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01. Mai 2021

Europas fragile China-Politik

Wie will die EU sich im aufziehenden Großmachtkonflikt zwischen China und den USA positionieren? Eine mehrgleisige Politik ist richtig, sie ist aber auch frustrierend. Und sie birgt manche Gefahr.

Im Frühjahr 2021 hat das Dreieck der Beziehungen zwischen der EU, den USA und China eine kaleidoskopische Dynamik angenommen.



Man denke nur einmal zurück, wie die Welt noch zum Jahreswechsel aussah: China ging gestärkt aus dem Schockmoment der Coronavirus-Krise hervor und die USA steckten nach den Präsidentschaftswahlen in einem noch nie dagewesenen Chaos. Zudem hatte die Trump-Regierung die Epidemie außer Kontrolle geraten lassen. Die EU hingegen konzentrierte sich auf das Aufbaupaket „NextGenerationEU“ – und als letztes großes Hurra als De-facto-Chefin der EU setzte Bundeskanzlerin Angela Merkel, unterstützt von ihren Verbündeten in der Europäischen Kommission, den Abschluss eines umfassenden Investitionsabkommens zwischen der EU und China durch. Die Konstellation schien klar: Amerika war abgehängt, und die EU und China schmiedeten eine Achse der pragmatischen Zusammenarbeit in Sachen Handel, Investitionen und Klimapolitik. Doch nur ein paar Monate später hat sich das Bild fast schlagartig verschoben.



Die neue US-Regierung hat die Epidemie in den Vereinigten Staaten schnell eingedämmt und ein neues, drittes Konjunkturpaket von nie dagewesenem Ausmaß auf den Weg gebracht. Sie hat einen Schlussstrich unter die Zeit des chaotischen Machtwechsels gezogen, aber an der konfrontativen Haltung gegenüber China festgehalten, die sie von der Trump-Regierung übernommen hat. Als Antwort hat China seine Bemühungen in Sachen „Strategie der zwei Kreisläufe“ intensiviert. Mit dieser soll das chinesische Wirtschaftswachstum autonomer werden, also immer mehr vom globalen Handel entkoppelt werden.



In Europa war die Selbstbeweihräucherung rund um „NGEU“ noch in vollem Gange, als der Kontinent langsam, aber sicher im Impfchaos und in gegenseitigen Schuldzuweisungen versank. Dabei sind die wirtschaftlichen Aussichten des Kontinents selbst unter Berücksichtigung des Aufbaupakets düster.



Derweil haben die EU-Sanktionen gegen vier chinesische Funktionäre in der Provinz Xinjiang wegen massiver Menschenrechtsverletzungen gegen die Uiguren und Pekings massive Gegensanktionen (unter anderem gegen vier Europaabgeordnete) dafür gesorgt, dass das Investitionsabkommen auf Eis liegt, denn eine Ratifizierung durch das Europaparlament ist unter diesen Umständen mehr als fraglich. Zugleich startete die Kommunistische Partei Chinas mit der Unterstützung heimischer Internet-Suchmaschinen eine systematische Kampagne gegen europäische Bekleidungsfirmen, die sich in Sachen Xinjiang kritisch geäußert hatten.



Kurzfristig lässt das der EU kaum eine andere Wahl, als sich deutlicher auf die Seite der USA zu schlagen. Ob das der Beginn eines grundlegenden strategischen Wandels in der europäischen China-Politik ist oder eher taktischer Natur, wird sich zeigen. Denn im Endeffekt konkurrieren hier zwei unterschiedliche Auffassungen, wie eine erfolgreiche Strategie gegenüber China aussehen sollte.  



Schon unter Barack Obama, doch dann mit größerem Nachdruck unter Donald Trump ging der Trend in der US-Politik dahin, verschiedene Politikbereiche wie Handel, Investitionen, Technologie, Sicherheitspolitik und Rechtsfragen vor dem Hintergrund des geopolitischen Wettbewerbs immer enger miteinander zu verzahnen. Dies ging mit der Erwartung einher, dass sich die Großmächtekonkurrenz in Zukunft vor allem in dem Teil der Welt abspielen werde, den Washington seit 2017 den Indo-Pazifik nennt. Seit dem Frühjahr 2020 schlagen die Beteiligten dramatische Töne eines neuen, ideologischen kalten Krieges an – und die amerikanischen Sanktionen gegen den chinesischen Tech-Sektor sind nichts Geringeres als eine wirtschaftliche Kriegserklärung.



Zwar hat die Biden-Regierung signalisiert, man wolle mit chinesischen Vertretern im Gespräch bleiben und insbesondere in Fragen des Klimawandels kooperieren. Doch weiterhin arbeitet Washington mit Ausfuhrverboten für Chip-Hersteller und Sanktionen gegen chinesische Tech-Firmen wie Huawei, SMIC und DJI effektiv daran, Chinas industrielle Entwicklung einzudämmen – weil es diese als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit ansieht. Dies wiederum steht in diametralem Gegensatz zu Pekings Bestreben, auf der Weltbühne eine Position einzunehmen, die mit Chinas Geschichte sowie aktuellem und zukünftigem wirtschaftlichen Gewicht in Einklang steht.



Die amerikanische Strategie hat den Vorteil, kohärent zu sein und dem Selbstverständnis einer Großmacht zu entsprechen. Gleichzeitig bringt sie jedoch eine Art Spiegelungseffekt mit sich: Der militärisch-industrielle Komplex in den USA nähert sich nach und nach chinesischen Verhältnissen an. Das ist nicht neu, sondern eine Entwicklung, vor der US-Präsident Dwight D. Eisenhower im Zuge des McCarthyismus schon in den 1950er Jahren warnte.



Partner, Konkurrent und Rivale

Die amerikanische Rückkehr zur „Grand Strategy“, um China im 21. Jahrhundert zu begegnen, hebt sich deutlich von der China-Politik der EU ab. Das jüngste Grundlagenpapier „EU-China Strategic Outlook“ von 2019 beruht nämlich gerade auf der Ablehnung der amerikanischen Logik von Synthese und Verzahnung. Stattdessen hat sich Brüssel – zum Erstaunen vieler US-Beobachter – dazu entschieden, China gleichzeitig als potenziellen Partner, als Konkurrenten und als Systemrivalen zu definieren. Entscheidend ist dabei, dass nicht zugelassen werden soll, dass eine dieser Facetten die anderen überschattet.



Das Ende 2020 geschlossene EU-China-Investitionsabkommen steht voll im Einklang mit dieser Position. Das Abkommen sollte Wege für eine zukünftige Zusammenarbeit ausloten und das wirtschaftliche Spielfeld für einen europäisch-chinesischen Wettbewerb ebnen, ohne dabei allzu hohe Anforderungen an China zu stellen. Mit anderen Worten: Echte Bedenken zum Thema Zwangsarbeit wurden mehr oder minder beiseitegeschoben.



Unter dem Druck von Kritikern erklärten Berlin und Paris, dass das Investitionsabkommen in keiner Weise an eine duckmäuserische Haltung in anderen Fragen gebunden sei, wie beispielsweise bei den Repressionen in Xinjiang und der Unterdrückung demokratischer Rechte in Hongkong. Auch das ist Teil des mehrgleisigen europäischen Ansatzes: Die Zusammenarbeit auf einem Gebiet schließt das offene Eingeständnis von Differenzen oder gar Konflikten in anderen nicht aus. Sowohl Kooperation zu fördern als auch Meinungsverschiedenheiten zu ertragen, soll die Legitimität der politischen Beziehungen stärken. Die Entwicklungen der vergangenen Wochen haben dieser Logik praktischen Ausdruck verliehen. Die große Frage ist jetzt: Kann China mit einer solchen Komplexität leben?



Das chinesische Regime kann und sollte nicht erwarten, dass Menschenrechtsverletzungen von seinen westlichen Verhandlungspartnern ignoriert werden oder dass chinesische Sicherheitsorgane im Westen ungehindert Geschäfte machen können. Peking wird von dieser Aussicht zwar nicht begeistert sein, täte aber trotzdem gut daran, die bisherigen – mehr oder minder symbolischen – Sanktionen einfach hinzunehmen. Schließlich zielen diese nicht auf jene chinesischen Führungspersonen, die für das, was in Xinjiang passiert, verantwortlich sind. Wenn Peking jedoch damit antwortet, indem es europäische Parlamentarier, Experten und Think-Tanks ins Visier nimmt, muss es auch die Verantwortung für die Zuspitzung des Konflikts übernehmen. In diesem Fall darf man sich in China nicht wundern, wenn die EU in die Arme der USA getrieben wird.



Auf beiden Seiten des Atlantiks liegt nun die Initiative bei denjenigen, die eine Konfrontation bevorzugen. Angesichts der chinesischen Einschüchterungspolitik ist es tatsächlich sinnvoll, wenn Europa und die USA ihre Vorgehensweisen untereinander und mit anderen Partnern abstimmen. Die Botschaft an Peking muss klar sein: Wenn es mit Europa Geschäfte machen will, muss es anerkennen und respektieren, wie Europas politisches System funktioniert und was dies mit sich bringt – zum Beispiel im Hinblick auf ein glaubwürdiges Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit und zur Sicherung von Eigentumsrechten.



Beschwerden über das „Jahrhundert der Demütigungen“ und den „Boxer-Aufstand“ (1899–1901) mögen zwar beim chinesischen Publikum gut ankommen, in Europa werden sie jedoch kein Gehör finden. Auch das ist eine der unangenehmen Wahrheiten, auf die man sich in China wird einstellen müssen: Anders als im Fall Afrikas blendet Europa seine Kolonialgeschichte in China einfach aus. Das mag unfair sein, ist aber Teil der Realpolitik.



China lässt sich nicht „ändern“

Gleichzeitig muss auch Europa die Grenzen seiner Verhandlungsmacht anerkennen. Ja, die europäischen Werte sind für Brüssel nicht verhandelbar. Doch die Anmaßung, man könne die chinesische Entwicklung in irgendeiner Weise grundlegend „ändern“, ist bestenfalls absurd. Peking mag sich vielleicht irgendwann dazu entschließen, die Baumwollproduktion in Xinjiang „menschenrechtskonformer“ zu gestalten oder den Repressionsapparat in Hongkong zu lockern. Eine grundlegende Kurskorrektur wird es in diesen Fragen aber nicht geben.



Der öffentlichen Diskussion in Europa täte es gut, wenn sich die beteiligten europäischen Nationen gemeinsam um die Aufarbeitung der historischen Hinterlassenschaften des europäischen Imperialismus in China bemühen würden. Das würde zur Aufklärung beitragen und könnte helfen, die Konfliktlinien auf beiden Seiten aufzuweichen.



Trotzdem wäre es nicht mehr als ein Hirngespinst, wirklich davon auszugehen, dass sich die europäische Öffentlichkeit in Zukunft für ein ihr zutiefst fremdes chinesisches Regime erwärmen könnte. Argwohn, Misstrauen und Ressentiments lauern überall. Unternehmen, die von beiden Märkten profitieren wollen, werden derweil weiterhin zwischen hehren ethischen Vorsätzen und pragmatischem Zynismus lavieren. Sie werden sowohl auf die chinesischen Verbraucher achten als auch auf den Rufschaden, den westliche NGOs anrichten können. Wenn das am Ende bedeutet, dass im Westen weniger billige Kleidung aus Xinjiang-Baumwolle verkauft wird, wäre das ein kleiner Preis.



Die tiefergehende Frage ist, ob die Konflikte die Agenda dominieren werden. Indem sie das Investitionsabkommen forcierten, signalisierte die EU ihre Haltung, dass dem nicht so sein sollte. Chinas Überreaktion riskiert nun die Verschmelzung von Themenbereichen, die Fortschritte an anderen Fronten unmöglich machen würde. Es könnte sogar dazu führen, dass die Europäer voll auf die amerikanische Linie einschwenken: Das wäre eine sehr folgenschwere Entwicklung.



Europas Kritik an dem repressiven Vorgehen des chinesischen Regimes in Xinjiang bedeutet bislang nur eine partielle Orientierung an der US-Politik. Die Beziehungen zwischen den USA und China werden von Washington derweil weiterhin als Großmächtekonflikt definiert. Für die USA geht es dabei, so hat es Biden nach seinem Amtsantritt deutlich gemacht, um die Frage der US-Vorherrschaft. Mit dem Selbstbewusstsein der amerikanischen Babyboomer-Generation erklärte Biden zuletzt: „China hat ein übergeordnetes Ziel: das führende Land der Welt zu werden, das reichste Land der Welt und das mächtigste Land der Welt. Solange ich im Amt bin, wird das nicht passieren.“



Für die USA ist diese Art, ihre Ziele zu formulieren, mehr als unglücklich. Es zeigt, dass sich Washington noch lange nicht mit der Realität einer multipolaren Welt arrangiert hat, in der nicht mehr offensichtlich ist, was es heißt, die Nummer eins zu sein. Viel hängt davon ab, dass die amerikanische Politik in diesem Punkt in der Gegenwart ankommt. Dies ist allerdings keine Schlacht, die Europa schlagen muss. Für Brüssel ist vielmehr die Verteidigung der eigenen Werte und der europäischen Autonomie wesentlich – Fragen der globalen Vormachtstellung eher nicht.



Es war und ist richtig, dass Europa für eine mehrgleisige Strategie des Engagements gegenüber China plädiert. Dazu gehört auch ein gewisses Maß an Kompromissbereitschaft und – wie in der Ära der Entspannungspolitik in den 1970er Jahren – auch ein gewisses Maß an Doppelmoral und sogar Heuchelei. Damals wie heute ist dies angesichts der hohen Risiken, die sonst drohen, ein Preis, den es sich zu zahlen lohnt. Der Erfolg dieser Strategie hängt nun jedoch maßgeblich von Chinas Bereitschaft ab, die „Logik der Differenzierung“ zu akzeptieren.



Klar ist auch, dass die mehrgleisige Strategie fragil ist. Denn auf beiden Seiten spielt die öffentliche Meinung eine wichtige Rolle. Bringt Peking die europäische Öffentlichkeit gegen sich auf, werden die Spannungen und Ungereimtheiten, die der mehrgleisigen Entspannungsstrategie innewohnen, zu einer Implosion der chinesisch-europäischen Beziehungen führen. Dass China bereits so viel Unmut hervorgerufen hat in Zeiten, in denen Europa über so viele andere Fragen zerstritten ist, zeigt, wie labil dieses Verhältnis in Zukunft sein könnte.



Aber: Ein Konflikt ist nicht vorprogrammiert. Europa entwickelt sich gerade zu einem globalen Akteur, und andere lernen, wie sie künftig mit Brüssel umgehen können. Natürlich ist europäische „Grand Strategy“ fragil. Mangels einer großen politischen Maschinerie mit kongruenter „Weltanschauung“ – so wie sie in Washington und noch einmal in ganz anderem Maße in Peking existiert – ist sie weitaus weniger autonom handlungsfähig. Das mag für europäische Möchtegern-Strategen mitunter frustrierend sein, spiegelt jedoch im Grunde nur die einzigartige politische Struktur der EU wider. Eine mehrgleisige Entspannungspolitik gegenüber China ist für Brüssel deshalb der richtige Ansatz; er wird aber auch immer wieder durch die demokratischen Strukturen des Staatenbunds und durch die öffentliche Meinung bedingt und eingeschränkt werden. Es würde nicht schaden, wenn auch die anderen Weltmächte diese Lektion lernen.



Aus dem Englischen von Kai Schnier

Prof. Adam Tooze ist Wirtschaftshistoriker, lehrt Geschichte an der Columbia-Universität in New York und leitet ihr Europa-Institut.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 58-63

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