IP

14. Febr. 2019

Europas Selbstbehauptung

Wenn die EU globale Gestalterin und nicht Spielball sein will, muss Deutschland seine Europapolitik entscheidend verbessern

Deutsche Außenpolitik wird traditionell durch zwei Prismen gedacht und gestaltet: durch die Europäische Union und durch die transatlantischen Beziehungen. Die Einbindung in die EU, in die NATO und die darüber hinausgehende enge Zusammenarbeit und Abstimmung mit Washington stellen seit den 1950er Jahren den normativen Bezugs- und praktischen Handlungsrahmen für deutsche Außenpolitik dar. Beide Prismen haben Risse bekommen.

Für Deutschland ist die Konsequenz aus dieser Entwicklung nicht, sich vom einen oder anderen abzuwenden. Im Gegenteil: Deutschland ist in wirtschaftlicher, politischer, sicherheits- und verteidigungspolitischer Hinsicht maßgeblich von der Einbindung in die EU und die transatlantische (Verteidigungs-)Allianz abhängig und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Dies gilt umso mehr, als globale Ordnungsstrukturen, paradoxerweise auch unter dem Druck der USA, ins Wanken geraten. Es liegt somit auch künftig im deutschen Interesse, die Zusammenarbeit im EU-Rahmen, die Beziehungen zu den europäischen Partnern und darauf basierend diejenigen zu den USA so zielführend und belastbar wie möglich zu gestalten.
 

Deutsche EU-Politik als Teil einer Weltordnungspolitik

In einem sich rapide wandelnden internationalen Umfeld ist Deutschlands europapolitische Agenda vielschichtiger geworden als in den vergangenen Jahrzehnten. Ging es zunächst um die Vertiefung und Erweiterung der EU, sind im vergangenen Jahrzehnt phasenweise Krisenmanagementaufgaben in den Vordergrund gerückt.

Auch heute noch ist die deutsche Europapolitik Ausdruck und Konsequenz der nach wie vor maßgeblichen Einschätzung, dass Deutschland und Europa einen verlässlichen internationalen Ordnungsrahmen brauchen, um Frieden, Stabilität und Wohlstand zu sichern. Sie wird aber in Zeiten rasanten internationalen Wandels und zunehmender strategischer Großmachtkonkurrenz immer mehr Teil einer umfassenderen Weltordnungspolitik. In Zeiten der Infrage­stellung internationaler Institutionen und Regeln, auch durch die USA, ist diese für eine international stark vernetzte Mittelmacht eine prioritäre und gleichzeitig allein nicht zu bewältigende Aufgabe geworden. Wenn Deutschland international mitgestalten will, kann dies – wenn überhaupt – nur mit europäischen Partnern und durch die EU hindurch wirkungsvoll geschehen.

Daraus ergeben sich drei Prioritäten für die deutsche Europapolitik. Erstens müssen die interne Funktionsweise der Gemeinschaft verbessert und ihr Zusammenhalt gesichert werden, um sie im globalen Wettbewerb zwischen Wirtschaftsräumen, politischen Systemen und in sicherheits- und verteidigungspolitischer Hinsicht zu stärken. Zweitens müssen externe Einflussnahme und Spaltungsversuche abgewehrt werden, gerade auch, um die Voraussetzungen für gemeinsames außenpolitisches Handeln zu verbessern. Drittens sollte das Gewicht der EU und ihrer Mitgliedstaaten in der Weiterentwicklung internationaler ­Regeln und Organisationen gesichert werden.
 

Innere Spaltungen überwinden und Resilienz stärken

Heute geht es europapolitisch nicht mehr um eine voluntaristische Umsetzung großer Integrationsprojekte auf dem Weg zu einer „ever closer union“, die der Vertrag von Maastricht Anfang der 1990er Jahre vorzeichnete. Vordringliche Aufgabe ist es, bestehende Errungenschaften durch Anpassungen und Vervollständigungen zukunftsfähig zu machen, zum Beispiel die Eurozone, den Binnenmarkt und den Schengenraum. Dies muss in einem politischen Kontext bewältigt werden, in dem innerhalb und zwischen den Mitgliedstaaten politische Polarisierung, auch durch erstarkte rechtspopulistische Parteien, maßgeblich zugenommen hat.

Seit einer Dekade beschäftigt die Nord-Süd-Spaltung die deutsche Europapolitik. Die Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2007/08 aus den USA nach Europa schwappte, und die folgenden Wirtschafts-, Banken- und Staatsverschuldungskrisen verstärkten ökonomische Divergenzen und verdeutlichten politische Auffassungsunterschiede im Währungsraum. Letztere zeigten sich an handfesten Auseinandersetzungen über angemessene politische Antworten, unverhohlener Kritik am deutschen Herangehen und harter Polemik etwa in griechischen und deutschen Medien. Der Gegensatz zwischen Geber- und Schuldnerländern, der seit 2010 die Eurozone durchzieht, ist bei Weitem nicht mehr nur eine Nord-Süd-Debatte. Längst trägt diese auch Züge eines Ost-Süd-Gefälles: Einige mittel- und osteuropäische und baltische Währungsunionsmitglieder sehen angesichts ihres niedrigeren Pro-Kopf-Einkommens als manche bisherigen und möglichen Hilfsempfänger mit Argwohn auf nationale Entwicklungen, etwa in Italien und Griechenland, die sie für höchst unverantwortlich halten.

Eine neue Legitimitätsdebatte hat sich entwickelt: Auf der einen Seite stehen Regierungen und Gesellschaften, die „Austeritätspolitik“ und europäische Kontrolle über nationale Politikentscheidungen im Bereich der Haushalts- und Wirtschaftspolitik als zu weitgehend kritisieren, auf der anderen diejenigen, die die Nichteinhaltung von gemeinsamen Regeln und Absprachen im Währungsraum für illegitim und unsolidarisch halten.

Um den sozioökonomischen Zusammenhalt und die Akzeptanz der gemeinsamen europäischen Wirtschaftsordnung zu stärken, muss die Balance zwischen Regeleinhaltung und politischem Handeln, zwischen Solidarität und Eigenverantwortung neu austariert werden. Neben einer Überprüfung und gleichzeitigen Neubesinnung auf das grundlegende Regelwerk des Wirtschafts- und Währungsraums, neben einer Verbesserung des grenzüberschreitenden Funktionierens der Kapital-, Güter-, Dienstleistungs- und Arbeitsmärkte gehören dazu auch Werkzeuge, die stabilisierend wirken können. Dies gilt etwa, wenn weder die Geldpolitik noch die Marktmechanismen die notwendige Anpassung im Falle von asymmetrischen Schocks gewährleisten können.

Deutschland und Frankreich sollten weiter an der Entwicklung von Instrumenten mit makroökonomischer Stabilisierungsfunktion arbeiten. Eine Einigung auf eine Finanztransaktionssteuer, die der EU steuerbasierte Haushaltsmittel verschaffen würde, ist ein weiterer wichtiger Schritt, ebenso wie Maßnahmen zur Bekämpfung von Steuerdumping durch eine Angleichung der Unternehmenssteuern. Mehr Unterstützung von Strukturreformen, europäische Forschungs- und Innovationsinitiativen zur Förderung des digitalen Wandels und die Arbeit an der Europäischen Kapitalmarktunion mit dem Ziel, Finanzierungsmöglichkeiten in der EU zu verbessern, sind weitere wichtige Schritte, um Wachstum und Konvergenz zu fördern.

In den vergangenen Jahren wurde darüber hinaus immer wieder und mitunter pauschalierend ein zunehmender Ost-West-Gegensatz in der EU beschrieben. Tatsächlich stellt der Europadiskurs in einigen mittel- und osteuropäischen Staaten Identitäts- und Souveränitätsfragen mit besonderer Vehemenz in den Vordergrund, EU-Kritik wird oft kombiniert mit radikaler Ablehnung von Zuwanderern muslimischen Glaubens. Die ungarische und polnische Regierung propagieren explizit illiberale Demokratiemodelle und müssen sich aufgrund möglicher Verstöße gegen Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in EU-Verfahren verantworten.
 

Die Spannungen gehen weit über eine Ost-West-Linie hinaus

Der Gegensatz zwischen westlich-liberalen Demokratie- und Gesellschaftsmodellen und Offenheit für mehr Integration einerseits und illiberalen Demokratiemodellen und -gesellschaften sowie Abschottungspolitik und EU-Kritik andererseits lässt sich allerdings nicht mehr auf eine Ost-West-Spannungs­linie reduzieren. Längst haben sich in fast allen Mitgliedstaaten der EU Parteien formiert und es in Parlamente und auch Regierungen geschafft, die für diejenigen sprechen, die sich als Verlierer der Globalisierung fühlen und keine Vorteile in einer stärkeren europäischen Kooperation sehen, sondern eine Rückbesinnung auf das Nationale propagieren. So unbequem es sein mag, diese Kräfte müssen in die europäische Zukunftsdiskussion eingebunden werden, es gilt, sie dazu herauszufordern, eigene Vorstellungen konkret zu formulieren.

Es sind unter anderem europaskeptische, oft populistische Parteien und Bewegungen, die von außen, etwa durch Russland oder US-Akteure wie den früheren Leiter der Webseite Breitbart News Stephen Bannon, unterstützt werden, um Europa von innen zu schwächen: durch gezielte Propaganda, die Verbreitung von Fake News und eine Stärkung der extremen Rechten und auch Linken. Sie lehnen gleichsam mehr europäische Kooperation ab und propagieren einen identitären Nationalismus. Es ist eine für die EU entscheidende Zukunftsfrage geworden, ob sie externe Einflussnahme abwenden kann, welche die EU spalten will, ihre Handlungsfähigkeit untergraben und Demokratien sowie demokratische Kräfte schwächen.

Die USA haben über Jahrzehnte und im eigenen Interesse die Integration Europas unterstützt und an einem engeren transatlantischen Verhältnis gearbeitet. Der derzeitige US-Präsident hat nicht nur die transatlantische Allianz infrage gestellt und damit innerhalb der EU neue Kooperations- und Integrationsimpulse ausgelöst, etwa im Bereich der Verteidigung. Immer wieder sendet Washington darüber hinaus politische Signale, die die Einheit der Europäer untergraben können oder gar sollen. Es ist daher auch zur europapolitischen Aufgabe Deutschlands geworden, Einmischungen aus Washington abzupuffern und die EU in den Bereichen, in denen sie wie in der Handelspolitik Vertretungsanspruch hat, als Verhandlungspartner Washingtons zu stärken. Bei der Verteidigung geht es nicht darum, die Zusammenarbeit der Europäer „gegen Washington“ zu fördern, wie dort oft gemutmaßt wird. Es geht darum, im Kontext der NATO die Fähigkeiten der Europäer zu stärken und damit ihren Beitrag in der Allianz zu erhöhen.

Auch im Falle Chinas sind die Abwehr von Einflussnahme und die Reduzierung von Abhängigkeiten bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung enger ­Beziehungen eine Gratwanderung. China hat unter anderem durch strategische Investitionen erheblichen Einfluss innerhalb der EU aufgebaut und muss als potenzielle Bedrohung gesehen werden.

Abwehrstrategien wie Investitionsscreenings oder die Anwendung politischer Kriterien bei der Auftragsvergabe sind nicht ausreichend – zumal die Wirksamkeit von Maßnahmen, die jetzt gegen chinesische Investitionen in strategischen Branchen entwickelt werden, nur noch begrenzt wirksam sein werden, wenn chinesische Unternehmen durch europäische Firmen operieren.

Die wahrgenommene Stärke Chinas ist auch Ausdruck der Schwächen Europas. Deutschland und die EU verlieren tendenziell Innovationskraft und investieren zu wenig. Dieser Trend hat gerade im Umgang mit den Krisen in der Währungsunion das strategische Dilemma der EU mit befördert: China wurde strategischer Investor, etwa in Portugal und Griechenland. Verständlicherweise haben die Regierungen chinesisches Geld in der Krisenphase ins Land gelassen. Mit Blick auf die eigene Wirtschaftsentwicklung ist dies eine kurzfristig rationale Strategie, solange Deutschland und die EU strukturell unterinvestieren. Die mittelfristigen Auswirkungen für die EU und die Staaten selbst zeichnen sich jedoch schrittweise ab: Immer wieder lassen sich Regierungen, in deren Ländern China stark investiert hat, im EU- oder UN-Kontext durch Peking „auf ­Linie“ bringen: So hat etwa Griechenland 2017 eine gemeinsame EU-­Erklärung zu China vor dem UN-Menschenrechtsrat blockiert, Ungarn weigerte sich, ein EU-Schreiben zur Inhaftierung von Anwälten in China mit zu unterzeichnen. Griechenland und Tschechien setzten sich für die Verwässerung der EU-­Regeln zur Kontrolle chinesischer Investitionen ein.
 

Die EU als Gestalterin internationaler Ordnungsstrukturen

Der enge Fokus der europäischen wirtschaftspolitischen Debatte auf Konsolidierung statt auf Investitionen hat im Kontext globaler Machtverschiebungen, strategischer Konkurrenz und rapide fortschreitender technologischer Entwicklungen weitere teils dramatische Auswirkungen: Im Wettbewerb um Künstliche Intelligenz und Biotechnologie droht Europa gegen die USA und China den Anschluss zu verlieren. Die erfolgreichsten Internetportale sind längst keine europäischen mehr. Wichtige Segmente der Automobilindustrie stehen unter Druck; Branchen wie Unterhaltungselektronik, Telekommunikation, Computer und Solarenergie hat Deutschland verloren. Eine Stärkung des europäischen Wachstums- und Innovationspotenzials und damit der Erhalt der wirtschaftlichen Machtbasis Europas sind indes notwendig, um den inneren Zusammenhalt der EU zu stärken und eine gestaltende Rolle einnehmen zu können. Die gilt besonders für neue Bereiche wie Künstliche Intelligenz, ­Cyber und andere Felder, in denen grundlegende Regulierungsaufgaben anstehen.

Deutschland ist angesichts seines offenen Wirtschaftsmodells, seiner außenpolitischen Tradition und Werteorientierung sowie seines sicherheitspolitischen Selbstverständnisses darauf angewiesen, dass internationale Regeln und Institutionen in Grundzügen funktionsfähig bleiben und neue regulatorische Rahmen geschaffen werden, etwa um mit technologischen Entwicklungen Schritt zu halten. Damit ist es ein sinnvolles drittes Ziel deutscher Europapolitik, Europas internationale Rolle zu stärken, um durch die EU hindurch auf den Wandel der Weltordnung einzuwirken.

Deutschland verschreibt zudem seinen temporären Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen der Vertretung europäischer Interessen und teilt sich symbolstark erstmals den Vorsitz mit Frankreich. Oberste Priorität sollte daneben eine aktive Rolle in der notwendigen UN-Reformdiskussion sein – auch und gerade mit den USA, die sich aus weiteren UN-Organisationen zurückziehen oder deren Finanzierung kürzen könnten.

Die deutsche Herangehensweise an den Sitz im UN-Sicherheitsrat steht im Kontext weiterer Bemühungen, der EU international eine stärkere Stimme zu geben. So befürwortet die Bundesregierung Mehrheitsentscheidungen in der EU-Außenpolitik, um Entscheidungsfähigkeit wahrscheinlicher zu machen. Doch über den Wechsel in diesem Abstimmungsmodus muss zunächst mit Einstimmigkeit entschieden werden. Es ist auch aufgrund der oben beschriebenen externen Einflussnahme höchst unwahrscheinlich, dass die EU diesen Schritt wirklich gehen wird; bestenfalls lassen sich zunächst einzelne Felder identifizieren, in denen mit Mehrheit entschieden wird.

Schließlich sollte Deutschland in der Weiterentwicklung des zivilen Krisenmanagements und in der europäischen Verteidigungszusammenarbeit im Rahmen der strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und in kleineren minilateralen Formaten eine Motorenrolle einnehmen. Bei der Intensivierung der Verteidigungszusammenarbeit muss weiterhin mit der Kritik gerechnet werden, dass Europa „gegen die USA“ arbeite, etwa wenn es eigene rüstungsindustrielle Projekte voranbringt. Diese Unterstellung sollte sofort mit dem Verweis gekontert werden, dass die Initiativen sich im Rahmen der transatlantischen Verteidigungsallianz vollziehen.
 

Die Zukunft der EU auf Messers Schneide

Deutschland kommt auch im innereuropäischen Diskurs eine wichtige Rolle zu, sehen sich doch insbesondere einige mittel- und osteuropäische Staaten in großer Abhängigkeit von den USA. Zudem braucht Deutschland, gemeinsam mit Frankreich und den weiteren EU-Partnern, eine viel tiefere strategische Diskussion, um ein gemeinsames Verständnis der gewandelten Herausforderungen, eigener und gemeinsamer Ziele und der notwendigen Instrumente zu erarbeiten. Zwischen europäischen Partnern müssen dafür nicht nur die notwendigen Foren und Prozesse etabliert werden. Entscheidend wird sein, ob von deutscher und anderer Seite ein echtes Interesse besteht, in diese hoch politische Diskussion ehrlich engagiert einzusteigen, um Europa tatsächlich strategisch handlungsfähiger zu machen.

Die deutsche Europapolitik muss mit einem Paradox umgehen: Noch nie schien die europäische Zusammenarbeit angesichts internationaler Herausforderungen so wichtig – und noch nie waren die Fliehkräfte innerhalb der Gemeinschaft so groß und wurden über strategisch ausgeübte externe Einflussnahme so gestärkt. Viel intensiver als in der Vergangenheit sollte Deutschland ­gemeinsam mit Frankreich Lösungen erarbeiten, wie die Europäische Union mit den nicht mehr zu leugnenden internen und externen Herausforderungen umgehen kann.

In den vergangenen zwei Jahren haben beide Seiten in unterschiedlichem Maße demonstriert, dass sie die Zeichen der Zeit verkennen. Wird weiterhin auf Sicht gefahren und werden weiterhin rote Linien – etwa in Sachen Eurozone, Verteidigung oder Erweiterungspolitik – als wichtiger bewertet als der Aufbau strategischer Handlungsoptionen, dann werden die sich ändernden inneren und äußeren Rahmenbedingungen die europapolitischen Handlungsspielräume immer weiter einschränken. Teil der Diskussion muss sein, wie Europa seine verbleibenden Stärken sichern und ausbauen kann und welche Machtoptionen es aufbaut, um in einer Welt der strategischen Konkurrenz und des Null-Summen-Spiel-Denkens nicht zum Spielball – oder schlimmer noch – zu vielen einzelnen Spielbällen – zu werden. Um außenpolitische Handlungsfähigkeit und Resilienz zu garantieren, muss Deutschland mit EU-Partnern sehr viel mehr in den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft investieren.

Vor gut zwei Jahren ist der Erhalt der Europäischen Union mit 27 EU-Staaten in Zeiten des Brexit zum Mantra deutscher Europapolitik geworden. Berlin stellte sich hinter die Brüsseler Verhandlungslinie. Die Versuche Londons, Seitenabsprachen, etwa auch im Sinne von in Großbritannien ansässiger deutscher Industrie, zu treffen, fruchteten in Berlin nicht. Ziel war es, jeden Nachahmungsversuch uninteressant zu machen und sicherzustellen, dass Großbritannien durch seine Austrittsdrohung die EU nicht in ihren Grundprinzipien verändert.
 

Mehr Flexibilität in der Zusammenarbeit

Aus deutscher Sicht ist es zunächst nach wie vor sinnvoll, die Teilnehmer des Binnenmarkts als Bezugsgruppe für die EU-Zukunftsdiskussion zu definieren. Nach wie vor ist es dabei auch richtig, an zwei Prinzipien festzuhalten: Erstens sind und bleiben die Freiheiten des Binnenmarkts und die europäische Rechtsordnung inklusive der Kopenhagener Kriterien zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit die Geschäftsgrundlage der EU. Zweitens sind die EU-­Institutionen in ihren vertragsgemäßen Aufgaben zu schützen und zu stärken, auch und gerade nach der Europawahl dieses Jahres.

Gleichzeitig wird es aber Gründe geben, in der europäischen Zusammenarbeit flexibler zu werden. Europa kann letztendlich nur durch seinen eigenen Erfolg überzeugen, und wenn das System in einer Selbstblockade verharrt, ist es notwendig, in kleineren Staatengruppen problemlösungsorientiert zusammenzuarbeiten. Die Ränder der Gemeinschaft werden dabei verwischen: in dem Zuge, in dem sich die EU intern ausdifferenziert, eröffnen sich Möglichkeiten, mit Nachbarn, mit Großbritannien als wohl ehemaligem EU-Staat und mit Beitrittskandidaten politikfeldbezogen enger zu kooperieren. Der Brexit wird maßgeblich dazu beitragen, dass es künftig in manchen Themenfeldern wie etwa der Sicherheits- und Verteidigungspolitik eher um die gestalterische Rolle Europas gehen wird als um die der EU.

Um den inneren Zusammenhalt der EU zu sichern, zumindest den der Währungsunion, muss Deutschland mehr Kompromissbereitschaft in der wirtschaftspolitischen Gestaltung zeigen und letztendlich der Schaffung von Stabilisierungsinstrumenten und einer größeren Risikoteilung zustimmen im Gegenzug zu Mechanismen, die wirksamen Druck auf nationale Politik ausüben. Der Preis dafür wird angesichts des enormen Vorteils, den Deutschland aus der Existenz des Euro, seiner Funktionsweise und dem Binnenmarkt zieht, vertretbar sein. Gemeinsam mit Frankreich muss es zudem die Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit der EU vorantreiben. Das Verbot der Fusion der Zugsparten von Siemens und Alstom hat deutlich gemacht, dass dazu neben einer strategischen Forschungs- und Innovationspolitik auch die Diskussion um eine zukunftsgewandte Industrie- und Wettbewerbspolitik gehört.
 

Das Zeitalter minilateraler Beziehungen

Verstärkt werden müssen auch die diplomatischen Bemühungen in der Kompromissfindung und nachhaltigen Konsensbildung. Stand noch vor ein paar Jahren die Verkleinerung oder gar Schließung deutscher Botschaften in EU-Partnerstaaten zur Diskussion, weil die Einbindung in EU-Strukturen und Abstimmungsmechanismen so eng geworden war, ist ein neues Zeitalter bi- und minilateraler Beziehungen angebrochen. Um künftig Pannen wie den gescheiterten Versuch des Migrationsquotensystems zu vermeiden, müssen sehr viel intensivere Dialoge geführt werden, um Entwicklungen in Mitgliedstaaten und Handlungsspielräume der dortigen Regierungen zu verstehen, um besser für die eigene Position zu werben und gemeinsame Präferenzen zu setzen. Im Falle einiger für Deutschland wichtiger Partnerstaaten wie etwa Polen und auch Frankreich genauso wie Großbritannien müssen auf politischer Ebene intensive bilaterale Beziehungen sehr bewusst gepflegt werden, um gegenseitiges Vertrauen (wieder) herzustellen und gemeinsame strategische Ziele zu identifizieren. Dass hier Frankreich kurz nach der Unterzeichnung des Aachener Vertrags genannt werden muss, zeugt davon, wie weit voneinander entfernt sich auch diese engen Partner haben.

Erste Anzeichen für ein europapolitisches Umdenken in Berlin sind zu erkennen. Die bisherigen Ansätze der „Likeminded-Initiative“ oder #EuropeUnited werden allerdings nicht reichen. Glaubhafte politische Vorschläge und richtungsweisende Positionierungen angesichts der umfassenden Herausforderungen stehen noch aus. Dies mag der unübersichtlichen Lage in der EU geschuldet sein oder einer Verkennung, wo unsere nationalen Interessen akut bedroht werden können, wenn wir nicht aufwachen und mit entschiedener Führungs-, Handlungs- und Dialogbereitschaft vorangehen. Bleibt es bei „zu wenig, zu spät“, werden Deutschland und Europa einen hohen Preis dafür zahlen.

Dr. Daniela Schwarzer ist die Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2019, S. 18-25

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren