IP Special

30. Dez. 2024

Europa und die Türkei: Pragmatische Partnerschaft

Dass man einander braucht, ist bekannt. Doch angesichts der bündnispolitischen Unberechenbarkeit Ankaras steuert gerade Deutschland um: vom Wünschenswerten zum Machbaren. Genügt es, da zu kooperieren, wo türkische und ­europäische Interessen überlappen?

Bild
Bild: Scholz und Erdogan
Abwägungssache: Es lief schon mal reibungsloser zwischen der Türkei und Deutschland. Doch an einer Zusammenarbeit führt kein Weg vorbei.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

In ihren Berichten zur Türkei-Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz im Oktober 2023 demonstrierten die deutschen Journalisten einen bemerkenswerten Meinungspluralismus. Die einen erlebten das Treffen in einem Klima des „Wollen wir Freunde werden?“, während andere titelten: „Scholz und Erdoğan zwingen sich zur Zusammenarbeit“. 

Doch alle Beobachter registrierten einen Schwenk der deutschen Politik vom Normativen zum Pragmatischen. Man spricht weniger über Menschenrechte und Demokratie, weil man mehr konkrete Zusammenarbeit möchte, heißt es. Kritik an dieser Neuausrichtung wird nur verhalten formuliert. Die Erkenntnis, dass man aufeinander ­angewiesen ist, greift Raum. 

Zu groß ist für Berlin der Handlungsdruck in Sachen Migration, als dass man auf Kooperation mit der Türkei verzichten könnte, einem wichtigen Transitland für Migration aus Syrien, dem Iran, dem Irak und Afghanistan. Zu unwägbar ist der Verlauf des Krieges in der Ukraine, als dass man davon Abstand nehmen könnte, den NATO-Partner stärker einzubeziehen und darüber nachzudenken, wie die militärischen und diplomatischen Potenziale der Türkei stärker zur Geltung gebracht werden können. 


Gemischte Erfahrungen

Doch auch Ankara braucht Brüssel und Berlin. Braucht mehr Investitionen in seine Industrie, braucht mehr Technologie und Innovation. Und es braucht Europa, auch als Alternative zu den USA und Russland, für die Ausstattung der Streitkräfte und die Weiterentwicklung seiner boomenden Rüstungsindustrie. Rüstungsimporte aus Deutschland sind wichtig für die türkische Marine, insbesondere die U-Boot-Produktion. Eurofighter sollen die Kampfkraft der türkischen Luftwaffe erhöhen.

Doch wie berechenbar sind die Entwicklungen in der Türkei? Wie verlässlich ist der türkische Präsident, der in seinem Land alles allein bestimmt? Und wie vereinbar sind die Ziele und Interessen Ankaras mit denen von Berlin und Brüssel? 

Man denke nur an die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit in der Flüchtlings­politik. Heute will die Bundesregierung die Kooperation mit Ankara weiter vertiefen, die die EU 2016 auf deutsche Initiative hin begonnen hat. Berlin will in größerer Zahl abgelehnte Asylbewerber türkischer Staatsbürgerschaft in die Türkei zurückführen und außerdem die Unterstützung Ankaras für Rückführungen nach Syrien und Afghanistan gewinnen. Zur Rücknahme türkischer Staatsbürger hat Ankara sich in einem entsprechenden Abkommen mit der EU vom Mai 2015 grundsätzlich verpflichtet. Doch gegen eine für Deutschland effektive Abschiebung türkischer Staatsbürger in Form von Charterflügen sperrt sich die türkische Regierung. Pressefotos solcher Aktionen verletzten das türkische Nationalgefühl, heißt es. 

Noch nimmt die Türkei – wenngleich in begrenzter Anzahl und zögerlich – auch Flüchtlinge aus Syrien und anderen Staaten zurück, die über ihr Territorium in ein Mitgliedsland der EU eingereist sind und denen dort kein politisches Asyl gewährt wird. Auch dazu hat sich Ankara in dem genannten Abkommen verpflichtet. Doch schon seit Juli 2018 akzeptiert die Türkei keine Rückführungen aus Griechenland mehr. Damals entschied die griechische Justiz gegen den Antrag der Athener Regierung auf die Gewährung von politischem Asyl für einen türkischen Offizier. Er soll, so Ankara, zwei Jahre zuvor am Putschversuch in der Türkei beteiligt gewesen sein. 

Dramatisch gestaltete sich die Entwicklung im Februar 2020. Der türkische Grenzschutz stellte nicht nur seine Kontrollen an der Grenze zu Griechenland ein, sondern half auch Flüchtlingen dabei, die griechische Grenze zu überschreiten. Vorher hatte sich die EU geweigert, türkischem Drängen auf eine begrenzte militärische Aktion im Nordwesten Syriens nachzukommen, mit der Ankara einen weiteren Zustrom von Flüchtlingen verhindern wollte. 

In allen diesen Fällen hat Ankara politische Erwägungen über seine vertraglichen Verpflichtungen gestellt und eine vereinbarte Kooperation ausgehebelt. Dass die türkische Regierung das Projekt nur halbherzig verfolgte, lag freilich auch daran, dass die Türkei sehr schnell realisieren musste, dass ihre eigenen Ziele unerreichbar blieben. Weder wurde dem Beitrittsprozess des Landes zur EU neues Leben eingehaucht, noch kam Ankara der visumfreien Einreise für seine Bürger in den Schengen-Raum näher. Das waren durchaus legitime Ziele. Wären sie auch nur teilweise erreicht worden, stünde man heute auf viel festerem Grund für eine neue Runde der Zusammenarbeit.


Flexibel statt verlässlich

Auch in der Sicherheitspolitik ist das Ergebnis der Zusammenarbeit mit der Türkei bislang durchwachsen. Auf der Negativseite steht zweifellos, dass Ankara weder die Sanktionen der EU noch die der anderen NATO-Staaten gegen Russland mitträgt. Im Gegenteil, zum eigenen wirtschaftlichen Vorteil ermöglicht man Moskau die Umgehung eines Teiles dieser Maßnahmen. 

Schon vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine hatte Ankara eine stärkere militärische Präsenz von NATO-Staaten verhindert, die keine Anrainer des Schwarzen Meeres sind, und diese Politik auch nach Beginn des Krieges fortgeführt. Ihre Einwilligung zum NATO-Beitritt von Finnland und Schweden erteilte die Türkei erst, nachdem sich die USA zur Lieferung von neuen F-16-Kampfflugzeugen an die Türkei und zur Aufrüstung älterer Modelle bereit erklärt hatten. Zu mehr Vertrauen unter den NATO-Partnern hat dieser Handel nicht geführt. 

Ankara trägt die Sanktionen der EU und der anderen NATO-Staaten gegen 
Russland nicht mit, sondern 
ermöglicht Moskau die 
Umgehung eines Teiles der Maßnahmen

Kooperation mit Ankara funktioniert deshalb nur, wenn die Eigeninteressen der Türkei richtig erkannt und so weit wie eben möglich berücksichtigt werden. Ein Beispiel für teilweise überlappende Interessen der Türkei und der NATO ist das Schwarze Meer. Dort möchte Ankara trotz seiner Partnerschaft mit Moskau nicht, dass Russland in der Region erneut zum Hegemon wird. 

So hat die Türkei seit der russischen Annexion der Krim 2014 alle Entscheidungen und Schritte der NATO zur Erhöhung der militärischen und strategischen Kapazitäten des Bündnisses gegenüber Russland mitgetragen. Sie beteiligt sich an der Kontrolle des Luftraums über Rumänien, und in Bulgarien sind türkische Truppen Teil der neuen NATO-Battlegroup. Für die Ukraine hat sich die Türkei zu einem engen Partner in der Rüstungsindustrie entwickelt. Die türkische Firma Baykar hat mit der Errichtung einer Fabrik für bewaffnete Drohnen in der Ukraine begonnen, und ihr Modell Akıncı wird von ukrainischen Motoren angetrieben. 


Zu Höherem berufen

Statt allgemein nach der Verlässlichkeit Ankaras zu fragen, sollten Europa und Deutschland sich also über die außenpolitische Vision der Türkei klar werden und über das Selbstverständnis ihrer politischen Klasse. 

Ein Eckpunkt dieses Selbstverständnisses ist die Sehnsucht nach einer wieder zu erlangenden Grandeur. Zum 100. Jahrestag der Gründung der Republik 2023 verkündete die türkische Regierung das „Jahrhundert der Türkei“. Schon vorher wurde der Präsident nicht müde, seiner Nation zu erklären, dass, so wörtlich, „die Türkei viel größer ist als die Türkei“. Weder ihre heutigen Grenzen noch die relativ kurze Geschichte der Türkischen Republik würden der politischen und ideellen Bedeutung der Türkei gerecht. Zwar ist das Motto aufs Engste mit der Person Recep Tayyip Erdoğans verbunden, doch weite Kreise der türkischen Gesellschaft teilen die Überzeugung, dass die Türkei zu Höherem berufen ist.

Das Ziel war in den 1990ern eine „türkische Welt von der Adria bis zur Chinesischen Mauer“

Ein Versuch, der Türkei neue politische Größe und Bedeutung zu verschaffen, waren in den 1990er Jahren die Initiativen Ankaras, sich zum großen Bruder der neu entstandenen Turkstaaten Zentralasiens aufzuschwingen und eine „türkische Welt von der Adria bis zur Chinesischen Mauer“ zu schaffen. Anfang der 2000er postulierte dann der außenpolitische Berater Erdoğans und spätere Außenminister Ahmet Davutoğlu eine nur der Türkei eigene „strategische Tiefe“. Diese rühre, so Davutoğlu, nicht nur aus der geopolitischen Lage des Landes, sondern auch und vielmehr aus der exzeptionellen politischen Kultur und Staatlichkeit der muslimischen Türken. Das habe im Osmanischen Reich seine Vollendung gefunden und prädestiniere die Türkei dazu, die Rolle einer globalen Macht zu spielen. 

Die gesellschaftliche Resonanz dieser Vision war gewaltig. Davutoğlu wurde zu einem gefeierten Politiker, und als Erdoğan sich zum Staatspräsidenten wählen ließ, machte er Davutoğlu zum Ministerpräsidenten. In den 2010er Jahren schienen die arabischen Aufstände der Türkei die Gelegenheit zu bieten, die ersehnte neue Größe zu erlangen. In ­Syrien, Ägypten und Tunesien unterstützte die Regierung Erdoğan von Muslimbrüdern beeinflusste Parteien und Organisationen und hoffte, nach deren Machtergreifung zur Führungsmacht im Nahen Osten aufzusteigen. Die gegenwärtige Rhetorik vom anbrechenden „Jahrhundert der Türkei“ ist deshalb auch ein aktueller Ausdruck einer viel grundsätzlicheren Orientierung der türkischen Politik und verweist auf die Grenzen jeglichen Bemühens, die Türkei – wie es oft heißt – im Westen „einzubinden“ oder „zu verankern“.

Nicht immer muss der türkische Drang nach Grandeur westlichen Interessen zuwiderlaufen. So ermunterten die USA in den 1990er Jahren Ankara, sich in den zentralasiatischen Republiken als Gegengewicht zu Russland zu etablieren. Das damals entstandene Netzwerk hat sich heute zur „Organisation der Turkstaaten“ mit Sitz in Istanbul und Baku gemausert. Der Zusammenschluss hat es den ehemaligen Sowjetrepubliken erleichtert, ihre einst strikt auf Moskau zulaufenden kulturellen Bande und wirtschaftlichen Verflechtungen zu diversifizieren, und manche von ihnen beziehen mittlerweile in regionalen Konflikten von Russland unabhängige Positionen. 

Im Kaukasus und im Nahen Osten geht ein verstärkter Einfluss der Türkei zulasten des Iran. Beispiele dafür sind das veränderte Kräfteverhältnis zwischen Armenien und Aserbaidschan sowie der Ausbau der wirtschaftlichen und militärischen Präsenz der Türkei im Irak. Die zurückhaltende Reaktion Ankaras auf die Tötung von Hassan Nasrallah, Generalsekretär und spiritueller Führer der libanesischen Hisbollah sowie enger Verbündeter des Iran, warf ein Schlaglicht auf das Ringen zwischen Ankara und Teheran um Einfluss in der Region. 

Verwirrend ist das Bild in Afrika. Dort präsentiert sich die Türkei mit antikolonialer und bisweilen proislamischer Rhetorik als eine Alternative zu Europa, insbesondere zu Frankreich. Ankara knüpft seine rapide steigenden Rüstungsexporte und militärischen Kooperationen an keine normativen Konditionen und unterläuft damit westliche Bemühungen, in den Partnerstaaten Rechtsstaatlichkeit und Transparenz zu stärken oder zu etablieren.


Kampferprobtes Militär

Ein neuerer Zug türkischer Politik ist seit 2016 der Einsatz von Hard Power. Ermöglicht wurde er dadurch, dass die Regierung die absolute Kontrolle über die Streitkräfte erlangte, die bis dahin dem innen- und außenpolitischen Handeln der Regierung Grenzen setzen konnten. 

Zuvor hatte sich Ankara eher auf seine wirtschaftliche, kulturelle und politische Soft Power gestützt. Am 15. Juli 2016 scheiterte der Putschversuch eines relativ kleinen Teiles der Streitkräfte gegen die AKP-Regierung. Ausnahmslos alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte verurteilten das Komplott, und Erdoğan nutzte die Gunst der Stunde dafür, die bis dahin bestehende Struktur des Militärs als Staat im Staate zu zerschlagen. Die Generalsränge wurden in großem Stil von potenziellen Opponenten und Skeptikern gesäubert. Die Militärführung verlor jeden politischen Einfluss und die Offiziere einen Teil ihrer finanziellen Privilegien. 

Erdoğan nutzte die Gunst der Stunde, um die Struktur des Militärs als Staat im Staate zu zerschlagen

Nur fünf Wochen später sandte der Staatspräsident die Armee zum ersten Mal in den Norden Syriens. 2018 bis 2020 folgten weitere Invasionen, jetzt in Gebiete, die bis dahin von kurdischen Milizen gehalten wurden, die organisatorisch und ideologisch mit der türkisch-kurdischen Guerillaorganisation PKK verbunden sind. Im Januar 2020 griff die türkische Luftwaffe in den libyschen Bürgerkrieg ein und vermochte es, mit Hilfe ihrer bewaffneten Drohnen den Sturz der international anerkannten Regierung in Tripoli zu verhindern. 2020 und 2023 unterstützten türkische Offiziere das von der Türkei neu strukturierte Militär Aserbaidschans bei seinen Feldzügen gegen die armenisch besiedelte Region Berg-Karabach. 

In allen diesen Waffengängen kamen bewaffnete Drohnen türkischer Produktion zum Einsatz, die das türkische Militär die Jahre vorher in seinen Gefechten gegen die PKK erprobt und stetig weiterentwickelt hatte. Heute kann die Türkei sich damit brüsten, einer der führenden Produzenten bewaffneter Drohnen zu sein und über ein kampferprobtes Militär zu verfügen, das in der vernetzten Kriegs­führung neue Maßstäbe gesetzt hat. 


Rüstungsindustrie als Stolz der Nation

Die Türkei entwickelt sich außerdem zur Seemacht. 2018 und 2019 hat sie die Schlagkraft ihrer Kriegsmarine dazu genutzt, die Republik Zypern an der Exploration von unterseeischen Erdgasfeldern zu hindern und die Souveränität Griechenlands über seine ostägäischen Inseln infrage zu stellen. Der Aufbau des früheren türkischen Küstenschutzes zur Hochseemarine ist ein langfristiges Projekt. Der türkische Staatspräsident hat vor Kurzem den Bau eines zweiten Flugzeugträgers angekündigt. Nur eine Seemacht könne globalen Einfluss geltend machen, heißt es dazu in Ankara.

In Nordzypern, in Libyen, in Syrien und im Irak verleihen türkische Kampftruppen den nationalen außenpolitischen Zielsetzungen der Regierungen Nachdruck. In Aserbaidschan, Albanien und Bosnien-­Herzegowina ist das türkische Militär im Rahmen von Sicherheitspartnerschaften präsent. In Katar und Somalia verfügt die Türkei über strategisch bedeutende militärische Stützpunkte mit mehreren tausend fest stationierten Soldaten. In Afrika hat das Land mit 28 Staaten Sicherheitskooperationen abgeschlossen. Hier nutzt Ankara seit mehreren Jahren Ausbildungs- und Trainingsprojekte für die lokalen Sicherheitskräfte und Rüstungsexporte als Türöffner für diplomatische Annäherung und wirtschaftliche Kooperation. 

Die türkische Rüstungsproduktion entwickelt sich ausgesprochen dynamisch. Das belegen die Zahlen des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI). Während die Umsätze vieler führender Waffenproduzenten westlicher Länder von 2021 auf 2022 zurückgegangen sind, stieg der kumulierte Umsatz der vier größten türkischen Rüstungskonzerne um 22 Prozent. Auch hatte die türkische Rüstungsindustrie den höchsten Anteil am Anstieg der Exporte in den Nahen Osten, der 2022 den weltweit größten Aufrüstungsboom verzeichnete. 

Jahr für Jahr steigt der Anteil der Rüstungsindustrie am türkischen Export. Zu 78 Prozent decken die türkischen Streitkräfte ihren Bedarf aus eigener Produktion. Weitgehend unabhängig von der politischen Orientierung ist die heimische Rüstungsindustrie der Stolz der türkischen Nation. Sie ist jedoch auch der Augapfel des Präsidenten. Sein Schwiegersohn Selçuk Bayraktar ist Haupteigner des Drohnenproduzenten Baykar und hat es 2024 auf die Forbes-Liste der Dollar-­Milliardäre geschafft. Staatsaufträge und Projektförderung der Regierung haben entscheidend dazu beigetragen.

Die heutige Kontrolle der Regierung über die Streitkräfte, deren militärische Erfolge im Kampf gegen die PKK im eigenen Land und im Nordirak, die beeindruckende Effizienz türkischer Kriegsführung in Libyen und indirekt in Aserbaidschan verstärken sich gegenseitig. Zusammen mit der Dynamik der türkischen Rüstungsindustrie verschafft all das dem im internationalen Vergleich noch überschaubaren militärisch-industriellen Komplex der Türkei Einfluss auf die türkische Politik. Hinzu kommt, dass sich der Einsatz des Militärs und seiner Waffen bisher für Ankara sowohl diplomatisch als auch wirtschaftlich ausgezahlt hat. Die türkische Außenpolitik wird deshalb auch in Zukunft stark militärisch geprägt sein. 


Bedingt beeinflussbar

Wie gehen Deutschland und Europa mit diesem neuen Stil türkischer Politik und der gewachsenen militärischen Stärke Ankaras um? Ist die lang gehegte Annahme, Deutschland könne die Politik der Türkei durch eine restriktive Rüstungsexportpolitik beeinflussen, noch haltbar? Bietet sich die Türkei als Partner für ein Deutschland an, das wehrfähiger werden will? Können die militärischen und strategischen Potenziale des Landes für den Westen nutzbar gemacht werden und, wenn ja: Steht dem die innere Verfassung der Türkei im Wege?

Kurzfristig ist weder wirtschaftlich noch politisch mit einem anderen türkischen Vorgehen zu rechnen 

Bisher war das der Fall. Wiederholt haben der Rückbau des Rechtsstaats und die Verletzung der Menschenrechte in der Türkei die sicherheits- und wirtschaftspolitische Kooperation Brüssels und Berlins mit Ankara zurückgeworfen. Als die türkische Regierung nach dem gescheiterten Staatsstreich von 2016 den Ausnahmezustand ausgerufen und die Grundrechte außer Kraft gesetzt hat, legte der Europäische Rat die Beitrittsverhandlungen des Landes zur Europäischen Union offiziell auf Eis und schloss auch eine Erweiterung und Vertiefung der dringend reformbedürftigen Zollunion des Landes mit der EU aus. 

Gebessert hat sich seither wenig. Zwar gewann die Opposition die Kommunalwahlen vom März 2024 und regiert heute die wirtschaftlichen und kulturellen Zentren der Türkei. In Umfragen hält die Republikanische Volkspartei (CHP) ihren Vorsprung vor Erdoğans Partei. Doch kurzfristig ist weder wirtschaftlich noch politisch mit einer Änderung zu rechnen.

Wirtschaftlich schmort die Türkei seit 2016 verstärkt im eigenen Saft. Die ausländischen Direktinvestitionen fielen von 2,23 Prozent des BIP 2015 auf 1,59 Prozent 2016, 1,07 Prozent 2020 und 0,96 Prozent 2023. Um die Konjunktur nicht abzuwürgen, verordnete der Staats­präsident dem Land eine un­orthodoxe ­Niedrigzinspolitik, die die Inflation in lange unbekannte Höhen trieb. Erdoğan warf das Steuer erst nach den allgemeinen Wahlen vom Mai 2023 um, die der Regierung einen knappen Sieg bescherten. 


Permanent Präsident

Doch notwendige Strukturreformen werden bislang nicht angegangen. So öffnet das Gesetz über öffentliche Ausschreibungen nach wie vor der Korruption Tür und Tor. Eine von der Regierung gesteuerte Justiz kriminalisiert die Berichterstattung über entsprechende Skandale. Die Freiheit zur politischen Betätigung wird weiter eingeschränkt. Ende Oktober stimmte der Rechtsausschuss des Parlaments der Vorlage eines Gesetzes zu, das gesellschaftliches und politisches Engagement als „Agententum zum Schaden der Türkei und im Interesse ausländischer Mächte“ zum Straftatbestand macht. 

Der Schwenk der deutschen Politik trägt einer neuen Situation Rechnung: Verhandlungen finden auf Augenhöhe statt und 
dienen primär den eigenen Interessen 

Die Bürokratie und niedere Gerichte ignorieren Urteile des Verfassungsgerichts und untergraben die Rechtssicherheit. Strukturelle Reformen, Rechtssicherheit, Transparenz und politische Freiheiten würden die materielle Basis des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konglomerats, das die Regierung trägt, unterminieren und seinen inneren Zusammenhalt gefährden. Für die Regierung gilt es, eine Interessenkoalition zusammenzuhalten, die aus betont religiösen Gruppen, dem breiten konservativen Teil der Bevölkerung, mittelständischer Unternehmerschaft aus Anatolien, regierungsnahen Holdings primär der Bau- und Rüstungsindustrie sowie den Parteien des Regierungslagers besteht. 

Heute trommelt die Regierung für eine neue Verfassung, die ihr Überleben auch bei nachlassender gesellschaftlicher Unterstützung sichern soll. Zwar weigert sich ihr Sprecher beharrlich, offenzulegen, wie die neue Verfassung konkret aussehen soll und versteckt sich hinter allgemeinen Phrasen von mehr Demokratie. Äußerungen ihrer Spitzenpolitiker aber lassen unschwer erkennen, worum es geht: Erdoğan soll eine weitere Amtszeit ermöglicht, der Staatspräsident mit einfacher Mehrheit gewählt, die Individualklage vor dem Verfassungsgericht abgeschafft, die Verpflichtung zur Koedukation aufgehoben, die Vorschriften zum Laizismus wenn nicht annulliert, so zumindest verwässert und die Geltung der Grundrechte relativiert werden.

Zur bitteren Wahrheit gehört auch, dass der Einfluss Europas auf die Türkei rapide zurückgegangen ist und die Bemühungen der EU um Demokratisierung bisweilen kontraproduktiv gewesen sind. Ankara verfügt heute über eine Reihe von Alternativen. Die Türkei hat ihre früheren Konflikte mit den Golfstaaten weitgehend ausgeräumt und ist überzeugt, in den BRICS-Ländern auf globaler Ebene neue Partner gefunden zu haben. Der Schwenk der deutschen Politik trägt deshalb einer neuen und im Vergleich zu früher viel komplexeren Situation Rechnung. Verhandlungen werden fortan auf Augenhöhe stattfinden und primär den eigenen ­Interessen dienen. 

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 4-11

Teilen

Themen und Regionen

Mehr von den Autoren

Dr. Günter Seufert ist Wissenschaftler, freier Journalist und Buchautor. Zuvor hat er u.a. für die SWP, das Orient-Institut Istanbul und als Autor u.a. für die ZEIT gearbeitet.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.