Die Post-Corona-Welt ist schon da
Was lernen wir aus der aktuellen Krise? Auf internationaler Ebene muss Globalisierung neu gestaltet werden, um die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ungleichgewichte zu überwinden. Und in Europa muss die EU als handlungsfähiger Akteur auftreten und ihr Modell der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten endlich voranbringen.
Wenn ich mit einer Schutzmaske durch die verlassenen Straßen Brüssels oder über die leeren Flure der Kommissionsgebäude laufe, packt sie mich auch, diese Schockstarre. Diese Schockstarre ist überall spürbar, wo auch immer man hingeht, wo auch immer man sich aufhält. Spürbar auf dem Markusplatz in Venedig, der menschenleer ist, während die Fische in eine Lagune zurückkehren, in der das Wasser wieder glasklar ist. Spürbar in Jerusalem, wo die Grabeskirche erstmals seit der Pest von 1349 an einem Karfreitag geschlossen blieb. Spürbar in den USA, wo die Zahl der Arbeitslosen innerhalb von vier Wochen um 20 Millionen gestiegen ist. Spürbar schließlich in Spanien und Italien, wo man Ende April auf die traurige Zahl von 45 000 Todesfällen kam.
Die durch COVID-19 verursachte Gesundheitskrise ist unglaublich schnell zu einem wirtschaftlichen und sozialen Schock ungekannten Ausmaßes geworden. Diesen Stillstand, bei dem Milliarden Menschen zu Hause bleiben müssen, hätte sich so kein Wirtschaftswissenschaftler vorstellen können. Die Folgen werden daher weit über das hinausgehen, was wir in der Finanzkrise von 2008 erlebt haben.
Frühe Warnungen
Als Erstes stellt sich die – wenngleich für die Lösung des Problems kaum hilfreiche – Frage, ob diese Pandemie vermeidbar gewesen wäre. Im Bericht des National Intelligence Council von 2008 wurde das Risiko einer neuartigen, hochansteckenden und virulenten Atemwegserkrankung, für die es keine Behandlung gibt, erwähnt. Präsident Barack Obama hatte auf dieses Risiko hingewiesen. Auf der Konferenz der Massachusetts Medical Society im Jahr 2018 anlässlich des 100. Jahrestags der „spanischen Grippe“, bei der 50 Millionen Menschen – und damit 2 Prozent der damaligen Weltbevölkerung – ums Leben kamen, äußerte Bill Gates die Überzeugung, dass die nächste Weltkatastrophe in Form einer Pandemie auftreten werde, verursacht durch ein hoch infektiöses Virus, das sich rasch weltweit ausbreiten werde und auf das wir nicht vorbereitet seien. Es ist durchaus berechtigt, sich zu fragen, warum sich die internationale Gemeinschaft nicht gut darauf vorbereitet hat, und wie sie dies künftig tun könnte. Denn es liegt auf der Hand, dass dieses neuartige Coronavirus nicht das letzte sein wird.
Wenn wir die Schockstarre, in der wir derzeit leben, überwunden haben, gilt es, die Folgen dieses Ereignisses zu bewerten und dabei zwei Fehler zu vermeiden. Angesichts der Ungewissheit, die mit dieser Krise einhergeht, dürfen wir keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen. Außerdem dürfen wir uns von der Schockstarre nicht zu schnell zu dem Schluss verleiten lassen, dass sich alles ändern wird. In der Geschichte der menschlichen Gesellschaften sind großen Brüchen immer Vorzeichen oder Vorfälle vorausgegangen, die auf solche Veränderungen hindeuten. Größere Krisen tendieren generell dazu, bestehende Trends zu beschleunigen. Deswegen ist es wohl angezeigt, im Hinblick auf die Auswirkungen von COVID-19 zu betrachten, auf welche Art und Weise diese Krise die bereits bestehende Dynamik verstärken kann.
Um welche Dynamik geht es hier? Ich sehe drei Bereiche:
- die Zukunft der Globalisierung und des Neoliberalismus,
- die Entwicklung der Weltordnungspolitik,
- die Resilienz der EU und der europäischen demokratischen politischen Systeme beim Umgang mit schwerwiegenden und unvorhergesehenen Risiken.
Die Entwicklung der Dynamik in diesen drei Bereichen wird die Konturen der Post-Corona-Welt prägen – einer Welt, die in gewisser Weise heute schon da ist.
Die Zukunft der Globalisierung und des Neoliberalismus
Diese Pandemie wird nicht das Ende der Globalisierung bedeuten. Sie wird jedoch eine Reihe von Modalitäten und ideologischen Grundlagen der Globalisierung infrage stellen, darunter insbesondere das berühmte neoliberale Trio: Marktöffnung, Entstaatlichung und Privatisierung. Diese Fragen wurden schon vor der Krise aufgeworfen. Sie zu hinterfragen, wird nach der Krise weiter zunehmen.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Globalisierung durch die Entwicklung immer zahlreicherer und weiter reichender Wertschöpfungsketten intensiviert. Durch diese Wertschöpfungsketten kann die Herstellung von Gütern auf verschiedene Standorte verteilt werden, um die Produktionskosten zu minimieren. Dies war angesichts des massiven Rückgangs der Transportkosten und der Entwicklung der Telekommunikation ohne größere Schwierigkeiten möglich. Die Digitalisierung der Wirtschaft hat diesen Trend noch verstärkt, und viele Schwellenländer haben davon profitiert: insbesondere China, das einen großen Teil der Textil- und der Unterhaltungselektronikproduktion übernommen hat, aber auch Indien in anderen Industriezweigen wie der Pharmazeutik.
In Wuhan, wo die Pandemie ihren Ausgang genommen hat, hatten sich mehr als 300 der 500 weltweit größten Firmen niedergelassen. Diese Ausweitung der Wertschöpfungsketten und die Tatsache, dass diese so leicht aufgebaut werden konnten, haben natürlich den Eindruck erweckt, dass es kein Angebotsproblem mehr gibt, da es weltweit ein so umfangreiches Angebot gab. Statt Lagerhaltung setzte man nun auf „just in time“. So sehr, dass Lagerhaltung fast zu einer unökonomischen Praxis geworden ist. Selbst die Staaten, die sich am besten auf ein Pandemierisiko vorbereitet hatten, haben im Laufe der Jahre in ihrer Wachsamkeit nachgelassen. Selbstverständlich werden die Wertschöpfungsketten nach der Krise nicht verschwinden, da sie nach wie vor erhebliche wirtschaftliche Vorteile bieten. Es ist aber zu erwarten, dass diese Dynamik durch drei Strategien teilweise Veränderungen erfahren wird.
Andere Wertschöpfungsketten
Die erste Strategie besteht in einer Diversifizierung der Versorgungsquellen im Gesundheitsbereich. So sind wir zum Beispiel bei der Einfuhr einer Reihe von Produkten, insbesondere bei Schutzmasken und Schutzkleidung, ganz massiv von China abhängig (50 Prozent). Ferner stammen 40 Prozent der von Deutschland, Frankreich oder Italien eingeführten Antibiotika aus China‚ wo auch 90 Prozent des weltweit verbrauchten Penicillins produziert werden. Heutzutage wird in Europa kein Gramm Paracetamol mehr hergestellt. Die Anlegung eines Inventars oder einer strategischen Reserve wesentlicher Produkte würde es ermöglichen, sich auf europäischer Ebene vor Engpässen zu schützen und sicherzustellen, dass diese Produkte europaweit verfügbar sind. Die Schaffung des EU-Programms „RescUE“, das diesem Risiko insbesondere durch eine gemeinsame Nutzung der Mittel begegnen soll, ist hier ein erster Schritt. Zu diesem Zweck muss die Abhängigkeit von den Ausfuhrländern bei den einzelnen wesentlichen Produkten begrenzt werden, um zu vermeiden, dass ein zu großer Teil der Einfuhren dieser Produkte auf einzelne Länder entfällt.
Wir müssen uns schützen – aber sich schützen heißt nicht, dem Protektionismus zu verfallen. Sich schützen heißt vermeiden, dass wir durch Schocks wie den, den wir gerade erleben, in eine extreme Abhängigkeit von ausländischen Lieferanten geraten. Denn die Globalisierung besteht nicht einfach aus nahtlos ineinander greifenden Netzen, zu denen jeder Zugang hätte, sondern aus strategischen Knotenpunkten, die von bestimmten Akteuren beherrscht werden, die diese im Krisenfall zu ihrem Vorteil kontrollieren oder blockieren können.
Näher an die Verbraucher
Die zweite Strategie betrifft die Verlagerung einer Reihe von Tätigkeiten, indem diese wieder näher an den Ort des Verbrauchs gerückt werden. Die Entwicklung wird sicherlich hin zu einer Verkürzung der Wertschöpfungsketten gehen, was sich zudem bestens mit den Erfordernissen des Klimaschutzes decken kann. Dies wird wahrscheinlich dazu führen, dass die Kosten der Produkte steigen. Aber auf eine Abwägung zwischen dem Erfordernis der Sicherheit und dem Streben nach den geringsten Kosten für den Verbraucher wird man künftig nicht verzichten können. Angesichts dieser Krise müssen wir uns bewusst werden, dass die Interessen der Bürgerinnen und Bürger Vorrang vor den Verbraucherinteressen haben müssen. Japan – ein wirtschaftlich sehr offenes Land, das sicherlich nicht zu Protektionismus neigt – hat als erstes Land einen Plan erstellt, der explizit darauf abzielt, den Rückzug in China niedergelassener japanischer Unternehmen zu finanzieren und diese entweder nach Japan oder in andere asiatische Länder zu verlagern. In Europa muss über dieses Thema jenseits des Silodenkens, das uns daran hindert, zu bestimmten Themen eine strategische Gesamtsicht zu erlangen, nachgedacht werden. Es geht nicht darum, Sektoren, die ausgelagert wurden, wieder in Europa aufzubauen, aber es gibt sicherlich strategische Segmente, bei denen es wichtiger denn je ist, dass sie bei uns angesiedelt sind, die wir aber aus finanziellen oder ökologischen Gründen ausgelagert haben.
Europas wohlverstandenes Interesse
Und ganz grundsätzlich werden wir uns mit unseren Prioritäten auseinandersetzen müssen. Wäre es nicht sinnvoller, künftig mehr Tätigkeiten in den Maghreb-Ländern oder in Afrika anzusiedeln statt in Asien? Wobei das eine das andere ja nicht ausschließen muss. Aber heute liegen die Priorität und das wohlverstandene Interesse Europas darin, dass sich seine unmittelbare Peripherie zügig und gut entwickelt. Wenn wir also über die Entwicklung strategischer Partnerschaften mit Afrika sprechen, müssen wir sorgfältig prüfen, in welchen Bereichen diese Gestalt annehmen und wo sie aufgebaut werden können. Und der Arzneimittelsektor ist eindeutig einer dieser Bereiche. Dies ist durch Studien belegt. Unser politisches Interesse besteht darin, nicht zu stark von Dritten abhängig zu sein, die uns unsere Abhängigkeit auf die eine oder andere Weise spüren lassen könnten.
Schließlich wird die dritte Strategie wahrscheinlich darin bestehen, alternative technologische Verfahren einzusetzen, beispielweise eine breite Nutzung von 3D-Druck oder Robotern, um die Standortverlagerungsrisiken einzudämmen. In Italien ist es gelungen, mit einem 3D-Drucker sehr schnell und zu extrem niedrigen Kosten Ventile für Intensiv-Beatmungsgeräte herzustellen. Und hier ist es zwar absolut unerlässlich, dass jeder sich auf seiner Seite um eine größere gesundheitliche Sicherheit bemüht, gleichzeitig muss jedoch darauf geachtet werden, dass dies nicht letztlich zu einem Protektionismus führt, der bei Medizinprodukten beginnt und sich dann Schritt für Schritt auf alle Tätigkeiten ausdehnt, die von den einzelnen Ländern als wesentlich angesehen werden.
Daher muss eine neue Ausgewogenheit gefunden werden, um einen weitreichenden protektionistischen Trend zu verhindern, der zu einer weltweiten Depression führen würde. Dies ist sehr wichtig für Europa, das weltweit am stärksten vom Welthandel abhängig und gegenwärtig auch am stärksten vom Wirtschaftsabschwung betroffen ist. Wir wissen nur zu gut, dass der Grat zwischen der Krise, die wir derzeit erleben, und einer drohenden allgemeinen Depression, äußerst schmal ist. Dies gilt umso mehr für die Länder des Südens, wo die Pandemie noch nicht in vollem Ausmaß ausgebrochen ist, wo aber bei einem Ausbruch erhebliche Schäden drohen.
Die Fehler von 2009 nicht wiederholen
Kurz gesagt, müssen wir die Modalitäten einer neuen Globalisierung erfinden, bei der ein neues Gleichgewicht zwischen den unbestreitbaren Vorteilen der Marktöffnung und der Interdependenz auf der einen Seite und den Erfordernissen der Souveränität und der Sicherheit der Staaten auf der anderen Seite gefunden werden kann. In der Weltgeschichte gab es nur wenige Zeitpunkte, an denen Gesellschaften die Gelegenheit hatten, sich zu überdenken, da sie zumeist im Alltagstrubel gefangen waren. Heute bietet sich uns die Chance, einen Moment innezuhalten und diese Zeit zu nutzen, um über uns selbst nachzudenken.
Aus dieser Sicht ist es klar, dass wir den Fehler von 2009 nicht wiederholen dürfen, als die Treibhausgasemissionen nach einem vorübergehenden Rückgang wieder weiter angestiegen sind, als ob nichts geschehen wäre. Wir können es uns nicht leisten, diesen Fehler zu wiederholen.
Eine neue Globalisierung
Eine Pandemie wird nicht durch Wildtiere verursacht. Eine Pandemie entsteht als Folge der Entwaldung, des Verlusts des natürlichen Lebensraums wildlebender Tiere, der Verringerung der Artenvielfalt, der übermäßigen Nutzung von Ressourcen, die Wildtiere in Kontakt mit Menschen in dicht besiedelten Ballungsräumen bringt. Diese Krise ist das unbestreitbare Zeichen dafür, dass unsere Ökosysteme überlastet sind. Eine Krise, die uns also mit einem Bumerang-Effekt trifft. Daher ist es unerlässlich, dass der Kampf für die Erhaltung der biologischen Vielfalt mehr denn je zu einem wichtigen Bestandteil des Klimaschutzes wird. Unter diesen Umständen ist es nicht übertrieben, von einer neuen Globalisierung zu sprechen, da sich die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Ungleichgewichte, die sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht haben, als unhaltbar erweisen.
Die Globalisierung wird daher künftig anders aussehen. Und auch die Gestalt des Staates wird sich wandeln, weil die Verringerung staatlicher Eingriffe das Herzstück der neoliberalen Ideologie war. Diese Krise zeigt deutlich auf, dass der spontane Ruf nach staatlichem Handeln lauter wird und dass Länder mit gut ausgebauten Sozialschutzsystemen besser für die Krise gerüstet sind als diejenigen, die ihre Mitbürger den Kräften des Marktes überlassen. Die Tatsache, dass Europa zur Bewältigung des krisenbedingten Produktionsrückgangs auf Kurzarbeit setzt, statt Personal zu entlassen, ist ein Zeichen für die Besonderheit des europäischen Modells. Aber es kann auch nicht angehen, dass der Staat hier überfürsorglich wird und sich um alles kümmert, bis hin zur Herstellung von Schutzmasken.
Vielmehr geht es jetzt darum, die strategische Fähigkeit des Staates, vorauszuschauen und die Gesellschaft auf solche Herausforderungen vorzubereiten, wiederherzustellen. Die Staaten, die die Gesundheitskrise in den letzten drei Monaten am besten bewältigt haben, sind diejenigen, in denen die staatlichen Strukturen am besten organisiert sind. Es ist die Qualität des Staates, die zählt, nicht nur sein Umfang.
Die Wiederherstellung der strategischen Rolle des Staates
Dies wird nach der Krise zu den Prioritäten zählen. Das wird in Europa, das auf einer Kombination von Nationalstaaten und einem gemeinsamen Binnenmarkt basiert, nicht leicht zu bewerkstelligen sein. Wegen der Vorgaben, die für die Schaffung dieses Binnenmarkts zu erfüllen waren, werden nun alle Schutzmaßnahmen durchweg als Hindernisse für den Aufbau dieses Marktes betrachtet. Dies hat dazu geführt, dass zwar die europäischen Staaten nach und nach ihre Schutzmaßnahmen abgeschafft haben, um die Errichtung des Binnenmarkts zu ermöglichen, Europa dann aber vergessen hat, für einen kollektiven Schutz zu sorgen. Daher haben wir uns auch erst recht spät mit den strategischen Fragen insbesondere im Zusammenhang mit der Gegenseitigkeit des Marktzugangs befasst.
Erfreulicherweise sind hier nun erste Veränderungen zu beobachten, und die aktuelle Krise kann diesen Kurswechsel durchaus beschleunigen. In Europa ist nun immer häufiger die Rede von einer besseren Kontrolle ausländischer Investitionen und der Wettbewerbsverzerrungen, die von Drittstaaten ausgehen. Auch die staatlichen Beihilfen werden derzeit überprüft, und die Kommission hat gerade die einschlägigen Vorschriften gelockert. Es geht nicht an, dass wir unser Augenmerk weiterhin vor allem auf innereuropäische Verzerrungen richten und dabei die Verzerrungen, die von unseren außereuropäischen Wettbewerbern ausgehen, vernachlässigen.
Europa darf nicht schutzlos ausgeliefert sein
Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Als China jüngst die Lizenzen für 5G vergeben hat, wurde deutlich, wie stark die europäischen Betreiber an den Rand gedrängt werden. So haben Nokia und Ericsson vor Kurzem nur einen Anteil von 11,5 Prozent des chinesischen Marktes erzielen können, während es bei 4G noch 25 Prozent waren. Demgegenüber hält Huawei bereits 30 Prozent des europäischen Marktes für 5G. Darüber hinaus müssen wir bereits jetzt Sorge dafür tragen, dass es ausländischen Gruppen nicht gelingt, die aktuellen Wertverluste dazu zu nutzen, die Kontrolle über europäische Unternehmen zu erlangen. Auch hier müssen Lehren aus dieser Krise gezogen werden, die die asymmetrische Prägung unserer Beziehungen zu China aufzeigt, und Handlungsinstrumente einsetzen, um diese Situation zu beenden.
Dabei ergibt sich die Schwierigkeit in Europa daraus, dass sowohl die Erfordernisse des Binnenmarkts als auch die Existenz von Nationalstaaten, mit teils unterschiedlichen Interessen und Traditionen, berücksichtigt werden müssen. Wir haben erst spät einen Mechanismus zur Kontrolle ausländischer Investitionen eingeführt, da einige Staaten der Auffassung waren, die Chancen, die sich auf den Märkten bestimmter Schwellenländer bieten, seien zu groß, um auf dem Altar der strengeren Kontrolle der Investitionen aus ebendiesen Märkten geopfert zu werden. Als aber dieselben Staaten erkannten, dass sie ihrerseits von ausländischen Übernahmen in strategischen Sektoren betroffen sein konnten, änderten sie ihre Meinung.
Heute fordern selbst einige traditionell liberale Staaten wie die Niederlande, ausländische Investitionen einer eingehenderen Bewertung zu unterziehen, um sicherzustellen, dass diese nicht von staatlichen Subventionen profitieren. Kurz gesagt, es geht nicht an, dass Europa als einzige Region der Welt Wettbewerbsregeln einhält, wenn die anderen dies nicht tun.
Europas strategische Autonomie braucht Substanz
Die Corona-Krise wird deutlich machen, dass die Globalisierung die Anfälligkeit derjenigen Nationen erhöht, die nicht genügend Vorsichtsmaßnahmen treffen, um ihre Sicherheit im weiten Sinne zu gewährleisten. All dies muss daher dazu führen, dass Europa der Idee der strategischen Autonomie – die wir eindeutig nicht auf den militärischen Bereich beschränken können – Substanz und Stärke verleiht. Diese strategische Autonomie muss auf den folgenden sechs Grundprinzipien aufbauen:
- Verringerung unserer Abhängigkeit nicht nur im Gesundheitssektor, sondern auch bei den Zukunftstechnologien wie Batterien oder künstliche Intelligenz;
- Verhinderung der Übernahme unserer strategischen Aktivitäten durch Akteure außerhalb Europas, was voraussetzt, dass diese Aktivitäten vorab eindeutig ermittelt werden;
- Schutz unserer sensiblen Infrastruktur vor Cyberangriffen;
- Vermeiden, dass die Verlagerung bestimmter Wirtschaftstätigkeiten und die daraus resultierende Abhängigkeit eines Tages unsere Entscheidungsautonomie einschränkt;
- die Einflussnahme Europas bei Normen für die Zukunftstechnologien ausweiten, um andere daran zu hindern, dies auf unsere Kosten zu tun;
- eine Führungsrolle in allen Bereichen einnehmen, in denen das Defizit an globaler Governance zur Zerstörung des multilateralen Systems führt.
Erneuerung der Weltordnungspolitik
All dies führt mich natürlich zur Weltordnungspolitik, deren Unzulänglichkeiten mir von Tag zu Tag immer klarer werden. In den vergangenen Jahren wurde insbesondere die WTO kritisiert. Jetzt steht vor allem die WHO im Fadenkreuz, und dies gerade zu einem Zeitpunkt, an dem wir sie so dringend brauchen. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen konnte sich aufgrund der Differenzen zwischen den USA und China nicht auf eine Resolution zu COVID-19 einigen. Damit entstand eine nie da gewesene Situation, denn sogar während des Kalten Krieges konnten sich die USA und die UdSSR auf die Förderung der Forschung nach einem Polio-Impfstoff einigen. Auch die G7 konnten kein Einvernehmen über einen Text erzielen, weil ein Staat COVID-19 als chinesischen Virus bezeichnen wollte.
Wir werden also gerade Zeugen eines erbärmlichen Schwarzer-Peter-Spiels zwischen den USA und China, das in Wirklichkeit eine globale Führungsrolle infrage stellt. Diese Situation steht in völligem Kontrast zu der Haltung, aus der heraus in den 2000er Jahren die Umsetzung des globalen AIDS-Plans und die Mobilisierung aller Kräfte gegen das Ebola-Virus erfolgte, und natürlich zu der Haltung, die in der Zeit der Finanzkrise von 2008 vorherrschte. Sicherlich könnte man einwenden, dass eine Pandemie nicht per se in die Zuständigkeit des UN-Sicherheitsrats fällt. Aber diese Erklärung ist nicht überzeugend. In den beiden genannten Fällen (AIDS, Ebola) war das Votum im Sicherheitsrat einstimmig. Und diese Einstimmigkeit war der Mobilisierung förderlich.
Über einen kürzlich von Estland vorgeschlagenen Textentwurf konnte nicht abgestimmt werden, weil einige Staaten nicht damit einverstanden waren, dass der Text auf vollständige Transparenz bei der Berichterstattung über die Krise bestand, ein Grundsatz, den sie als Angriff auf ihre Souveränität auslegten. Wenn zum ersten Mal seit Gründung der Vereinten Nationen im Fall einer Pandemie kein Konsens erreicht werden kann, ist das wahrlich ein schlechtes Omen. Dies ist das Ergebnis von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Staaten sowie des Desinteresses von einigen unter ihnen an jedweder Form von internationaler Führung. Das ist umso besorgniserregender, als bekanntermaßen durch umfassende internationale Koordinierung viel bewirkt werden kann. Sie ermöglicht es, bewährte Verfahren bekannt zu machen, internationale Standards für die Kontrolle von Fluggästen an Flughäfen vorzuschlagen, Ressourcen für Tests und Impfstoffforschung gemeinsam zu nutzen, anstatt zu versuchen, die Nutzung vielversprechender Forschungsergebnisse nur einem einzigen Land vorzubehalten, und Partnerschaften für die Herstellung aller Produkte und Ausrüstungen zu schaffen, die für die Bekämpfung der Pandemie unerlässlich sind.
Ohne internationale Zusammenarbeit geht es nicht
Diese Zusammenarbeit wird gerade in der Phase der Aufhebung der Einschränkungen dringend geboten sein. Denn wenn jeder Staat die Einschränkungen allein auf seine eigene Art und Weise lockert, werden wir mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert sein. Es wird also notwendig sein, sich auf eine Vorgehensweise zu einigen, um ein globales Chaos zu vermeiden, das wiederum den internationalen Handel beeinträchtigen würde. Die einzige internationale Zusammenarbeit, die seit Beginn dieser Krise sehr gut funktioniert hat, ist die Kooperation zwischen den Zentralbanken. Dieser Erfolg ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass sie autonom und unabhängig von den traditionellen Rivalitäten zwischen den Staaten handeln können.
Später wird natürlich zu beurteilen sein, was zu Beginn der Pandemie gut oder schlecht gemacht wurde. Jetzt aber sollten wir unsere Kräfte mobilisieren, anstatt Polemik zu betreiben. Vor diesem Hintergrund ist die Ankündigung von Präsident Donald Trump, die Beitragszahlungen der USA an die WHO auszusetzen, weil sie angeblich versucht habe, chinesisches Fehlverhalten zu vertuschen, äußerst bedauerlich.
In dieser Krise haben die chinesisch-amerikanischen Beziehungen zweifellos einen Tiefpunkt erreicht und sich die Gefahren eines multidimensionalen Konflikts zwischen den beiden Staaten für die internationale Sicherheit offenbart. Wie UN-Generalsekretär António Guterres mir gegenüber äußerte, ist für die Überwindung der Krise eine enge Koordinierung zwischen den USA, China und der EU erforderlich. Sollte diese Krise die Beziehungen zwischen China und den USA eher drastisch verschlechtert statt gestärkt haben, kommt Europa eine noch wichtigere Rolle zu.
Insbesondere muss die EU verhindern, dass sich die Rivalität zwischen China und den USA negativ auf eine Reihe anderer Regionen der Welt, vor allem in Afrika, auswirkt, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, um die gegenwärtige Pandemie bewältigen zu können. Die Ankündigung eines Schuldenmoratoriums für die ärmsten Länder durch die G20 und den IWF ist eine Entscheidung, die sicherlich viele Staaten entlasten wird. Aber dies wird ganz offensichtlich nicht ausreichen. Vielmehr muss mit allen Gebern, einschließlich China, ein Schuldenerlass angestrebt werden. Aber auch Länder mit mittlerem Einkommen werden Hilfe benötigen, wie viele lateinamerikanische Staats- und Regierungschefs und Ökonomen betont haben.
Europas gelebte Solidarität
Wenn wir vorbildlich und vor allem glaubwürdig sein wollen, müssen wir unseren Bürgerinnen und Bürgern zeigen, dass wir zuallererst bei uns zu Hause in der EU jene Solidarität leben, die wir auf internationaler Ebene predigen. Die europäischen Staaten haben zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um einen Zusammenbruch ihrer Volkswirtschaften zu verhindern. Pläne für die Wiederbelebung der Wirtschaft wurden auf den Weg gebracht. Das alles geht in die richtige Richtung. Aber wir sind noch weit von einem europäischen Solidaritätspakt entfernt.
Wir müssen außerdem dafür sorgen, dass die nationalen Konjunkturpläne nicht den Binnenmarkt beeinträchtigen. Wenn Unternehmen in einem Land von einem viel stärkeren nationalen Förderkonzept profitieren als ihre Wettbewerber, besteht die Gefahr, dass sie dies nach der Überwindung der Krise als entscheidenden Vorteil nutzen und sich dadurch wirtschaftliche Ungleichgewichte im Binnenmarkt verschärfen. Das bereits vor der Krise bestehende Nord-Süd-Ungleichgewicht könnte sich so nach der Krise weiter verstärken. Dies wird nicht ohne Folgen auf die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zum europäischen Projekt bleiben. Derzeit ist ganz offensichtlich, dass die geldpolitischen Maßnahmen, die die Regierungen zur Unterstützung der Wirtschaft ergriffen haben, in Deutschland wesentlich massiver sind als in Italien oder Spanien.
COVID-19 hat überdies auch eine der größten Schwächen der Währungsunion offengelegt: Das Fehlen einer fiskalischen Stabilisierungsfunktion für den gesamten Euroraum, was zu einer zu starken Inanspruchnahme der Geldpolitik für Stabilisierungszwecke und zu einem unangemessenen Policy-Mix führt. Während die Pandemie als symmetrischer Schock alle gleichermaßen betrifft, sind ihre Auswirkungen sehr asymmetrisch. Denn die damit verbundenen enormen Kosten werden sowohl in sozialer als auch geografischer Hinsicht sehr ungleich verteilt sein.
Reaktionen auf die Krise und Grenzen der Solidarität
Die Europäische Kommission und die EZB haben auf diese Krise sehr schnell reagiert. Die Kommission hat im humanitären Bereich eine bemerkenswerte Koordinierungsarbeit geleistet und die Rückholung von 500 000 europäischen Staatsangehörigen ermöglicht, die sich außerhalb der Union aufhielten. Im Kampf gegen die wirtschaftlichen Krisenfolgen hat die Eurogruppe – nach der längsten Sitzung ihrer Geschichte – die Bereitstellung neuer Kreditlinien über den ESM beschlossen. Dabei handelt es sich um Kredite, die offenbar niemand braucht oder will, da Spanien und, noch eindeutiger, Italien es abgelehnt haben, solche Kredite in Anspruch zu nehmen. Wir erleben so erneut die gleichen zwischenstaatlichen Diskussionen über die Organisation der europäischen Solidarität, die bereits zu einer verzögerten Reaktion in der Eurokrise führten; einer Krise, für die wir in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht einen hohen Preis gezahlt haben.
Wir erleben jetzt erneut den gleichen Nord-Süd-Konflikt. Und uns werden erneut die Grenzen der europäischen Solidarität bewusst, weil wir trotz unbestreitbarer Fortschritte noch keine politische Union und noch nicht einmal eine echte Wirtschafts- und Währungsunion sind.
Ein neuer Marshall-Plan?
Um die Wirksamkeit dieser Solidarität zu beschwören, wird viel von einem „Marshall-Plan“ gesprochen, ein Begriff, der für die Europäer positiv besetzt ist. Aber abgesehen von der Tatsache, dass heutzutage kaum noch mit der Ankunft eines Mr. Marshall zu rechnen ist, der uns von der anderen Seite des Atlantiks zu Hilfe eilt, war dieser Plan damals darauf ausgerichtet, einen völlig zerstörten Kontinent wiederaufzubauen. Auch wenn die Pandemie von einigen mit einem Krieg verglichen wird, hat sie doch nicht die Vernichtung von Sachkapital zur Folge. Anders als nach einem Erdbeben müssen auch nicht Infrastrukturen und Produktionskapazitäten wiederaufgebaut werden. Darum geht es hier also nicht. Vielmehr müssen wir uns nun darauf konzentrieren, den unmittelbaren Bedürfnissen der Gesundheitssysteme gerecht zu werden, den Menschen, die nicht arbeiten können, Einkommen bereitzustellen und den Unternehmen Garantien und Zahlungsaufschub zu gewähren, um zu vermeiden, dass unsere Wirtschaft kollabiert. Das hat für uns heute oberste Priorität.
Die Resilienz der Demokratien
Diese Krise wird auch ein politischer Stresstest für die europäischen Demokratien sein. Denn wie immer sind es Krisen, die den Gesellschaften ihre Stärken und Schwächen offenbaren. Bereits jetzt nehmen politische Narrative Form an, um die Zeit nach der Krise vorzubereiten. Dabei sind derzeit drei konkurrierende Narrative zu beobachten: des Populismus, des Autoritarismus sowie der Demokratie.
Das Narrativ des Populismus müsste durch diese Krise a priori in Bedrängnis kommen, da die Pandemie verdeutlicht, wie wichtig Rationalität, Fachkenntnisse und Wissen ganz allgemein sind. All dies sind Prinzipien, die die Populisten als elitär verspotten und verschmähen. Allerdings ist es schwierig, weiterhin von Postfaktizität zu sprechen, wenn wir jetzt wissen, wie Menschen infiziert werden, welche Gruppen besonders gefährdet sind und welche Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden sollten, um die Pandemie zu bekämpfen. Aber Populisten werden als Erstes Ausländer für die Verbreitung des Virus verantwortlich machen. Sie können auch der Globalisierung als dem üblichen Sündenbock für alle Probleme die Schuld zuweisen. Im gleichen Sinne können sie sich für verstärkte Grenzkontrollen einsetzen und diese Gelegenheit nutzen, noch feindseliger gegen Zuwanderung Stimmung zu machen.
Populismus ist ungemein wandelbar. Er passt sich allen Umständen an und ist ohne Weiteres zu Kursänderungen in der Lage, da er sich nicht die Mühe macht, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden. Außerdem werden sich Populisten in von Ängsten dominierten Zeiten immer besonders wohlfühlen. Die Versuchung ist groß, diese außergewöhnliche Situation zu nutzen, um Rechte und Freiheiten einzuschränken. Ein Abdriften in Richtung digitaler Autoritarismus ist denkbar, und manche Staaten haben diesen Weg offensichtlich bereits eingeschlagen. Hier gibt es Ähnlichkeiten zu der Zeit nach dem 11. September 2001, als der Kampf gegen den Terrorismus zu einer Beschränkung der individuellen Freiheiten führte.
Die verhängnisvolle Vereinfachung
Das politische Narrativ des Autoritarismus steht dem Narrativ des Populismus nahe, da auch hier versucht wird, Dinge zu vereinfachen und alle Probleme auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Diesem Narrativ zufolge sind nur Staaten mit autoritären und zentralisierten Systemen in der Lage, die Pandemie zu überwinden, indem alle Ressourcen des Landes mobilisiert werden. Aber wir wissen, dass dies nicht wahr ist. Wir können bereits heute sagen, dass es sich bei den Ländern, die die Krise derzeit am erfolgreichsten eingedämmt haben, um gut organisierte demokratische Staaten handelt.
Bleibt also das Narrativ der Demokratie. Es ist am schwierigsten, dieses Narrativ zu formulieren, da Zweifel, Fragen, reifliches Überlegen und Hinterfragen zu den Grundlagen demokratischer Gesellschaften gehören. All dies sind Faktoren, die einem zügigen und wirksamen Handeln auf der Grundlage eines klaren und eindeutigen Narrativs entgegenstehen. Aber nach der Krise wird in Europa letztlich die europäische Bevölkerung selbst ihr Urteil über das Verhalten jedes einzelnen Staates und das Verhalten Europas im Allgemeinen abgeben.
Der Schutz des europäischen Modells
Und hier ist es unabdingbar, dass die Europäische Union ganz klar als handlungsfähiger Akteur sichtbar wird, der etwas bewirken kann. Und zwar nicht, indem sie an die Stelle der Staaten tritt, sondern indem sie als Akteur auftritt, der sich auf die Maßnahmen der einzelnen Staaten stützt, um dem Inhalt und Sinn zu verleihen, um das es hier ganz zentral geht: den Schutz des europäischen Modells. Dieses Modell wird in den Augen der Welt jedoch nur dann einen Wert haben, wenn es uns gelingt, ein Modell der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten voranzubringen. Und dahin ist es noch ein weiter Weg.
Wir erleben gerade wieder einen entscheidenden Zeitpunkt für die Europäische Union. Denn die Art und Weise, wie wir mit der Krise umgehen, wird Auswirkungen haben auf den Zusammenhalt unserer Gesellschaften, die Stabilität unserer nationalen politischen Systeme und die Zukunft der europäischen Integration. Es ist Zeit, die Wunden früherer Krisen zu heilen und nicht, alte Wunden wieder aufzureißen. Hierfür muss es den europäischen Institutionen und Politiken gelingen, sowohl das Herz als auch den Verstand der Europäer zu erreichen.
Und hier gibt es noch viel zu tun.
Prof. Dr. Josep Borrell ist der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außenpolitik und Vizepräsident der EU-Kommission.