasparows Bürgerfront bedeutet Revolution?

Kasparow: Natürlich fänden wir es alle schöner, die Meinungsverschiedenheiten in Russland durch öffentliche Diskussion in freien Medien, im Rahmen normaler Wahlkämpfe zu lösen. Aber leider leben wir in einem Land, in dem die demokratischen Freiheiten und Rechte der Bürger konsequent beseitigt werden. Wir behaupten nicht, wir hätten ein Monopol auf die Wahrheit. Wir wollen das Regime Putin demontieren, aber unsere Aktionen werden im gesetzlichen Rahmen bleiben.

IP: Hat Russland seine friedliche Revolution mit dem Aufstand gegen die Putschisten von 1991 nicht schon hinter sich?

Kasparow: 1991 sind die Menschen für Jelzin auf die Straße gegangen, aber das Problem war, dass sie Jelzin keine Forderungen gestellt haben. Wenn wir heute protestieren, dürfen wir nicht einfach irgendwen unterstützen, sondern nur jemanden, der die Interessen verkörpert, die wir vorher mit ihm vereinbart haben. Sonst geht es uns wie mit Jelzin: Jemand bekommt alle Macht, und innerhalb von zwei Jahren gibt es keine Demokratie mehr.

IP: Glauben Sie, dass die Russen auf die Straße gehen?

Kasparow: Wo kein sozialer Protest existiert, da kann man ihn sich auch nicht ausdenken. Aber es gibt schon jetzt Protest, dort, wo die Leute aus objektiven Gründen unzufrieden sind. In Wladiwostok gingen tausende Autofahrer auf die Straße, weil die Obrigkeit japanische Importwagen mit dem Lenkrad rechts zusätzlich besteuern wollte. Dort aber fahren praktisch alle solche japanischen Modelle. In Perm streikten die Busfahrer, weil der größte Transportbetrieb der Stadt privatisiert werden sollte und der neue Besitzer, ein Verwandter des Bürgermeisters, Massenentlassungen plante. Das zensierte Staatsfernsehen verschweigt solche Proteste. Aber immer mehr Menschen bringen ihre schlechter werdende wirtschaftliche Situation mit den politischen Realitäten in Verbindung.

IP: Reicht die Parole „Pressefreiheit statt Putin“ als Programm, um solche Proteste zu einer Bewegung zu bündeln?

Kasparow: Es gibt drei Grundsätze, mit denen alle Parteien einverstanden sind, die uns unterstützen: Erstens müssen die politischen und finanziellen Vollmachten aus dem Zentrum in die Regionen zurückverlagert werden. Die heutige „Vertikale der Macht“ verurteilt die meisten russischen Regionen zur wirtschaftlichen Dauerkrise: Ihre Steuergelder wandern durch alle Instanzen nach Moskau, um dann als Subventionen durch alle diese Instanzen zurückzukehren. Dieser Zustand garantiert beste Bedingungen für Korruption.

Zweitens sollen die Parlamentarier nicht nach Putins Listenwahlrecht, sondern direkt gewählt werden. Nur Abgeordnete aus Ein-Mann-Wahlkreisen sind wirklich gewillt, die Interessen ihrer Wähler durchzusetzen. Und nur eine direkt gewählte Staatsduma ist in der Lage, die Handlungen der Exekutive zu kontrollieren. Denn ihre Fraktionen hängen nicht mehr unmittelbar von den politischen Pfründen ab, die der Kreml heute an loyale Parteien vergibt.

Drittens müssen die Sozialausgaben im russischen Staatshaushalt massiv erhöht werden.

IP: Wer bezahlt Ihre Front?

Kasparow: Die Offene Bürgerfront hat wenig Geld. Unsere Geldgeber möchte ich nicht nennen, um ihnen Probleme zu ersparen.

IP: Es sind also russische Geldgeber?

Kasparow: Richtig.

IP: Sie erhalten keine finanzielle Unterstützung von politischen Stiftungen aus den USA, die als Sponsoren auch die „bunten Revolutionen“ in Belgrad, Tiflis und Kiew gefördert haben?

Kasparow: Nein. Wenn wir von denen Geld bekämen, dann hätten Sie das schon in allen Moskauer Zeitungen gelesen.

IP: Sie haben keinen Kontakt zu diesen Stiftungen?

Kasparow: Ich habe mich mit einigen getroffen. Aber helfen können die uns kaum. Wenn wir von denen Geld annähmen, dann bekämen wir wirklich große Probleme.

IP: Im Gegensatz zu den meisten anderen russischen Politikern reisen Sie sehr viel durch die Provinz. Dabei gilt es doch im Schach als Grundregel, dass man das Zentrum erobern muss, um das gesamte Brett zu kontrollieren. Und das Zentrum heißt Moskau.

Kasparow: Aber erinnern Sie sich an 1991! Bevor die Moskauer auf die Straße gingen, rebellierten die Menschen in baltischen Städten, im Transkaukasus, in der Ukraine, dann im sibirischen Kusbass. Moskau folgte diesen Ereignissen.

IP: Inzwischen verdienen die Moskauer 20- oder 30-mal so viel wie die Russen in der Provinz. Wenn heute die Bergleute im Kusbass verhungerten, würde Moskau das überhaupt registrieren?

Kasparow: Die Staatsmacht begreift sehr gut, dass sie Moskau füttern muss, deshalb unterscheidet sich der Lebensstandard dort sehr von dem im übrigen Russland. Moskau gehört ja nicht zufällig zu den teuersten Städten der Welt. Die Frage ist nur, wie lange dieser Zustand dauern wird. Eine Stadt kann nicht ewig auf Kosten des übrigen Landes leben. Das gesamte politische System Russlands, inklusive der Parteien, hat sich ja aus dem Moskauer Stadtzentrum heraus gebildet. Auch die demokratischen Parteien formierten sich nach dem Prinzip „Von oben nach unten“. Deshalb haben die Parteien heute keine soziale Basis außerhalb Moskaus und sind zu Geiseln des vom Kreml kontrollierten Staatsfernsehens geworden: Sie können die Wählerschaft nur so lange erreichen, wie die staatlichen Sender ihre Reden in die Provinz ausstrahlen. Bei der heutigen Zensur ist dieses Parteimodell nicht mehr lebensfähig. Wir aber wollen unser Modell von unten nach oben aufbauen: Das politische Programm der OBF soll sich aus den Vorschlägen und Bedürfnissen der regionalen Organisationen entwickeln. Wir wollen das politische System wieder vom Kopf auf die Füße stellen.

IP: Sie sind auch noch Vorsitzender des Komitee 2008, einer Plattform der russischen Demokraten. Was tut die?

Kasparow: Das Komitee 2008 war am Anfang eher ein Gesprächskreis liberaler Politiker innerhalb des Moskauer Gartenrings. Wir gründeten es als spontane Reaktion auf das katastrophale Ergebnis der liberalen Parteien „Jabloko“ und „Union der rechten Kräfte“ bei den Dumawahlen im Dezember 2003. Tatsächlich hat das Komitee versucht, alle demokratischen Kräfte zu vereinen. Eine unmögliche Aufgabe, weil die politischen Führer in Russland, auch die demokratischen, Verhandlungen mit dem Kreml als Teil ihres politischen Kapitals betrachten. Und sich mit dem Kreml zu verabreden, ist immer leichter einzeln als gemeinsam. Deshalb versuchen wir als Bürgerfront auch nicht, mit den Moskauer Parteivorständen zusammenzuarbeiten, sondern mit konkreten Menschen vor Ort. So haben die Petersburger Jabloko-Aktivisten praktisch unsere Stadtorganisation gegründet. In Moskau wiederum arbeiten wir mit der Basis der Union der Rechten Kräfte zusammen, die dort viel radikaler ist als ihre Parteiführung.

IP: Viele russische Beobachter bezweifeln, dass die russische Gesellschaft überhaupt demokratiefähig ist.

Kasparow: Diese Meinung überwiegt in der Moskauer Elite, auch bei den Liberalen: Das Volk begreife nichts, man müsse es lenken wie Herdenvieh. Das ging so weit, dass mich führende Liberale im Februar davor warnten, zu den Leuten auf die Straße zu gehen, die gegen die Monetarisierung der sozialen Privilegien protestierten. Die seien so links, dass sie jeden Liberalen in der Luft zerreißen würden. Tatsächlich habe ich mit dem Volk auf der Straße ganz normal reden können. Es begreift durchaus, was vor sich geht. Nur kann man von jemand, der so schlecht lebt, nicht erwarten, dass er jedes liberale Gedankenkonstrukt verinnerlicht.

IP: Aber es mangelt den Russen nicht nur an Interesse für liberale Theorien. Im September 2004 starben bei dem Geiseldrama in Beslan über 330 Menschen. Nach dem Blutbad gingen in Rom mehr Leute auf die Straße als in jeder russischen Stadt.

Kasparow: Das liegt zum Teil an der heftigen Zensur im russischen Fernsehen. Der größte Teil des Landes empfängt den ersten und den zweiten Kanal. Die sind fest im Griff des Regimes: ständige Gehirnwäsche, ständige, zielgerichtete Lüge, eine unheimliche Propaganda. Wenn die russischen Staatssender in Deutschland laufen würden, ich glaube, auch bei Ihnen gäbe es Probleme.

IP: Sie haben einmal gesagt, Zivilgesellschaft heiße, auf fremden Schmerz zu reagieren. Mir scheint oft, Russen reagierten erst, wenn das Unglück sie selbst getroffen hat.

Kasparow: Das Bewusstsein sehr vieler Menschen ist wirklich immer noch gespalten. Denken Sie nicht, die Leute bemerkten nicht, was passiert. Aber sie sind in ihre eigenen Probleme vertieft. Zivilgesellschaft bedeutet, für allgemeine Interessen einzutreten und damit auch das eigene Dasein zu verbessern. Das ist eine politische Kultur, die nicht von heute auf morgen entsteht.

IP: Aber was kann man in einem Land, wo dieses Bewusstsein fehlt, mit einer „Bürgerfront“ erreichen?

Kasparow: Ich glaube doch, dass sich bei uns dieses Bewusstsein langsam entwickelt. Die Leute fangen an, bestimmte allgemeine Interessen zu verteidigen. Nehmen Sie Beslan: Der Kreml kann die Tragödie von Beslan nicht zu den Akten liegen, so gerne er das täte. Die Menschen unterstützen das Komitee der Mütter von Beslan und seinen Protest. Ich war in Beslan, dort sprach ich mit einem Mann, der Frau und Tochter verloren hatte. Er sagte: „Als sich in Moskau das Geiseldrama im Musical-Theater Nordost abspielte, saßen wir zuhause vor dem Fernseher, und ich sagte zu meiner Frau: Gut, dass uns das nicht passiert. Jetzt aber lässt mich ein Gedanke nachts nicht schlafen: Was, wenn wir damals alle auf die Straße gegangen wären um zu protestieren? Vielleicht wären meine Frau und meine Tochter noch am Leben.“ Das Verständnis, dass alles miteinander verbunden ist, dringt langsam in die Köpfe.

IP: Im Westen wird Wladimir Putin eher wohlwollend betrachtet. Er wird in diesem Jahr sogar Hausherr beim G-8- Gipfel sein.

Kasparow: Ein schwerer Fehler des Westens. Die G-8 ist doch gedacht als Vereinigung der demokratischen und industriell führenden Nationen! Russland ist weder Demokratie noch führende Industrienation.

IP: Der Westen braucht russisches Gas, daher hat er kaum  Möglichkeiten, Putin unter Druck zu setzen.

Kasparow: Doch. Viele glauben, Putin verkehre so gerne mit den westlichen Führern, weil er seine persönliche Eitelkeit befriedigen will. Tatsächlich verfolgt er damit auch sehr praktische Zwecke: Putin braucht gute Beziehungen zum Westen, denn dort befindet sich die Masse des russischen Kapitals. Auch das Geld seiner Bürokratie. Als Repräsentant dieser Bürokratie muss er sicherstellen, dass dieses Geld nicht in Gefahr gerät. Das ist ein Eckstein seiner Machtstellung: Einerseits garantiert sein Regime den Beamten die Möglichkeit, Geld zu stehlen, anderseits die Sicherheit dieses Geldes im Ausland. Diese Auslandskonten, das ist der schwache Punkt, an dem der Westen ansetzen kann.

IP: Und wie?

Kasparow: Sehr einfach. Indem Interpol anfängt, sich für Roman Abramowitsch und seine Gelder zu interessieren. Dann gerät das ins Visier, was Putin als seine persönlichen Interessen betrachtet. Und als die Interessen des Clans, den er vertritt: die Finanzen. In diesem Moment wird Putin begreifen, dass der Westen es ernst meint.

IP: Putin bemüht sich als Diplomat auch um China und Indien. Hat Russland seine langfristigen Verbündeten noch nicht gefunden?

Kasparow: Das Britische Empire existierte lange, weil es der Maxime Lord Gladstones folgte: Sein Land habe keine ständigen Freunde, es habe nur ständige Interessen. Es ist wohl eine Ironie des Schicksals, dass wir heute gerade die Projekte unterstützen, die uns bedrohen. Wir helfen dem Iran, eine Atombombe zu bauen: Das halte ich für eine Tragödie. Und wir bewaffnen nicht die eigene, sondern die chinesische Armee. Wir helfen China, sein taiwanesisches Problem zu lösen. Danach wird es seinen Expansionsdrang nach Norden richten. Vielleicht irre ich mich ja. Vielleicht gibt es höhere Argumente, wenn Präsident Putin den Chinesen unsere Amur-Inseln schenkt. Aber diese Frage sollte durch ein nationales Referendum entschieden werden und nicht durch irgendeine geschlossene Abstimmung in der Staatsduma.

IP: Bisher ließen die Behörden Ihnen bei Ihren Auftritten nur den Strom abschalten oder Sie mit Tomaten bewerfen. Haben Sie keine Angst?

Kasparow: Ich nehme an, dass mein Bekanntheitsgrad in Russland wie im Ausland mir einen besonderen Status verschafft. In Wladimir ist es passiert, dass das Staatsfernsehen meine politische Agitation als Schachvisite verkauft hat. Das Regime geht also sehr vorsichtig zu Werke, was meine Neutralisierung angeht.

IP: Was ist Ihre persönliche Motiva-tion? Warum nehmen Sie diese Schikanen auf sich? Sie könnten in Russland mehr als bequem leben, wenn Sie sich mit dem Kreml arrangierten.

Kasparow: Es gibt Fälle, da ist der moralische Imperativ wesentlicher. Ich kann nicht in Russland leben und nichts tun. Das ist mein Land, ich habe seine Ehre – erst für die Sowjet-union, dann für Russland – 25 Jahre auf dem Schachbrett verteidigt. Das, was jetzt mit diesem Land gemacht wird, droht in einer Katastrophe zu enden. Hier bleiben und nicht kämpfen, das ist für mich nicht annehmbar. Auswandern, das wäre auch kleinmütig. Mir bleibt also keine Wahl, ich muss einfach kämpfen. Ich bin nicht größenwahnsinnig, ich weiß, dass es als Politiker schwer sein wird, auch nur einen Bruchteil von dem zu bewegen, was ich im Schach geschafft habe. Aber ich kann unter den Leuten die Überzeugung verbreiten, dass wir wirklich etwas verändern können. Es gibt keine Garantie, dass wir das in nächster Zukunft schaffen. Aber wir sind verpflichtet, es zu versuchen.

IP: Viele Moskauer, die man auf Ihr politisches Engagement anspricht, antworten: Ach, Kasparow, noch einer, der gerne Präsident werden möchte.

Kasparow: Ich habe als Schachspieler wirklich genügend Selbstbestätigung gehabt. Aufgabe Nummer Eins ist es heute zu erreichen, dass es überhaupt echte Wahlen gibt. Sollte das gelingen, hege ich große Zweifel, dass bei diesen Wahlen ein Kandidat gewinnt, der meine Meinung teilt. Ich habe ziemlich ausgeprägte liberale Ansichten, die mit denen der meisten Parteien nicht vereinbar sind. In einer Situation, in der es gilt, alle zu vereinigen, verzichte ich deshalb auf Ambitionen. Wenn dir ein Matt droht, denkst du nicht darüber nach, was du im Endspiel unternehmen wirst. Jeder Zug, mit dem wir heute im Spiel bleiben, ist für uns schon ein kleiner Sieg.

Das Gespräch führte Stefan Scholl.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2006, S. 108 - 114.

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