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01. Mai 2008

Europas ferner Westen

Die EU und Lateinamerika müssen ihre gemeinsamen Werte verteidigen

Energiepartnerschaft, Klimaschutz, Armutsbekämpfung: Die EU, Lateinamerika und die Karibik haben eine volle Agenda. Doch weder Wirtschaftskraft noch Ressourcen machen die Region zum wichtigen Partner Europas. Entscheidend sind Soft Interests: Geteilte Werte und Überzeugungen.

Alle lateinamerikanischen und karibischen Staaten, selbst Kuba, orientieren sich außenpolitisch vor allem an den USA. Dennoch sucht die Region nach Möglichkeiten, ihre internationalen Beziehungen zu diversifizieren. Ihr begehrtester Partner ist die EU. Das überrascht nicht: Lateinamerika und Europa ähneln sich in Kultur, Werten und Religion. Diese Ähnlichkeiten sollten eine starke Basis für eine belastbare Beziehung darstellen.

Doch trotz all dem, was die beiden Regionen eint, scheint den lateinamerikanischen und karibischen Ländern (LAK) die Freundschaft recht einseitig. Sie bringen der „alten Welt“ Interesse und Sympathie entgegen, doch aus Brüssel kommt keine befriedigende Antwort. Die EU kümmmert sich mehr um ihre Nachbarn, Russland, Afrika oder die aufstrebenden Volkswirtschaften China und Indien. Auf dem südamerikanischen Kontinent konzentriert sie sich vor allem auf Brasilien, das tatsächlich der einzige Global Player der Region ist. Um Aufmerksamkeit zu bekommen, spielen sowohl Brasilien als auch andere LAK-Staaten die „China-Karte“, ebenso wie es die afrikanischen Staaten in Lissabon im vergangenen Jahr taten. Doch wie wichtig ist Lateinamerika für die EU? Wie tragfähig sind die viel beschworenen kulturellen Gemeinsamkeiten und übereinstimmenden Werte? Einige geopolitische Anhaltspunkte können helfen, diese Frage zu beantworten.

Hard Interests und Soft Interests

Staaten setzen ihre außenpolitischen Schwerpunkte entsprechend verschiedener Arten von Interessen. Hard Interests, also machtpolitische oder ökonomische Interessen, determinieren Sicherheits-, Sozial- und Umweltpolitik. Soft Interests resultieren aus Prinzipien und Werten, die nicht direkte Sicherheits- oder Wohlfahrtsvorteile mit sich bringen. Die wichtigsten sind Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und gute Regierungsführung, aber auch Konfliktvorbeugung, friedliche Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung. Die öffentliche Meinung unterstützt Hard Interests oft eher, weil sie konkreter sind. Soft Interests und Hard Interests sind nicht immer klar zu trennen, und beide können durch Hard Power verteidigt werden, also militärischen Druck bzw. Unterdrückung und Einschüchterung, oder durch „Zuckerbrot und Peitsche“ in ökonomischer Hinsicht. Soft Power hingegen umfasst kulturelle und ideologische Überzeugungsversuche, guten Willen und die Fähigkeit, Menschen durch Argumente zum Umdenken zu bewegen. Sie kann auch zur Durchsetzung der Hard Interests dienen.

Diesem Konzept folgend seien zunächst die Hard Interests thematisiert, die in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der LAK-Region eine Rolle spielen.

Energiepartnerschaft als Ziel

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist mäßig und nimmt ab. 2006 betrug der Anteil der LAK-Region am EU-Außenhandel nur 4,6 Prozent (1994 waren es noch sechs Prozent). 13 Prozent der lateinamerikanischen Exporte gingen in die EU, im Vergleich zu 17 Prozent 1994. Zwei Drittel der EU--Direktinvestitionen in Lateinamerika und der Karibik kommen aus Spanien und den Niederlanden. Sie beschränken sich auf den Dienstleistungssektor (Telekommunikation, Transport, Energie und Wasser) und in geringerem Maße auf die Erschließung von Rohstoffen. Schließlich gehen 78 Prozent aller Investitionen nach Brasilien, Argentinien und Chile und in jüngster Zeit zunehmend nach Mexiko.

Die Region verfügt über keinerlei Ressourcen, die nicht auch an anderer Stelle zu bekommen wären. Das gilt sogar für Kupfer und Gold aus Peru und Chile oder Uran aus Brasilien. Das Öl aus Venezuela, Mexiko, Ecuador und Peru und die Kohle aus Kolumbien ist für die Union vergleichsweise irrelevant.

Die großen bolivianischen, venezolanischen und peruanischen Gasreserven hat die EU in ihren Bemühungen um Diversifizierung noch nicht bedacht. Grund dafür war bisher, dass die Kosten für Transport und Infrastruktur für Flüssiggas wesentlich höher liegen als beim Öl und sich innerhalb der letzten vier Jahre verdreifacht haben. Wären die Energieunternehmen jedoch bereit, im großen Stil mit in die Erschließung neuer Gasfelder, Infrastruktur, Bevorratung, Pipelines, Verflüssigungsanlagen und Tanks zu investieren, könnte die EU sich verstärkt für lateinamerikanisches Gas interessieren. Es wird ja wahrscheinlich noch 20 Jahre dauern, bis es technisch und wirtschaftlich machbar ist, Wasserstoff aus Algen zu gewinnen. Bis dahin ist Erdgas der einzige Grundstoff für die Herstellung von Wasserstoff.

Ob diese Investitionen letztlich kommen, wird von den finanziellen und rechtlichen Rahmenbedingungen ebenso abhängen wie von der wirtschaftlichen und politischen Lage. Die Entscheidungen, die die Anhänger des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Venezuela, Bolivien und Ecuador getroffen haben, müssen erst ihre Wirkung entfalten, um sich in den Risikobeurteilungen für Investoren niederzuschlagen. Außerdem ist außer Trinidad und Tobago bislang kein LAK-Staat in der Lage, Gas an Ziele außerhalb des Subkontinents zu exportieren. Der lokale Verbrauch ist hoch, so dass es im südlichen Lateinamerika bereits zu Versorgungsengpässen kommt. Argentinien, Bolivien und Brasilien könnten ihre Erdgasproduktion auf lange Sicht zwar steigern, aber auf kurze Sicht wird zu wenig produziert. Bolivien hat seine Liefergrenze bereits erreicht.

Der derzeit am meisten diskutierte Rohstoff aus der Region ist Biomasse. Die EU und die USA machen einen Fehler, wenn sie dem aus Zucker gewonnenen Ethanol protektionistische Einfuhrbeschränkungen auferlegen zu Gunsten ihres ineffizienten, nicht wettbewerbsfähigen und energieintensiven Ethanols aus Weizen, Mais oder Raps. Das Argument, die EU müsse bei der Herstellung von Ethanol der ersten Generation mitziehen, um die Technologie für die zweite, weniger auf Agrarprodukten basierende Generation zu entwickeln, überzeugt nicht und wird zunehmend verworfen. Dasselbe Know-how könnte in der Phase der ersten Generation durch Joint Ventures erlangt werden. Theoretisch könnten sowohl Erdgas als auch Ethanol eine einmalige Chance für eine Verbesserung der Wirtschaftbeziehungen zwischen den LAK-Staaten und der EU darstellen. Eine „biregionale Energiepartnerschaft“ ist daher bedeutsam.

Auf Bestreben der EU wurde das Thema Klimawandel zu einem der Schwerpunkte des gemeinsamen Gipfels in Lima am 16./17. Mai gemacht. Die LAK-Staaten sind lediglich für vier Prozent aller weltweiten Treib-hausgasemissionen verantwortlich.

Doch ihre Regenwälder, vor allem im Amazonas-Becken, sind die Lunge der Welt. Unglücklicherweise sind durch die Ausbreitung der Agrarwirtschaft, intensive Viehzucht und illegale Rodungen schon 12 bis 15 Prozent dieses Waldes verloren.

Die Union plädierte beim Klimagipfel in Bali für bindende Ziele, um die Waldvernichtung zu beenden – sie sollte allerdings auch bereit sein, dafür einen gerechten Preis zu zahlen, vor allem den ärmeren Ländern.

Für die Glaubwürdigkeit der EU ist es unerlässlich, dass die Union die lateinamerikanischen Staaten bei der Entwicklung sauberer und wirtschaftlicher Technologien unterstützt, um ihren CO2-Verbrauch zu senken.

Win-Win durch Zuwanderung

Lebten 2000 noch eine Million Einwanderer aus der LAK-Region in der EU, waren es 2006 2,8 Millionen. Sie kommen mehrheitlich aus Ecuador, Brasilien, Peru, Kolumbien, der Dominikanischen Republik und Bolivien und integrieren sich vergleichsweise gut. Die meisten sind Wirtschaftsflüchtlinge. Insgesamt schicken sie jährlich 1,5 Milliarden Dollar an ihre Familien in den Herkunftsländern. Seit dem letzten EU-LAK-Gipfel 2006 in Uruguay betonen die lateinamerikanischen Regierungen, wie notwendig es sei, die rechtliche Situation der Einwanderer in Europa zu klären. Die EU-Länder geben diesem Wunsch meist nicht nach, um nicht weitere illegale Einwanderer anzuziehen. Aus nachvollziehbaren sicherheitspolitischen Gründen ist für die EU die Eindämmung illegaler Einwanderung ein wichtiges Thema. Aber auch ohne eine 1230 Kilometer lange Mauer verschlingt die Kontrolle der EU-Grenzen mehr Mittel als die Entwicklungszusammenarbeit. Der ehemalige belgische Premierminister Verhofstadt fasste den Kern des Problems folgendermaßen zusammen: „Solange sich in Europa und den USA 73 Prozent des weltweiten Einkommens und nur 14 Prozent der Weltbevölkerung befinden, werden weder Überwachung noch Kontrolle der Gewässer, noch schnelle Patrouillenboote, noch Stacheldraht die illegale Immigration verhindern.“

Dabei kann und sollte legale Migration eine Win-Win-Situation sein: Zuwanderer sind wichtig, um die Konsequenzen unserer dramatischen demografischen Situation abzumildern. Dennoch ist der Tag noch in weiter Ferne, an dem europäische Politiker den Mut haben zuzugeben, dass wir jährlich 700 000 ausgesuchte legale Einwanderer brauchen, um unser Wirtschaftswachstum und unser Sozialsystem zu erhalten.

Die zerstrittene Region

Während die EU unter Jacques Delors zum globalen politischen Akteur geworden ist, konzentrieren die LAK-Staaten, mit Ausnahme Brasiliens, ihre Außenpolitik auf ihre eigene Region. Ihre zunehmende Spaltung verhindert, dass sie auf der internationalen Bühne mit einer Stimme sprechen können. Brasilien macht die schmerzhafte Erfahrung, dass Größe allein nicht ausreicht, um in der Region die Führung zu übernehmen, auch wenn brasilianische Politiker das ungern zugeben. Außenpolitik, stellen sie fest, ist auf globaler Ebene einflussreicher als auf regionaler. Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez und Ecuadors Rafael Correa unter Kontrolle zu halten, ist nicht gerade einfach. Die entscheidende Rolle Brasiliens in der Welthandelsorganisation und im indisch-brasilianisch-afrikanischen Forum sowie seine Präsenz bei der Nahost-Friedenskonferenz in Annapolis sind nur einige der Gründe, aus denen bilaterale Beziehungen mit dem portugiesischsprachigen Staat auf der EU-Agenda ganz oben stehen. Es ist das einzige LAK-Land, mit dem die EU eine strategische Partnerschaft vereinbart hat.

Sicherheitspolitik

Die militärische Stärke der LAK-Staaten ist begrenzt. Das gilt ebenso für die EU. Ihre Verteidigungspolitik ist auf Prävention und Friedenssicherung ausgelegt und nicht offensiv. Auf diesem Gebiet haben beide Regionen bereits erfolgreich zusammengearbeitet: Argentinien, Brasilien und Chile nahmen mit europäischen Ländern zusammen an multilateralen Friedenseinsätzen teil. In Bosnien standen belgische Truppen unter argentinischem Kommando. Während der Kampf gegen den Terrorismus zwischen den beiden Regionen kein Thema ist, sind sie gezwungen, sich mit dem Drogenhandel auseinanderzusetzen. Der Anbau von Rauschmitteln in der Anden-Region, Schmuggel und die damit verbundene Kriminalität bergen auch für die EU Gefahren. Drogenbekämpfungsmaßnahmen haben sich nicht nur als ineffektiv erwiesen, sondern sie gefährden häufig sogar die Demokratie und Stabilität in den LAK-Staaten. Leider haben die von EU und LAK geschaffenen Mechanismen zur Drogenbekämpfung noch keine Erfolge vorzuweisen. Das zeigt der Panama Action Plan von 1999. Er sollte ursprünglich Mittel und Kräfte zur Verfügung stellen, um Drogenlabore hochzunehmen, die Nachfrage zu verringern, Geldwäsche zu verhindern, alternative Einkommensquellen zu entwickeln und auf dem Meer, vor allem in der Karibik, gemeinsam zu kontrollieren. Die EU unterstützt all diese Vorhaben, indem sie Projekte finanzierte, aber eine Vision, wie Antidrogenstrategien zu definieren oder umzusetzen seien, hat sie nicht. Dementsprechend reagieren die LAK-Staaten auf das EU-Engagement eher enttäuscht. Um die Zusammenarbeit zu verbessern, müssen EU und die internationale Gemeinschaft ihre Fehler einsehen und ihre Drogenpolitik von Grund auf erneuern. Derweil nutzt die Spaltung der Welt bezüglich der Reduzierung von Angebot und Nachfrage vor allem den Drogenorganisationen.

Soft Interests

Sowohl die Weltbank als auch die CEPAL haben auf Grund empirischer Untersuchungen darauf hingewiesen, dass starkes Wirtschaftswachstum in Staaten mit hoher sozialer Ungleichheit – wie in den meisten lateinamerikanischen Staaten der Fall – normalerweise diese Ungleichheiten noch vertieft, selbst wenn die Regierungen sich bemühen umzuverteilen. Verletzungen der politischen und Bürgerrechte in den LAK-Staaten sind inzwischen nicht mehr vorsätzlicher Teil der Politik. Sie geschehen vielmehr durch Verstöße von Regierungsbeamten, Versäumnisse, fehlende Mittel und nicht ausreichende Sicherheitsvorkehrungen. Die Situation der ökonomischen und sozialen Rechte sieht wesentlich schlechter aus. Das wird sich auch so schnell nicht ändern. Extrem niedrige Steuereinnnahmen (im Durchschnitt 13,2 Prozent des BIP), schlechte Budgetplanung- und Umsetzung, Straflosigkeit bei Korruption und die Plünderung des Staatshaushalts verhindern eine gerechtere Verteilung der Einkommen, des Wohlstands und der Aufstiegsschancen. Außer Kuba haben alle lateinamerikanischen Staaten eine Mehrparteiendemokratie, aber nicht immer handelt es sich dabei um eine soziale Demokratie, die Armut und große Einkommens-ungleichheiten zu bekämpfen versucht. Die Funktionsfähigkeit einer Demokratie misst sich jedoch daran, ob sie in der Lage ist, allen gleichermaßen öffentliche Güter und ein Auskommen zur Verfügung zu stellen. Das Streben nach sozialer Kohäsion durch die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit und die Förderung sozialer Teilhabe sind zu Recht neben Energie und Klimaschutz der zweite Schwerpunkt des Lima-Gipfels.

Mit keiner anderen Weltregion teilt Europa so viele Werte und Prinzipien wie mit den LAK-Staaten. Demokratie, Menschenrechte, Religionsfreiheit, Rechtsstaat, der Kampf gegen Armut, der Respekt der territorialen Integrität und der politischen Unabhängigkeit sind einige davon. Die EU und die LAK-Staaten brauchen einander, um andere Regime gemeinsam von diesen Soft Interests zu überzeugen. Unsere Interessen in der LAK-Region sind zweifelsohne weniger entscheidend als die den USA gegenüber. Aber sie sind wichtig genug, dass es sich lohnt, unsere vorrangigen Beziehungen auszubauen, um gemeinsam auf der internationalen Bühne unseren Einfluss zu verstärken und die Wirtschaftsbeziehungen wieder lebendiger zu gestalten. Um mit China konkurrieren zu können, dürfen wir unsere Verteidigung der Demokratie, der Menschenrechte und der Good Governance nicht aufgeben. Soft Interests sind nicht verhandelbar. Wären sie das, verlören wir unsere Glaubwürdigkeit in der Region und damit auch die Grundlage, sie durchzusetzen.

Der große Jacques Delors hat einmal gesagt, die EU als globaler Akteur könne es sich nicht leisten, irgendwo nicht präsent zu sein. Lateinamerika ist unser „Ferner Westen“, aber zugleich die dritte Säule des atlantischen Dreiecks, das die westliche Zivilisation ausmacht. Wenn in 25 Jahren tatsächlich nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung in der EU leben, werden wir die Unterstützung des gesamten amerikanischen Kontinents dringend brauchen, um Hard Interests ebenso wie Soft Interests zu verteidigen. Die Herausforderung besteht darin, unseren gemeinsamen Werten eine universelle und nachhaltige Dimension zu verleihen. Nicht Optimismus ist gefragt, sondern Entschlossenheit.

Prof. Dr. WILLY J. STEVENS, geb. 1939, war Botschafter in zehn lateinamerikanischen Ländern. Zurzeit forscht und lehrt er am Centre Européen de Recherches Internationales et Stratégiques (CERIS) in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, May 2008, S. 114 - 119

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