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16. Sep 2020

Europas „Sinatra-Doktrin“

Wenn die EU im Verhältnis zwischen den USA und China nicht zwischen den Fronten zerrieben werden möchte, sollte sie beiden Blöcken gegenüber ihren eigenen Weg finden: Sie sollte die Welt aus ihrer Warte betrachten, ihre Werte und Interessen verteidigen und die ihr zur Verfügung stehenden Machtinstrumente nutzen.

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Nild: Flaggen USA, China und EU

Die Beziehungen zwischen den USA und China hatten sich bereits in jeder Hinsicht verändert, als beide Seiten Anfang dieses Jahres in Washington das Abkommen unterzeichneten, mit dem der 2018 begonnene Handelskrieg beendet werden sollte. Heute erstreckt sich die wechselseitige Rivalität auf alle Bereiche; es kommt zur Schließung von Konsulaten und gegenseitigen Schuldzuweisungen. All das spiegelt den Kampf der beiden großen Supermächte um die geopolitische Vorherrschaft in der Welt wider – ganz so, als befänden wir uns in einem neuen Kalten Krieg. Diese Rivalität wird zum vorherrschenden geopolitischen Faktor in der Zeit nach Corona werden; das Virus dürfte als Katalysator für die Entwicklung gewirkt haben.

Welche Rolle wird die Europäische Union in einem solchen Szenario spielen? Wie ist mit einem China umzugehen, das seine neue globale Strategie beharrlich verfolgt? Diese Fragen werden für unsere Zukunft von fundamentaler Bedeutung sein. Wir können hierauf nur dann eine positive Antwort finden, wenn die Mitgliedstaaten eine geeinte Front bilden und wenn wir es schaffen, unsere Gemeinschaftsinstrumente, insbesondere die Macht unseres Binnenmarkts, zu nutzen. Einheit ist in allen Bereichen unserer Beziehung zu Peking von entscheidender Bedeutung, da kein europäisches Land allein in der Lage ist, seine Interessen und Werte gegen ein Land von der Größe und Macht Chinas zu verteidigen. Und ohne Peking werden wir die großen globalen Probleme nicht lösen können – von Pandemien bis hin zum Klimawandel, einschließlich des Aufbaus eines wirksamen Multilateralismus.

In diesem neuen geopolitischen Szenario könnte das Jahr 2020 als Schlüsseljahr für die Beziehungen zwischen der EU und China in die Geschichte eingehen. Trotz der durch die Covid-19-Pandemie entstandenen Schwierigkeiten ist die Intensität der Treffen auf hoher Ebene höher denn je. Das 22. Gipfeltreffen EU–China fand am 22. Juni per Videokonferenz statt und dauerte viel länger als geplant. Am 14. September fand eine Videokonferenz der Führungsspitzen der EU und Chinas statt, an dem auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, für den Vorsitz im Rat, teilnahm.

Ziel ist es, bis Ende 2020 das umfassende Investitionsabkommen zwischen der EU und China zu schließen, über das wir seit 2013 verhandeln. Auf dem Gipfeltreffen mit China im Juni hat die EU Peking gegenüber ihre Enttäuschung über die mangelnden Fortschritte bei der Umsetzung der auf der letzten Tagung im Jahr 2019 erzielten Vereinbarungen zum Ausdruck gebracht. Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, stellte klar, dass Peking seinen Verpflichtungen, den Zugang zum chinesischen Markt auf der Grundlage der Gegenseitigkeit zu gewährleisten und die Beihilfen für staatseigene Unternehmen zu vermindern, nicht nachgekommen ist, wodurch den europäischen Unternehmen ein deutlicher Wettbewerbsnachteil entstanden ist.

Wolfskrieger-Diplomatie

Im Übrigen hat die Corona-Krise für uns Europäer die in den vergangenen Jahren beobachteten Entwicklungen beschleunigt und einige unserer Schwächen in den Beziehungen zu China ans Licht gebracht, während Peking immer selbstbewusster, expansionistischer und autoritärer agiert.

China will die Rolle wiedererlangen, die ihm in der internationalen Politik nach eigener Ansicht rechtmäßig zukommt. 18 Jahrhunderte lang – bis zur ersten industriellen Revolution – war es das reichste Land der Welt. Angus Maddison hat darauf hingewiesen, dass China im Jahr 1820 noch 30 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erzeugt hat – mehr als Europa und die USA zusammen.

China hat sich seit jeher als das Reich der Mitte betrachtet, als die große Zivilisation, die auf dem Konzept „Alles unter dem Himmel“ beruht. Dieser Zentralismus spiegelte sich im sogenannten Kotau wider, der Verbeugung vor dem Kaiser auf den Knien, bis die Stirn den Boden berührte. Dennoch hat das Land nicht unbedingt versucht, seine Werte zu exportieren.

Die Haltung der heutigen chinesischen Spitzenpolitiker ist eine andere – die Initiative „Made in China 2025“ ist Ausdruck ihres Ehrgeizes, eine technologische Weltmacht zu werden. Der „chinesische Traum“ – eine von Präsident Xi verfolgte Vision – wäre das Mittel, um dies zu erreichen. Dieser Führungsanspruch ist der Hauptunterschied zu früheren Zeiten. China will das politische Vakuum füllen, das die USA nach ihrem allmählichen Rückzug von der internationalen Bühne hinterlassen. Sein Ziel ist es, die Weltordnung in ein selektives multilaterales System chinesischer Prägung umzuwandeln, in dem wirtschaftliche und soziale Rechte Vorrang vor politischen und bürgerlichen Rechten hätten.

Diese Strategie wird an mehreren Fronten verfolgt. Ein Teil dieser Strategie ist die Untergrabung internationaler Regelungen, etwa die Nichtumsetzung des Seerechtsübereinkommens der Vereinten Nationen im Südchinesischen Meer. Andere Elemente sind die Förderung der chinesischen Sprache und der chinesischen Ideale als „Gemeinschaft des gemeinsamen Schicksals“ oder die Propagierung einer chinesischen Vision von internationalen Beziehungen; einer Vision, die auf Zusammenarbeit, geteilten Interessen und gemeinsamer Verantwortung und einer Zusammenarbeit bei der Bekämpfung trans­nationaler Bedrohungen beruht – alles unter der Prämisse, dass kein politisches Modell universell angewandt werden kann. Außerdem übernimmt man hochrangige Funktionen im System der Vereinten Nationen, in dem China zugegebenermaßen lange unterre­präsentiert war, und kürzt die Finanzmittel für multilaterale Initiativen im Bereich der Menschenrechte.

Vorbei sind die Tage der chinesischen Außenpolitik, die sich an der Rede Deng Xiaopings vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Jahr 1974 orientierte. Er sagte damals: „China ist keine Supermacht und wird auch nie anstreben, eine zu sein. Was ist eine Supermacht? Eine Supermacht ist ein imperialistisches Land, das andere Länder überall seiner Aggression, Einmischung, Kontrolle, Unterwanderung oder Plünderung unterwirft und nach Welthegemonie strebt.“

Der neue Stil der chinesischen Außenpolitik ist auch unter dem Namen „Wolfskrieger-Diplomatie“ bekannt – eine Bezeichnung, die aus einer chinesischen Actionfilm-Reihe nach dem Vorbild der US-Filmserie Rambo stammt. Bei diesem neuen Ansatz kommt China in der Welt eine immer wichtigere Rolle zu; es tritt unmissverständlich und bedingungslos für seine wichtigsten Interessen ein. Hochrangige chinesische Diplomaten reagieren aggressiv auf jegliche Regimekritik in den ausländischen sozialen Medien, die in China generell verboten sind.

So hat beispielsweise Australien, das mit 32,6 Prozent seiner Ausfuhren stark vom Handel mit China abhängig ist, das Selbstbewusstsein der Chinesen unmittelbar zu spüren bekommen. Nachdem der australische Premierminister Scott Morrison die Weltgesundheitsorganisation zu einer Untersuchung der Herkunft des Coronavirus aufgefordert hatte, reagierte China mit der Verhängung von Zöllen in Höhe von 80,5 Prozent auf australische Gerstenausfuhren und mit der Aussetzung von Lizenzen, die 35 Prozent der australischen Rindfleischausfuhren nach China betrafen. Sollten die Maßnahmen auf andere Sektoren ausgedehnt werden, könnte dieser Streit Australien voraussichtlich 1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts kosten.

Den Feind ohne Kampf unterwerfen

Historisch gesehen hat sich Chinas Haltung gegenüber dem Rest der Welt im Laufe der Jahrhunderte deutlich verändert. Unter der Song-Dynastie (960–1279) hatte das Land bei der nautischen Technologie eine Führungsrolle inne. Es nutzte sie jedoch nicht, um Gebiete zu besetzen und ein Kolonialreich in Übersee zu errichten. Zwischen 1405 und 1433, noch vor den Entdeckungsreisen der Europäer, segelte Admiral Zheng He mit einer Flotte, die die spanische Armada von 1588 an Größe und Entwicklungsstand weit übertraf, nach Java, nach Indien, ans Horn von Afrika und in die Straße von Hormuz. Im Gegensatz zu damals ist China heute bereit, seinen technologischen und militärischen Vorsprung zum Ausbau seines politischen Einflusses zu nutzen.

Nach Angaben des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) sind die Militärausgaben Chinas in den vergangenen 30 Jahren weltweit von knapp über 1 Prozent auf 14 Prozent gestiegen und werden dieses Jahr erneut um 6,6 Prozent steigen. Es ist offensichtlich, dass nach dem Willen Xi Jinpings die einstige „Volksbefreiungsarmee“ bis 2049 zur wichtigsten Macht in Sachen Militärtechnologie werden soll. Anlässlich des 70. Jahrestags der Gründung der Volksrepublik China stellte das Land stolz sein Atomwaffenarsenal zur Schau, das zu Land, in der Luft und auf See eingesetzt werden kann.

Das nach den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz im Jahr 1989 gegen China verhängte Waffenembargo ist nach wie vor in Kraft, allerdings ist das Land nicht mehr von der Einfuhr militärischer Ausrüstung abhängig. Es hat eine erstklassige Rüstungsindustrie aufgebaut, insbesondere Marinewaffen und ballistische Flugkörper, und seine Ausfuhren steigen von Jahr zu Jahr. Auch wenn die Kapazitäten der chinesischen Armee noch immer weit hinter denen der USA zurückbleiben, ist der Abstand doch weit geringer als noch vor einigen Jahrzehnten, und in einigen Bereichen gibt es sogar kaum noch Unterschiede. Binnen Jahresfrist wird China über vier einsatzfähige Flugzeugträger verfügen, und in mehreren Berichten von amerikanischer Seite wird darauf hingewiesen, dass China inzwischen eine große Herausforderung für die Vormachtstellung und Kontrollmacht der US-Marine im Westpazifik darstellt.

Noch deutlicher sichtbar wird Chinas Expansionismus im Südchinesischen Meer, wo Peking – in einem Verstoß gegen das Schiedsurteil von 2016 zugunsten seiner südost­asiatischen Nachbarn – seine Präsenz durch die Schaffung künstlich angelegter Inseln als militärische Stützpunkte ausgebaut hat. Und dann sind da noch Länder wie Nepal, Myanmar und Sri Lanka, die alle im Einflussbereich der indischen Außenpolitik liegen. Die Spannungen zwischen Peking und Neu-Delhi haben sich in jüngster Zeit verschärft, wie die militärischen Zusammenstöße an der umstrittenen Grenze im Himalaya zeigen.

Die chinesische Realpolitik beruht darauf, geduldig und diskret Schritt für Schritt vor Ort vollendete Tatsachen zu schaffen. Brettspiele veranschaulichen sehr gut, wie Chinesen denken und worin sie sich von Europäern unterscheiden. Während wir in Europa gerne Schach spielen, das mit einem Gesamtsieg (Schachmatt) endet, bevorzugen Chinesen das Spiel Go, bei dem es darum geht, leere Felder auf dem Brett zu besetzen, um die Steine des Gegners einzuschließen und seine Reaktionsfähigkeit einzuschränken. Wie der bekannte chinesische Stratege Sunzi in „Die Kunst des Krieges“ sagte, besteht diese Kunst darin, den Feind ohne Kampf zu unterwerfen und vor Ort Situationen zu schaffen, die die eigene Position stärken und die des Gegners schwächen.

Welle der Unterdrückung

Im Jahr 2001 hat der Westen den Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation (WTO) begrüßt; er war überzeugt, dass die Liberalisierung des Handels mit politischer Offenheit – „Wandel durch Handel“ – einhergehen würde. Frankreich glaubte darüber hinaus, dass „le doux commerce“ die Spannungen mildern und zu einer Annäherung der politischen Systeme führen würde. Dieser Glaube hat sich seit einiger Zeit als falsch erwiesen. Es ist nicht zu einer Konvergenz gekommen. Ganz im Gegenteil, die Divergenz hat in den vergangenen Jahren zugenommen. China ist das Paradigma, das die Theorie widerlegt hat, wonach wirtschaftliche und politische Offenheit zwei Seiten derselben Medaille sind. Die neuen technologischen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung und zur Überwachung der Bevölkerung haben hier erheblichen Einfluss gehabt. Diese Tendenz dürfte sich noch weiter fortsetzen.

Jedes Anzeichen von Abweichlertum lässt sich leicht durch leistungsfähige Instrumente der Massenüberwachung und den beherrschenden Einfluss, den die Partei auf den Staat hat, unterdrücken. In den vergangenen Jahren haben wir mit Besorgnis eine Zunahme der Menschen­rechtsverletzungen in China, eine verstärkte Verfolgung von Menschenrechts­verteidigern, Journalisten und Intellektuellen und die massive Unterdrückung der Uiguren in Xinjiang beobachtet.

Die Verschlechterung der Lage in Hongkong ist ein deutliches Beispiel für diese Welle der Unterdrückung. Vor Kurzem habe ich im Namen der 27 EU-Mitgliedstaaten die ernste Besorgnis der EU über die Verhängung des neuen Gesetzes über die nationale Sicherheit in Hongkong zum Ausdruck gebracht, das dem Grundsatz „ein Land, zwei Systeme“ und den Verpflichtungen Chinas gegenüber der internationalen Gemeinschaft zuwiderläuft.

Auf Bitte der europäischen Außenministerinnen und Außenminister habe ich eine Reihe von Maßnahmen als Reaktion auf diese Verletzung der Autonomie Hongkongs vorgestellt. Diese beinhalten eine Beschränkung der Ausfuhr von Überwachungstechnologie, eine Überprüfung der Auslieferungsabkommen, die verschiedene Mitgliedstaaten mit Hongkong geschlossen haben, und eine Erhöhung der Zahl der Stipendien und Visa für Studierende aus Hongkong.

Europas eigener Weg

Wenn die EU in dem konfliktträchtigen Verhältnis zwischen den USA und China nicht zerrieben werden möchte, muss sie ihre ganz spezielle Antwort finden, die Welt aus ihrem eigenen Blickwinkel betrachten und in Verteidigung ihrer Werte und Interessen handeln; Interessen, die nicht immer mit denjenigen der USA übereinstimmen. Kurz gesagt, die EU muss – wie ich das schon einmal angemerkt habe – „ihren eigenen Weg“ gehen. Dies hat dazu geführt, dass einige Beobachter diesen Ansatz unter Verweis auf Frank Sinatras Song „My Way“ als „Sinatra-Doktrin“ bezeichnen. Das stört mich nicht, wenn ich so meine Botschaft besser vermitteln kann. Ich hätte auch sagen können, dass Europa seine strategische Autonomie oder seine Souveränität erweitern muss, aber das hätte wohl ein geringeres Echo gefunden.

Diese „Doktrin“ beruht auf zwei Säulen: die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Peking zwecks Bewältigung globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Bekämpfung des Coronavirus, regionaler Konflikte oder Entwicklung Afrikas, und dabei gleichzeitig die Stärkung der strategischen Souveränität der EU durch den Schutz der Technologiebranchen unserer Wirtschaft, die der Schlüssel für die Gewährleistung der Unabhängigkeit und für die Förderung der europäischen Werte und Interessen auf internationaler Ebene sind.

Es geht nicht um einen Politikwechsel, sondern um eine Weiterentwicklung im Rahmen der EU-Strategie gegenüber Peking aus dem Jahr 2019. Seinerzeit wurde China als strategischer Partner, mit dem die EU zusammenarbeitet, und gleichzeitig als wirtschaftlicher Konkurrent und Rivale im Wettbewerb der Systeme herausgestellt. Wir sollten jedoch nicht in eine vereinfachende Schwarz-Weiß-Sichtweise verfallen: Unser Verhältnis zu China ist kompliziert und wird unvermeidlich kompliziert bleiben. Das Land ist unser zweitgrößter Handelspartner, und wir brauchen Peking, wenn wir globale Probleme lösen wollen. Gleichzeitig ist China zwangsläufig in technologischer und wirtschaftlicher Hinsicht ein Konkurrent. Daneben beruhen die Schwierigkeiten im Verhältnis zu China auf dem Unterschied zwischen den beiden politischen Systemen.

Nachdem mit Beginn der Pandemie konkurrierende Narrative entstanden waren und China eine „Politik der Großzügigkeit“ (ein Ausdruck, den ich als einer der Ersten verwendet habe und der mir reichlich Kritik eingetragen hat) betrieb, die dann später in „Maskendiplomatie“ umgetauft wurde, muss die EU nun ihre Strategie auf drei Säulen stützen: erstens auf den Kampf gegen chinesische Desinformationskampagnen, zweitens auf den Widerstand gegen einen selektiven Multilateralismus – wobei China den Multilateralismus nur dann verteidigt, wenn es ihm gerade passt. Und drittens müssen wir dafür sorgen, dass China seine Verpflichtungen einhält, damit für die europäischen Unternehmen in China der gegenseitige Marktzugang sowie der Zugang zu Innovations- und Forschungsprogrammen gegeben ist. Wir müssen unbedingt unsere Wirtschaftsbeziehungen ausgewogen gestalten und mit einigen naiven Vorstellungen der Vergangenheit aufräumen.

Schutz der europäischen Interessen

Unabhängigkeit von zwei Wettbewerbern bedeutet nicht, zu beiden den gleichen Abstand zu halten. Unsere lange gemeinsame Geschichte und die mit den USA geteilten Werte bedeuten, dass wir Washington näherstehen als Peking. So ist etwa die Zusammenarbeit mit den USA im Rahmen der NATO von auschlaggebender Bedeutung für die Verteidigung Europas.

Damit wir jedoch in der Lage sind, als Europäer weiterhin unabhängig politische Entscheidungen zu treffen, müssen wir in strategische Souveränität investieren.

Daher haben wir in der EU jüngst Maßnahmen zum Schutz unserer Interessen getroffen, wie etwa handelspolitische Schutzinstrumente, die Verordnung zur Überprüfung ausländischer Investitionen oder das Weißbuch über das Vorgehen gegen Subventionen für ausländische Unternehmen, die den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt verzerren. Das internationale Beschaffungsinstrument befindet sich derzeit im Annahmeverfahren. Auch wenn sich diese Maßnahmen nicht speziell gegen ein bestimmtes Land richten, so dürften ihre Auswirkungen doch eine Korrektur des Ungleichgewichts in unserem Handel mit China bewirken.

Zu den wichtigsten Gründungszwecken der Organisation, die wir heute die EU nennen, gehörte die Verteidigung der Werte und Interessen Europas unter Wahrung seiner Einheit. In unseren Gründungsverträgen werden beide ausdrücklich genannt. Ich denke aber nicht, dass wir gezwungen sein sollten, zwischen dem Schutz unserer Wirtschaft und dem Schutz unserer Grundwerte zu wählen. Auch wenn einzelne Unternehmen in bestimmten Sektoren stark auf China angewiesen sind – die Zahlen belegen, dass wir insgesamt nicht so sehr von China abhängen, wie viele glauben. Beispielsweise gehen nur 7 Prozent der deutschen Warenausfuhren nach China. Und Deutschland ist das europäische Land, das am meisten nach China exportiert. Hinsichtlich des Mehrwerts stellten 2015 die deutschen Ausfuhren nach China 2,8 Prozent des gesamten Mehrwerts der Ausfuhren des Landes dar, wie eine Studie von Jürgen Matthes im Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft aufzeigt.

Die Abhängigkeit von China in bestimmten Sektoren wie etwa der Automobilindustrie ist jedoch offensichtlich. Von den zehn Millionen Automobilen, die beispielsweise die Volkswagen-Gruppe im Jahr 2018 verkaufte, wurden vier Millionen auf dem chinesischen Markt abgesetzt, was 40 Prozent des Absatzes der Gruppe ausmachte. Wir neigen dazu, auf die Bedeutung von Drittländern für unsere Volkswirtschaften zu achten und dabei den Handel mit unseren europäischen Partnern außer Acht zu lassen. Es ist aber so, dass 60 Prozent der deutschen Ausfuhren in EU‑Länder gehen. Damit soll nicht von der bedeutenden Rolle abgelenkt werden, die der Nachfrage aus Asien – insbesondere aus China – in Schlüsselsektoren der deutschen Industrie zukommt.

Es tritt immer klarer zutage, dass China unsere Wirtschaftsbeziehungen zu seinen Gunsten ausnutzt. So hat Chinas Entscheidung, sich beim Beitritt zur WTO als Entwicklungsland zu bezeichnen, es dem Land ermöglicht, Handelszugeständnisse oder substanzielle Zusagen für eine Verringerung der Emissionen von umweltschädlichen Gasen zu vermeiden. Ferner subventioniert China seine staatseigenen Unternehmen und weist die meisten Handels- und Investitionsbeschränkungen auf, wie es in einem Bericht der Kommission aus dem Jahr 2019 heißt. Die europäischen Unternehmen leiden unter Ungleichbehandlungen beim Zugang zum chinesischen Markt, insbesondere bei öffentlichen Ausschreibungen. Unsere Beziehungen sind in Anbetracht des aktuellen Entwicklungsstands Chinas viel zu asymmetrisch. Und das muss korrigiert werden.

Wenn wir das jetzt nicht leisten, wird es in wenigen Jahren zu spät dafür sein. Der Anteil der chinesischen Produkte in der Wertschöpfungskette und unsere wirtschaftliche und technologische Abhängigkeit werden weiter steigen. Parallel zu unserer strategischen Autonomie müssen die Anstrengungen der EU in technologischer Hinsicht stärker werden. Wir müssen vermeiden, dass es dazu kommt, dass – wie mein Freund Enrico Letta sagt – wir Europäer nur noch die Wahl haben, entweder eine Kolonie Chinas oder eine Kolonie der USA zu sein. Wie ich zu Anfang bemerkt habe, hängt der Schlüssel zu unserem Erfolg weithin von der Fähigkeit ab, das Potenzial des Binnenmarkts auszuschöpfen, die Einheit zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren und an unseren internationalen Standards festzuhalten.

Kein neuer Kalter Krieg

Die zweite Säule der so genannten „Sinatra-Doktrin“ ist die Zusammenarbeit. Ich kann gar nicht stark genug betonen, dass die Zusammenarbeit mit Peking für die Bewältigung vieler globalen Heraus­forderungen von grundlegender Bedeutung ist. Hierfür ist der Kampf gegen den Klimawandel das offensichtlichste Beispiel. Auf die EU entfallen 9 Prozent der weltweiten Emissionen, während China für 28 Prozent verantwortlich ist. Auch wenn wir Europäer durch ein Wunder ab morgen keine CO2-Emissionen mehr ausstoßen würden, würde das global nicht sehr viel ändern. Wir können den Klimawandel nur wirksam bekämpfen, wenn es uns gelingt, neben unseren eigenen klimabezogenen Anstrengungen auch die großen Emissionsverursacher wie China, die USA und Indien für Verringerungen zu gewinnen, und wenn Afrika einem Entwicklungspfad folgt, der sich von dem Weg unterscheidet, den wir in der Vergangenheit verfolgt haben.

Wir hängen zu sehr voneinander ab, um uns wirtschaftlich von China abzukoppeln, wie es die Regierung von US-Präsident Donald Trump gerne hätte. Das Coronavirus wird die Globalisierung verändern, nicht stoppen. Von einem neuen Kalten Krieg zu sprechen, wie es einige Analysten tun, ist irreführend, weil die USA und die UdSSR nie so eng miteinander verknüpft waren wie die USA und China heute. Wie ich bereits mehrfach angemerkt habe, hängt paradoxerweise die Stabilität des Dollars – und damit des gesamten kapitalistischen Systems – in hohem Maße von China ab, da das Land nach Japan der weltweit zweitgrößte Inhaber von US-Staatsanleihen ist. Die gegenseitige Abhängigkeit ist in Europa genauso groß: Der Handel zwischen der EU und China beläuft sich auf eine Milliarde Euro pro Tag.

Ferner hat sich die Strategie der offenen Konfrontation mit China für die USA als ausgesprochen kostspielig erwiesen. Nach einem Bericht der US-Zentralbank haben die US-Zölle nicht zu einer Erhöhung der Beschäftigung oder einer Steigerung der Industrieproduktion geführt, sondern vielmehr die Herstellungskosten verteuert. Nach Schätzungen von Moody’s Analytics hat der Handelskrieg Washington rund 300 000 Arbeitsplätze und 0,3 Prozent des BIP gekostet. Amerikanische Wirtschaftswissenschaftler haben ausgerechnet, dass der Handelskrieg jede Familie in den USA rund 800 Dollar pro Jahr kosten wird.

Gegenüber denjenigen, die irrigerweise einen neuen Kalten Krieg – mit einer in zwei Blöcke aufgespaltenen Welt – befürworten, sollte die EU ihre Interessen fördern; aber sie sollte dies in enger Abstimmung mit Ländern tun, die für einen neuen und wirksamen Multilateralismus und den Vorrang des Völkerrechts eintreten.

 

Josep Borrell ist der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik der EU und Vizepräsident der Europäischen Kommission.

Bibliografische Angaben

IP Online Exklusiv, September 2020

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