Europas Utopia?
Von der Indienststellung des Nationalen fürs bonum comune europaeum
Der Fortschritt speist sich aus dem Scheitern. Immer wieder sind ambitionierte Integrationsprojekte in Europa zurückgeworfen worden, geriet die europäische Idee unter Druck. Immer wieder wird das allzu große Wort von der „Krise Europas“ bemüht, das eine „Aussetzung der Integration“ meinen soll, aber doch stets wie der „Untergang des Abendlandes“ klingt. Vorschnell, wie sich im Rückblick zeigt. Denn ohne Rückschläge ist dieses „Europa“ nicht denkbar.
Noch immer hat das Gravitationsfeld der Union die zahlreichen anderen Institutionen in Europa eingefangen und in einen stabilen Orbit gebracht: sei es durch Kooptation und Arbeitsteilung wie im Falle des Europarats und der NATO, sei es durch Inkorporation wie im Falle der einst wenig formalisierten polizeilichen, strafrechtlichen und schließlich der militärischen Zusammenarbeit im Rahmen des Drei-Säulen-Modells. So wird auch der totgesagte Verfassungsvertrag in der einen oder anderen Form wieder auferstehen – er ist schon jetzt als Textstufe, Auslegungshilfe und Referenzrahmen in der europäischen Praxis wirksam. Denn das Projekt Europa ist ein offenes, fast mythisches – seltsam immunisiert gegen die Mühen der Ebene. Ein endgültiges Integrationsziel, ein konkreter Finalitätsbegriff jenseits der allgemeinen Werte und Ziele der Union, hätte das Einigungswerk der Union seit jeher wohl mehr belastet denn befördert. Dieser Finalitätsbegriff ist offen, aber nicht wertfrei: Rifkin beschreibt diesen „europäischen Traum“ in varietate concordia mit den Ideen von Inklusivität, Diversität, Lebensqualität, Nachhaltigkeit, Umwelt- und Menschenrechten.1 Der Verfassungsvertrag spricht in Art. 1–3 (1) beredt von „Frieden, Werte, Wohlstand“ auf dem Kontinent der Kriege. Dieser offene Finalitätsbegriff ermöglicht erst den Streit um Richtung und Geschwindigkeit der sich wandelnden und entwickelnden, der sich erweiternden und vertiefenden Union, indem er Raum lässt für unterschiedliche Visionen, die jedes Mitglied mit gleichberechtigter Stimme vorzutragen vermag.2 Die Attraktivität und der Erfolg des europäischen Projekts hängen maßgeblich von dieser Teilhabe ab: Diese Form der Partizipation erst ermöglicht die Rückbindung der Integrationsdebatte auf der Gemeinschaftsebene an die nationale Deutungs- und Legitimationsebene und erzeugt damit die Loyalität („Europa-Treue“), ohne die kein Staatswesen auf Dauer bestehen kann. Das macht „Europa“ zu einer ewigen Baustelle – einem Jahrhundertwerk im Wortsinne.
Das neue Millennium schien tatsächlich als ein wahrhaft „europäisches Jahrhundert“ zu beginnen.3 Die Integrationsdynamik in der Union hatte sich seit dem Schrittmacher Maastricht nachhaltig beschleunigt und gipfelte in einem ambitionierten innen- und außenpolitischen Programm zur Stärkung und Sicherung der Stellung Europas in der Welt: Europäische Nachbarschafts- und Ostpolitik, Bologna, Lissabon, Nizza, Euro, Europäische Sicherheitsstrategie, Osterweiterung, schließlich die feierliche Unterzeichnung des Verfassungsvertrags in Rom, der Geburtsstadt der Union. Die seit dem Fin de Siècle verstärkt tosende Verfassungsdebatte sollte dabei die „Fenster zur Welt“ öffnen und die Union wieder ihren Bürgern näher bringen. Von einer „konstitutionellen Neugründung Europas“ war die Rede, von einem „constitutional moment“, vergleichbar der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 oder dem französischen Ballhausschwur 1789.4 Überwunden schienen mit der Hinwendung zum Konventsmodell die endlosen Verhandlungsrunden hinter verschlossenen Türen, die die intergouvernementalen Konferenzen bestimmt hatten.
Dieses Programm war Ausfluss eines gewandelten europäischen Selbstverständnisses und eines neuen emanzipatorischen Selbstbewusstseins der Union seit dem Wendejahr 1989. Es fand und findet ganz offensichtlich eine „Rückkehr des Normativen“ in die Integrationsdebatte statt. Dieser geopolitische Ehrgeiz war aber zugleich einem euphorischen Konsens geschuldet, der weite Teile der europäischen und mitgliedstaatlichen Eliten gleichermaßen erfasst hatte: Dass nämlich das europäische Projekt nunmehr unumkehrbar sei und sich die Zustimmung dazu in der europäischen und den nationalen Öffentlichkeiten wie von selbst einstellen würde.
Das vorläufige Scheitern des Verfassungsentwurfs hat die EU in tiefe politische Ratlosigkeit gestürzt. Plötzlich werden auch andere Schwächen wieder stärker wahrgenommen, nicht zuletzt die Identitätskrise der Union, die sich vor allem in der aktuellen Erweiterungsmüdigkeit und der Debatte um die Aufnahmefähigkeit der Union ausdrückt. Europas Utopienvorrat scheint verbraucht. Obschon bei weitem nicht alle Großprojekte gescheitert sind: Der Wert der EU liegt gerade nicht in dieser Form von Hochglanzpolitik, sondern vielmehr in der institutionellen Verflechtung, Einwirkung und Einhegung nationalstaatlicher Interessen und Gefahren. Im Dauerrauschen der Kritik droht dabei zweierlei verloren zu gehen: das Bewusstsein für die andauernde weltweite Attraktivität der Union und die identifikatorische Wirkung eines mittlerweile selbstverständlichen europäischen Alltags.
Globale Attraktivität der Union
„Europäisierung“ ist nach Roland Sturm Entgrenzung und Einbindung der Nationalstaaten und seiner Gesellschaften im Prozess der europäischen Integration. Sie wirkt dabei in unterschiedlichen Rechtsgebieten mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit. Allerdings ist Europäisierung kein Nullsummenspiel; vielmehr entsteht ein Geflecht neuer Staatlichkeit, in das nationalstaatliche Entscheidungselemente in unterschiedlicher Weise verwoben sind.
Durch diese Elastizität ist der europäische Integrationsmodus auch für andere Weltregionen Vorbild, die ein passendes Assoziationsmodell für ihre Zwecke und Ziele suchen. Zwar folgen politische und rechtliche Integration stets kulturellen Mustern und Sensibilitäten in den jeweiligen Regionen, die eine Reihe von Spezifika im Assoziationsmodell verlangen, doch hat die Europäische Union bisher eine bemerkenswerte Flexibilität bewiesen, renitente Mitglieder konstruktiv einzubinden und dabei den jeweiligen bilateralen Interessenprofilen Rechnung zu tragen.
Zugegeben, die Union steht mit ihrer „Identitätspolitik eines ästhetischen Programms“, mit den traditionellen nationalstaatlichen Artefakten (Flaggen, Hymnen, Reisepässe) im Sinne Eric Hobsbawms „erfundene Traditionen“ zu schaffen und die Union damit als „imaginierte Gemeinschaft“ im Bewusstsein seiner Bürger zu verankern, auch auf der Symbolebene in einer gewissen Konkurrenz zum Nationalstaat.5 Aufgrund unterschiedlicher Grundhaltungen zur europäischen Integration sowie unterschiedlicher institutioneller und politisch-kultureller Grundausstattung der Mitgliedstaaten ist aber, trotz gleichlautender europäischer Handlungsanweisungen, eine Pluralität von „Europäisierungsrealitäten“ zu beobachten.6 Von einer Konvergenz nationalstaatlicher Entwicklung in der EU, von einem „Verschwinden der Nationalstaaten“ kann daher nicht die Rede sein. Letzten Endes geht es um und mit Europa um die Emanzipation des Bürgers aus der nationalen Enge, es geht nicht nur im rechtlichen Sinne um „empowerment“. Europa ist ein kosmopolitisches Projekt zur Einhegung des Leviathans Nationalstaat.7
Freilich haben Nationalstaaten – und deren Gliederungen – eine wichtige Rolle zu spielen als kollektiver Begründungszusammenhang von und für Individuen. Sie sind Identitätsspender und Heimatstifter. An seinen Rändern wird „Europa“ aber weiterhin unscharf bleiben (müssen). Dazu zählen zum einen die Mitgliedschaften in den unterschiedlichen Verbänden des Greater Europe – Europarat, NATO und OSZE –, zum anderen unterhalb der Schwelle der Vollmitgliedschaft die verschiedenen Assoziierungsmodelle zur EU selbst. Sie alle sind Ausprägungen eines „dynamischen Mitgliedschaftsmodells“ für die Wertegemeinschaft Europas. Dieses „offene Europa“ als „flexibler Regelungsraum“ ist ein Erfolg versprechendes und bewährtes Modell – als ein System sich überlappender Regelungsbereiche unterschiedlicher Integrationstiefen und damit Werk eines supranationalen asymmetrischen Föderalismus.8
Obwohl zum Beispiel Großbritannien, Dänemark, Irland und Schweden – aber auch die zehn neuen Mitglieder von 2004 – Vollmitglieder der Union sind, nutzen sie alle in für sie sensiblen Politikbereichen doch (oft extensiv) die Möglichkeit der Ausnahmeklauseln innerhalb des Vertragsgefüges. Manche nennen dies abwertend „Rosinenpicken“, andere positiv „Pragmatismus“. Die Kommission hat dabei stets einen Mittelweg beschritten, indem sie versuchte, die Einheitlichkeit der Mitgliederpflichten (und die Einheit der Union) zu bewahren, indem sie die Anwendung dieses Mechanismus nur sehr restriktiv zuließ und jegliche Opt-outs als (wo immer möglich nichtpermanente) Ausnahmen vom Regelfall der vollen und vollständigen Mitgliedschaft entwarf, die zwar nationalen Sensibilitäten Rechnung trägt, doch den jeweiligen Mitgliedstaaten gleichzeitig auch ein besonderes Bekenntnis abringt, die Union nicht zu spalten („keine verschiedenen Geschwindigkeiten“).
Als Reaktion auf diese Entwicklung wurden eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet, wie die Tiefe der Mitgliedschaft in der EU differenziert ausgestaltet werden könnte, um sich den unterschiedlichen Bedürfnissen und Erwartungen innerhalb der EU anzupassen. Ganz besonders galt dies in Anbetracht der Erweiterungsrunden von 1995 und 2004. Es wird für eine immer breitere Mitgliederbasis immer schwieriger werden, sich um den vollständigen Acquis communautaire zu versammeln. Die Frage lautet daher, ob Vollmitgliedschaft auch die volle und vollständige Teilnahme am Gesamtbestand der Verträge impliziert, oder ob es – zumindest in einem gewissen Rahmen – möglich ist, zwischen Teilnahme und Mitgliedschaft zu unterscheiden.
Der Ratifikationsprozess der neuen Europäischen Verfassung ist bereits durch dieses Dilemma gekennzeichnet. Bedeutet die Nichtratifizierung durch einen Mitgliedstaat notwendigerweise den vollständigen Austritt aus der Union? Sollte es ein Rücktritt implizieren, um mögliche Integrationsfortschritte anderer Mitglieder nicht zu behindern? Oder kann das „rogue member“ in irgendeiner Form vom elastischen Rahmen kooptiert werden, einer Art maßgeschneiderten „abgeschwächten Zusammenarbeit“? Impliziert dies eine völlig neue Verfassung, mit weiteren Jahren zäher Verhandlungen? Wo sind dann die „roten Linien“, die eine Teilmitgliedschaft eines Nichtmitglieds durch Opt-ins (wie im Falle der Schweiz) von einer Teilmitgliedschaft eines Vollmitglieds durch Opt-outs (wie im Falle Großbritanniens) unterscheiden?
Es sind diese Fragen, die den Charakter jeder Konföderation prägen. Es sind auch Fragen nach dem Verhältnis des „Europas im engeren Sinne“ (der EU) zum „Europa im weiteren Sinne“ (des Greater Europe). Offenheit oder Abgrenzung? Fließende oder hermetische Grenzen? Es sind Fragen nach der Finalität Europas. Jeglicher Finalitätsbegriff darf allerdings eines nicht sein: Ein Rückschritt ins nationalstaatliche Jahrhundert. Europa darf niemals ein in diesem Sinne „geschlossenes“ werden (Fortress Europe). Ein klassischer europäischer Bundesstaat würde die Logik des 19. Jahrhunderts nur fortschreiben. Nationalstaatliche Vorstellungen lassen sich nicht auf Europa projizieren. Als Identitätsprojekt sowohl subregional für einen über Jahrtausende geformten diversen Kulturraum als auch global für eine nach Politikbereichen diskursiv vernetzte Welt taugte dies nicht. Im Gegenteil, die Domestizierung staatlicher Gewaltausübung verlangt auch auf globaler Ebene eine gegenseitige Einschränkung souveräner Handlungsspielräume.9 Das Stichwort lautet hier: „Verfassung des Pluralismus“, als Relativierung und normative Zähmung des Nationalen.10 So wie der Nationalstaat sich kooperativ geöffnet und föderal gelockert hat, muss es auch das postnationale Europa selbst tun – als Baustein einer werdenden auch globalen Rechtsgemeinschaft.
Identifikatorische Wirkung des europäischen Alltags
Die europäische Utopie ist postnational, nicht antinational. Die Nation ist bei aller kulturellen Offenheit gegenüber dem „Anderen“ ein Pfeiler und Garant der Verfassungsgemeinschaft Europa. Ihre Finalität kann nur die gemeinsame und geteilte Finalität der in ihr organisierten Mitgliedstaaten sein. Trotz der affektiven Krise Europas ist und bleibt sie damit „Schicksalsgemeinschaft“. Durch den Verzicht auf Normenhierarchien und das Vertrauen auf loyalen Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Normen ist sie auch freiwillige Rechtsgemeinschaft. Die Union ist also kein Übergangskonzept in einer Entwicklungsautomatik vom Staatenbund zum europäischen Bundesstaat.11 Unter der „Herrschaft des Rechts“ ist sie vielmehr immer contrat social, ein „Sich-Vertragen und Sich-Ertragen aller“.12
Die europäische Integration ist zwar als Kontrakt konzipiert und ein vernunftgeleitetes Projekt der Aufklärung. Doch bleibt bei alledem das Wesen Europas die stete diskursive Suche nach Gemeinsamkeiten in den unterschiedlichen Visionen seiner verschiedenen Akteure. Mythen und Utopien können hier helfen – als Projektionsfläche und Inspirationsspeicher –, indem sie an transzendente Werte jenseits des politischen Tagesgeschäfts appellieren. Das meinte Giscard d’Estaing, als er davon sprach, „Europa zu erträumen“.13
Die EU ist zwar heute Staaten- und Bürgerunion. Doch eines ist das demokratische Europa nicht: ein Europa der Bürger. Als Konkretisierung des Demokratieprinzips ist in der Union eine „duale Legitimation“ erkennbar, die sich einerseits unmittelbar aus der Gesamtheit der Unionsbürger und andererseits mittelbar aus der Gesamtheit der demokratisch verfassten Staaten speist. Dabei besteht nach aktueller Verfassungslage ein deutliches Übergewicht bei dem mittelbaren Legitimationsstrang. Auch der Konventsentwurf ändert an diesem grundlegenden Befund nichts, er ist in Bezug auf das Demokratieideal nicht „radikal“ genug. Aus diesem Grund ist auf allen Ebenen Raum für weitere Demokratisierung, vor allem durch effektive parlamentarische Kontrolle und europaweite Referenden. Doch zur Logik supranationaler – und eben nicht europanationaler – Föderationen gehört die Dominanz der Exekutiven, denn nur ihnen kommt die Außenvertretungsfunktion der föderierten Einheiten zu. Das ist im nationalen Bundesstaat nicht anders als in einer Union von Mitgliedstaaten.
Deutlich geworden ist auch während der Konventsverhandlungen, dass die EU noch immer mehr Staaten- denn Bürgerunion ist. Der Konvent hat allerdings eine öffentliche Arena bereitgestellt und damit den verfassungspolitischen Teilnehmerkreis vergrößert. Ein „großer Wurf“ ist auch bei der Konventsmethode nicht als Ergebnis herausgekommen, zu stark sind die etablierten Leitbilder und ihre daraus resultierenden Pfadabhängigkeiten. Sein Beispiel zeigt aber, dass das Wort von der Wertegemeinschaft lebendig ist, dass auch bei hochpolitischen Materien Konsens möglich ist, wenngleich nur in einem Entwicklungskontinuum. Deshalb sind Vertrags- und Verfassungsänderungen stets „Nachführung“, nicht „Neuschöpfung“. Im rechtlichen Kosmos ist den unterschiedlichen Akteuren europäischer Verfassungspolitik zwar im Kompetenzgefüge eine spezifische Rolle zugeschrieben, im politischen Kosmos sind diese allerdings aufs Innigste verflochten. Da das rechtliche und das politische Gewebe aufeinander einwirken und sich gegenseitig bestimmen, kann keine Ebene in diesem komplexen Gebilde ohne die andere agieren. Die Frage nach dem Ort des „Gravitationszentrums“ Europas ist also falsch gestellt.
Europäische Verfassungspolitik geschieht weder ausschließlich in Brüssel, aber genauso wenig in Berlin, Paris oder London. Was aus demokratietheoretischer Sicht problematisch erscheint, nämlich das Verflüssigen von Verantwortlichkeiten im Governance-Netzwerk in der Union, wirft spieltheoretisch gerade den größten Mehrwert ab. Es ist diese „Verflechtungsfalle“ im Sinne Fritz W. Scharpfs, die die einstigen Antagonisten in ein Mehrebenenspiel zwingt – und also in die nicht bloß „symbolische“, sondern „konkrete Schicksalsgemeinschaft“. Sie beinhaltet einerseits ein voluntaristisches (weil der Beitritt zum Acquis communautaire freiwillig ist) und andererseits ein determiniertes Element (weil der Austritt aus dem Integrationssog sehr viel schwieriger ist). So paradox dies klingen mag, doch auch das ist der identifikatorische Wert des europäischen Alltags.
Das Kantische Projekt
Das europäische Haus überdacht kein festgeschriebenes Territorium, es ist vielmehr in seinen Begrenzungen flexibel. Die klassischen Grenzen sind zu Brücken geworden. Die europäischen Verfassungsstaaten sind einander heute nicht mehr Ausland, ihre Gegensätze dialektisch im europäischen Verbund aufgehoben. Eine statische Standortbestimmung muss also scheitern, im Gegenteil, Europa ist delokalisierter Raum gemeinsamen kulturellen Erbes. Eine res publica im Wortsinne, ohne Ort und Substanz, in den Köpfen aller. Mit Voltaire sollte man vielleicht gar von einer „Grande République“ sprechen.
Man sollte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen: Vieles vom heutigen Entwicklungs- und Besitzstand lag noch vor 20 Jahren im Bereich des Phantastischen. Wohl sichtbarstes Zeichen der Normalität Europas ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Mitgliedstaaten und deren westliche Verbündete der Gemeinschaft die Hauptrolle bei Entwicklung und Wiederaufbau Osteuropas zugedachten. Solch eine unverhüllte außenpolitische Darbietung der EG hätte ein, zwei Jahrzehnte zuvor den bitteren Widerstand seiner eigenen Mitglieder hervorgerufen.14 Auch das heute selbstverständliche Wort von der „Konstitutionalisierung der Verträge“ war vor wenigen Jahren noch mit einem strengen Tabu belegt. Jeglicher Integrationskonsens ist daher immer wieder Experiment, mit Karl Popper „Stückwerktechnik“, ein Stück weit ergebnisoffen, ein Blick in einen dunklen Spiegel. Abhängig von der relativen Macht der beteiligten Akteure und ihrer jeweiligen Interessen und Ziele ist dabei auch Europas endgültige Form, seine Finalität. Sie kann somit Formen annehmen, die zwar von einem Integrationsschritt zum anderen als rational erscheinen, aus der ursprünglichen Perspektive aber als gänzlich unerwartet und neu. Dieses innovative Potenzial der europäischen Integration vollzieht sich also nach Peter Häberle als „öffentlicher Prozess“ und nach Joseph Schumpeter als „schöpferische Zerstörung“.
Europa erscheint als Frustrationsgemeinschaft, vereint in leidenschaftlicher Ablehnung der komplexen Realitäten föderaler Regierungsführung. Einerseits wird effizientes Regieren eingefordert, das zu Homogenität im Erfolg führen soll, andererseits aber sollen möglichst alle nationalen Eigenarten unangetastet bleiben, Heterogenität wird als Leitmotiv postuliert. Alle föderalen Systeme konstituieren sich in diesem Spannungsfeld zwischen zentrifugalen und zentripetalen Kräften. Der Streit zwischen Partikularität und Universalität ist aber gerade in der Union genetisch.
Das Abendland ist also lebendig wie eh und je: ein Kontinent zwischen Weltgeltung und Weltuntergang, zwischen Euphorie und Ernüchterung, kosmopolitisch und doch kleinstaaterisch. Ein jahrhundertealter Interaktionsraum, ein kultureller Resonanzkörper, voller eifersüchtiger Partikularstaaten, die doch poröse Grenzen besitzen, mit wechselnden Allianzen, Zaungästen und Lokomotiven, polyzentrisch mit einer Vielzahl von einander überlappenden Peripherien. Denk-, Wunsch-, Sprachwelten – voneinander abgeschottet und doch aneinander gebunden, miteinander verbunden. Ein Kontinent der Kulturen, der Minderheiten. In diesem Zusammenhang schließlich gilt: Europa ist nicht Ziel, Europa ist Prozess. Diese Idee verändert Staaten und Bürger, Kollektive wie Individuen. Das ist die große zivilisatorische Leistung des europäischen Projekts. Es geht um nichts Minderes als um die Indienststellung des Nationalen fürs bonum comune europaeum und seinen Beitrag zum Frieden in der Welt. Dieses Friedensprojekt ist Europas wahres Utopia.
CHRISTIAN E. RIECK, geb. 1978, arbeitet nach einem Studium der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften und Tätigkeiten in Mexiko und Florenz als Projektassistent bei der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin.
- 1Jeremy Rifkin: The European Dream – How Europe’s Vision of the Future is quietly eclipsing the American Dream, Los Angeles 2005, S. 358.
- 2Zum offenen Europa-Begriff auch: Peter Häberle: Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden, 2006, S. 101.
- 3Zum „Europäischen Jahrhundert“ etwa Mark Leonard: Perpetual Power: Why Europe Will Run the 21st Century, London 2005, und T.R. Reid: The United States of Europe – The new Superpower and the End of American Supremacy, New York 2004.
- 4So etwa Joschka Fischer: Vom Staatenverbund zur Föderation – Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, Rdn. 41, Forum Constitutionis Europae Spezial 2/00 (2000), www.whi-berlin.de/fischer.html.
- 5So Ulrich Haltern: Gestalt und Finalität, S. 827 ff., in: Armin von Bogdandy (Hrsg.): Europäisches Verfassungsrecht – Theoretische und dogmatische Grundzüge, Berlin 2003.
- 6Roland Sturm: Was ist Europäisierung? Zur Entgrenzung und Einbindung des Nationalstaats im Prozess der europäischen Integration, S. 104 f. und S. 122, in: Gunnar Folke Schuppert, Ingolf Pernice und Ulrich Haltern (Hrsg.): Europawissenschaft, Baden-Baden 2005.
- 7J.H.H. Weiler: To be a European citizen: Eros and civilization, S. 341 ff., in: J.H.H. Weiler: The Constitution of Europe, Cambridge 2004.
- 8Zur Begriffsdefinition des „supranationalen Föderalismus“ siehe: Armin von Bogdandy: Supra-nationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform, Baden-Baden 1999.
- 9Jürgen Habermas: Der 15. Februar – oder: Was die Europäer verbindet, S. 51, in: Jürgen Habermas: Der gespaltene Westen, Frankfurt a.M. 2004.
- 10Ausführlicher und mit weiteren Nennungen: Peter Häberle: Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, S. 72 ff., in: Peter Häberle: Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, Baden-Baden 1999.
- 11Zur „globalen Rechtsgemeinschaft“ siehe Ingolf Pernice: Zur Finalität Europas, S. 772 ff., in: Gunnar Folke Schuppert, Ingolf Pernice und Ulrich Haltern (Anm. 6).
- 12Zum „europäischen Gesellschaftsvertrag“ siehe Häberle (Anm. 2), S. 355.
- 13So der Präsident des Verfassungskonvents Giscard d’Estaing in seiner Eröffnungsrede: http://european-convention.eu.int/docs/speeches/3.pdf. Zur „Imaginationsform Recht“ siehe Ulrich Haltern: Gestalt und Finalität, S. 813 ff. und S. 827 ff., in: Armin von Bogdandy (Anm. 3).
- 14J.H.H. Weiler: The Transformation of Europe, S. 11, in: J.H.H. Weiler (Anm. 7).
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 158 - 167.