„Europa kann es schaffen“
Dass die Trump-Regierung die Nähe Moskaus sucht, sei schwer verständlich, sagt der frühere US-General Ben Hodges. Die Europäer sollten aber in der Lage sein, Russland abzuschrecken. Dazu müssten sie ihre Schwächen bei der Luftverteidigung, der Rüstungsproduktion und beim Transportwesen beseitigen. Ein Interview mit Ben Hodges.
IP: General Hodges, als ehemaliger Kommandeur der US Army in Europa verkörpern Sie die transatlantischen Beziehungen, wie sie uns von früher vertraut sind. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation?
Ben Hodges: Drei Bemerkungen kommen mir sofort in den Sinn, wenn ich die Entwicklungen auf der strategischen Ebene betrachte. Erstens mache ich mir Sorgen, welche Folgen es für die Sicherheit und den Wohlstand der USA hat, wenn wir unsere Beziehungen zu unseren europäischen Verbündeten und unsere Glaubwürdigkeit innerhalb der NATO beschädigen. Das wird sich auf lange Sicht negativ auswirken. Wir sind davon abhängig, dass die europäischen Staaten uns Zugang zu Luftwaffenstützpunkten und Seehäfen in ganz Europa gewähren.
Zweitens, wenn man darauf schaut, wie die US-Verpflichtung auf Artikel 5 der NATO und zur Abschreckung in Europa wahrgenommen wird: Müssen die Russen annehmen, uns Amerikanern wäre die Lage egal? Führt das dazu, dass die Russen uns für verwundbar halten? Und würden sie sich furchtbar verkalkulieren, wenn sie meinen, wir wären nicht bereit, das Nötige zu tun? Das hätte nicht nur Auswirkungen auf die europäische Sicherheit, sondern auch auf die amerikanische. Hunderttausende Amerikaner leben und arbeiten in Europa. Tausende amerikanische Unternehmen sind in Europa vertreten.
Und drittens, auf persönlicher Ebene: Ich begann meine Berufslaufbahn 1981 in Deutschland, in Westdeutschland. Als frisch gebackener Leutnant war ich in Garlstedt stationiert, in der Lucius D. Clay-Kaserne zwischen Bremen und Bremerhaven. Damals, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, haben wir eng mit unseren Freunden in der Bundeswehr, der britischen Rheinarmee und auch der niederländischen Armee zusammengearbeitet. Heute fühlt es sich so an, als wäre all das, an was wir jahrzehntelang geglaubt haben, nicht mehr relevant. Möglicherweise ist das aber nur ein persönliches Gefühl, kein strategischer Gedanke. Gestern Abend habe ich auf einer Veranstaltung gesprochen, bei der junge Deutsche von ihrem Verlustgefühl sprachen, weil ihr Bild von Amerika für immer verloren ist. Für mich ist das schmerzhaft zu hören, aber ich begreife, was sie meinen.
Aber ist das nicht eine etwas verklärende Betrachtung?
Mir war immer klar, dass der Lieblingssport in Europa nicht Fußball ist, sondern das Kritisieren der amerikanischen Politik. Und im Laufe der Jahre gab es viel zu kritisieren, aber es gab auch immer eine Art Respekt für Amerika – wenn nicht für die amerikanische Politik, dann für die Idee von Amerika, selbst wenn wir dieser Idee nie gerecht werden konnten. Jetzt fühlt es sich so an, als wäre das möglicherweise weg und käme auch nicht mehr zurück. Ich will nicht melodramatisch sein, aber genau so fühlt es sich an.
Wir wissen nicht, ob sich die Vereinigten Staaten wirklich aus Europa zurückziehen. Was denken Sie?
Nach bestem Wissen schätze ich die Lage so ein: Demnächst steht die turnusmäßige Überprüfung der weltweiten Truppeneinsätze bevor. Eine neue US-Regierung muss ihre Prioritäten definieren und entscheiden, ob die Ressourcen richtig auf diese Prioritäten ausgerichtet sind. Das ist ein normaler und gesunder Prozess. Es ist auch kein Geheimnis, dass Präsident Donald Trump will, dass sich seine Regierung auf den Indo-Pazifik konzentriert. Allmählich dringen erste Berichte zu uns durch, die das widerspiegeln.
Die erste Konsequenz ist, dass wir von Europa verlangen, die europäische Sicherheit, einschließlich der US-Interessen, zum größten Teil selbst zu gewährleisten, ohne dass wir eine große Präsenz haben. Tatsächlich hat jeder US-Präsident seit Harry S. Truman gesagt, unsere Verbündeten müssten mehr tun. Hier betritt Trump kein Neuland. Die Neuausrichtung auf den Indo-Pazifik erfordert aufgrund der geografischen Gegebenheiten den Aufbau von Kapazitäten der Marine und der Luftwaffe. Das kostet viel Geld. In einer solchen Situation ist es immer die Armee, bei der am meisten gekürzt wird, weil man so am schnellsten an das meiste Geld kommt. Wenn man die Armee verkleinert, kann man Hunderte von Milliarden Dollar für andere Zwecke freisetzen. Offensichtlich sind Landstreitkräfte für den indopazifischen Raum auch nicht so geeignet wie für Europa, das ist klar.
Deswegen gehe ich davon aus, dass wir bald von massiven Kürzungen bei den Landstreitkräften hören werden, nicht nur in Europa, sondern insgesamt. Die Army besteht heute aus etwa 490 000 Soldatinnen und Soldaten. Nach dem, was ich neulich hörte, soll diese Zahl auf 360 000 sinken, also um fast ein Drittel. Das vermittelt Ihnen einen Eindruck vom Ausmaß der Kürzungen.
Dann gibt es die Idee, AFRICOM und EUCOM, die beiden Hauptquartiere in Stuttgart, zusammenzulegen. AFRICOM wurde 2007 unter der Regierung von George W. Bush geschaffen, weil man erkannte, dass das Hauptquartier des US European Command nicht in der Lage war, die Planungen, die Konzeptarbeit und Kooperation mit Afrika und unseren Verbündeten dort zu gewährleisten. Also wurde ein neues Hauptquartier geschaffen. Nun wird darüber diskutiert, die beiden Hauptquartiere wieder zusammenzulegen.
Außerdem wird darüber gesprochen, den Posten des SACEUR aufzugeben – also darauf zu verzichten, einen US-Vier-Sterne-General als militärischen Befehlshaber der NATO zu haben. Ich weiß nicht, ob es wirklich so weit kommt, und ich weiß auch nicht, wie das den amerikanischen Interessen dienen soll. Aber es könnte ein Anzeichen dafür sein, dass der Prozess des Ausstiegs aus der NATO beginnt.
Die ersten Kürzungsmaßnahmen in Europa dürften die rotierenden Einheiten betreffen, denn diese werden über Zusatzmittel zum normalen Haushaltsplan finanziert. Es gibt sie seit dem NATO-Gipfel in Warschau 2016, als die USA sagten: Nun gut, offensichtlich müssen wir wieder Panzer nach Europa bringen. Und zwar im neunmonatigen Turnus. Diese schweren Panzer, all die Ausrüstung, die durch Zusatzmittel bezahlt wird, das wird nach meiner Einschätzung als Erstes gekürzt, vielleicht noch vor Jahresende.
Die erwarteten Kürzungen gehen einher mit einer Annäherung an Moskau, wie es sie noch nie gegeben hat. Der US-Präsident spricht von dem „enormen wirtschaftlichen Potenzial“, das engere Beziehungen zu Russland mit sich bringen würden. Wie sehen Sie das?
Das gehört zu dem, was ich am wenigsten verstehen kann. Aber die Äußerungen, die man auch von Außenminister Marco Rubio und anderen hört, vermitteln genau das, was Sie gerade beschrieben haben: den Wunsch nach einer normalen Beziehung, nach einer Rückkehr Russlands in die G8, danach, wieder miteinander Eishockey zu spielen, nach Handel, und so weiter. Auf dem Weg dahin erscheint dann die Ukraine als Störfaktor oder Hindernis.
Ich kann nur spekulieren, aber man bekommt so ein seltsames Gefühl. Und angesichts des Wunsches der Trump-Regierung, so schnell wie möglich eine Einigung zu erzielen – ich dachte immer, es ginge dem Präsidenten darum, einen Friedensnobelpreis zu bekommen, wie Barack Obama und Theodore Roosevelt. Inzwischen glaube ich, dass es um viel mehr geht. Wir hatten mit Russland nie ein Verhältnis, in dem enge Beziehungen normal waren, wie zwischen den USA und Deutschland oder den USA und Großbritannien. Das Verhältnis zu Russland war vor allem durch den Kontext des Kalten Krieges mit der Sowjetunion und dem Kommunismus geprägt, gefolgt von einer kurzen Zwischenphase, bevor Wladimir Putin an die Macht kam.
Wenn der amerikanische Präsident jetzt über Wladimir Putin, gegen den der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehl erlassen hat, sagt, sie hätten „so viel gemeinsam erlebt“ – das kann ich nur schwer verstehen. Als ich gesehen habe, wie er und US-Vizepräsident J.D. Vance den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Oval Office wie Dreck behandelten, da wurde mir völlig klar, dass sie auf der Seite Russlands stehen. Plötzlich darf man nicht mehr sagen, dass Russland der Bösewicht ist. Nie im Leben hätte ich mir das vorstellen können.
Erkennen Sie darin ein Element einer großen Strategie, wie bei Richard Nixons überraschendem Peking-Besuch 1972, nur umgekehrt, um Russland von China loszulösen?
Ich halte jeden, der glaubt, Russland ließe sich von China loslösen – nach allem, was ich bisher gesehen habe – für naiv. Putin wird das Spielchen mitspielen und so lange wie möglich hinauszögern. Ihm geht es allein um die Zerstörung der Ukraine.
Ist Europa in der Lage, mit dieser neuen Realität umzugehen?
Ehrlich gesagt bin ich es allmählich leid, dass die Europäer nicht genug Selbstvertrauen haben, um die Fähigkeiten, die sie haben, zu nutzen. Und mit Russland so umzugehen, wie es die Realität erfordert. Ich habe den Eindruck, mein Vertrauen in Europa ist größer als das der meisten Europäer! Und von den Folgen sind sie ohnehin betroffen.
Wenn ich Menschen sehe wie den künftigen deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz, Präsident Emmanuel Macron, Premierminister Keir Starmer, aber auch den finnischen Präsidenten Alexander Stubb, der sich meiner Ansicht nach zu einer echten Führungspersönlichkeit in Europa entwickelt, den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, aber auch in Brüssel die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas und diese ganzen Leute, dann ist das für mich beeindruckend: Diese Menschen stellen sich den Herausforderungen.
Der Grund, warum ich in Bezug auf die Fähigkeiten Europas optimistisch bin, ist, dass ich sehe, in welch miserabler Verfassung Russland ist. Die Russen sind diejenigen, die keine Trümpfe in der Hand haben. Der einzige Trumpf, den sie haben, ist Trump, buchstäblich. Ihre Wirtschaft ist in einem desolaten Zustand. Sie haben fast 900 000 Soldaten verloren. Und auch wenn ihnen diese Verluste egal sind, sind sie ein Indikator dafür, wie schlecht es um sie steht.
Und das ist die Situation, ohne dass wir, der Westen, überhaupt wirklich versucht hätten, der Ukraine zu einem Sieg zu verhelfen. Die Ukraine hätte den Krieg schon vor zwei Jahren gewinnen können, wenn Präsident Joe Biden damals erklärt hätte, dass es in unserem Interesse liegt, dass die Ukraine gewinnt und Russland auf die Grenzen von 1991 zurückgedrängt wird, dass wir den Ukrainern alles geben, was sie brauchen. Dann hätte sich Deutschland ebenso wie alle anderen angeschlossen. Aber das haben wir nicht getan.
Jetzt sind wir an einem Punkt angelangt, an dem weder die Ukraine noch Russland gewinnen können, es sei denn, es würde sich in Europa und den USA etwas von Grund auf ändern. Dabei stellt Europa Russland mit seinem wirtschaftlichen Potenzial in den Schatten. Wenn wir den politischen Willen aufbringen, dass die Staaten zusammenarbeiten und die notwendigen Änderungen an ihren Gesetzen und ihrer Kultur vornehmen, dann hat Russland keine Chance.
Die einzigen Bereiche, in denen die Russen einen signifikanten Vorteil haben, betreffen die Anzahl ihrer Atomwaffen und ihre Bereitschaft, ohne Rücksicht auf das Völkerrecht Leben zu zerstören. Bei der Anzahl an Sprengköpfen muss Europa Russland aber nicht ebenbürtig sein. Frankreich verfügt über Hunderte von Atomsprengköpfen; Großbritannien ebenso. Ich vereinfache ein wenig, aber die Russen müssen nur überzeugt sein, dass die Franzosen tatsächlich eine Atombombe einsetzen würden, damit die nukleare Abschreckung gewährleistet ist.
Starmer und Macron dringen auf eine multilaterale Einsatztruppe, um einen möglichen Waffenstillstand in der Ukraine abzusichern. Ist das der richtige Ansatz?
Dieser ganze Prozess muss in drei Phasen gedacht werden, wenn man nach den Vorstellungen geht, die wir Präsident Stubb zu verdanken haben und denen ich zustimme. Die erste Phase ist die Vorbereitung. Die zweite Phase umfasst die Vereinbarung eines Waffenstillstands und dessen Umsetzung sowie die Entsendung von Einsatzkräften zur Implementierung dieses Waffenstillstands. Die dritte Phase sind die eigentlichen Verhandlungen.
Jetzt gerade befinden wir uns in der Vorbereitungsphase. Deswegen finden derzeit all diese verrückten Diskussionen in Brüssel, London, im Oval Office, in Riad und Dschidda statt. Das ist die Vorbereitungsphase. Diese war nicht als solche geplant, aber jetzt nennen wir sie so. Ziel der Vorbereitungsphase ist es, einen Waffenstillstand zu konzipieren und eine Einsatztruppe zu finden, die die Russen zwingen kann, ihn einzuhalten.
„Ich bin es leid, dass die Europäer nicht genug Selbstvertrauen haben, um die Fähigkeiten, die sie haben, zu nutzen“
Und in der dritten Phase geht es dann um die eigentlichen Verhandlungen über eine langfristige Lösung, bei der es wahrscheinlich nicht nur um die Ukraine gehen wird, sondern auch um die Aufhebung der Sanktionen und vieles mehr. All diese Elemente werden Teil der Verhandlungen sein. Aber die Ukrainer wissen, dass die Russen keinen Waffenstillstand einhalten werden, wenn sie niemand dazu zwingt. Und es gibt auch keine Aussichten auf sinnvolle Verhandlungen mit den Russen, wenn sie nicht dazu gezwungen werden.
Wir brauchen einen Waffenstillstand – nicht dieses 30-Tage-Ding, das bereits gescheitert ist, sondern einen echten Waffenstillstand, gefolgt von einer Vereinbarung wie dem Dayton-Friedensabkommen, das den Einsatz einer Implementierungstruppe durch die NATO vorsah. Für die Vorbereitungen brauchte es damals Monate – für Ausbildung, Vorbereitung, die Festlegung der Mission, des Hauptquartiers, der Einsatzregeln. Das war völlig anders als bei UNPROFOR, der UN-Schutztruppe, die sich als Desaster herausstellte. Aber als sich fast genau die gleichen Länder unter dem Dach einer NATO-Struktur mit Einsatzregeln und klaren Zielen und Vorgaben beteiligten, führte das zu einem großen Erfolg.
Mit anderen Worten: Es geht hier nicht um friedenserhaltende Maßnahmen. Es geht um eine Implementierungstruppe, die über echte Abschreckungskraft verfügen muss. Sie muss die Befugnis haben, die Russen jedes Mal zu bestrafen, wenn sie den Waffenstillstand verletzen. Ihr Oberst oder Hauptmann, oder wer auch immer die Truppe kommandiert, sollte auch nicht in Brüssel oder Berlin um Erlaubnis zum Zurückschießen nachsuchen müssen. Es muss sofort passieren. Darum geht es.
Und ja, Europa kann das schaffen. Die Europäer brauchen nur Zeit und politischen Willen, um sich zu organisieren.
Wer sollte in Europa die Führung in Verteidigungsfragen übernehmen?
Wissen Sie, ich habe immer gedacht, dass die besten Anführer nicht diejenigen sind, die sagen: „Hey, ich bin der Anführer, folgt mir alle“, sondern diejenigen, die mit gutem Beispiel vorangehen.
Denken Sie an Ihren Lieblingsfußballverein. Wahrscheinlich ist der beste und wichtigste Spieler der Mannschaft nicht der, der am meisten redet, sondern der, der bei jedem Training und jedem Spiel dabei ist und Leistung bringt. Der, der immer am besten vorbereitet ist. Ich denke, genau diese Art von Führung wird Deutschland übernehmen und mit gutem Beispiel vorangehen. Jetzt stehen alle mit offenem Mund da und sagen: Wow, Deutschland hat eine Grundgesetzänderung vorgenommen und die Weichen für Ausgabensteigerungen gestellt, die historisch sind. Und offensichtlich gibt es bei Ihnen auch Führungspersönlichkeiten, die willens sind, das Nötige zu tun. Natürlich wird es nicht einfach. Freunde von uns im Bundestag haben Morddrohungen erhalten von Leuten, die sagen: „Ihr habt eine Kehrtwende gemacht, ihr seid unehrlich, ihr habt aufgegeben, wofür ihr eingetreten seid“ – weil sie harte Entscheidungen zum Schutz der Bevölkerung treffen.
Es braucht Politiker, die Mut und eine gewisse Art von Dickfelligkeit aufbringen, um das Nötige zu tun. Außerdem muss man der Bevölkerung erklären, was auf dem Spiel steht. Man muss mit den Leuten sprechen wie mit Erwachsenen und ihnen erklären, warum gehandelt werden muss. Ich sehe Deutschland in dieser Rolle, nicht nur, weil es die reichste und größte Volkswirtschaft in Europa ist, sondern auch wegen seiner geografischen Position.
„Für die Ukraine geht es um eine echte Implementierungstruppe, die über echte Abschreckungskraft verfügen muss“
Aber ich muss sagen, Präsident Macron hat greifbare, tatsächliche Führung bewiesen, obwohl er im eigenen Land unter großem Druck steht. Premierminister Starmer hat eine gewisse Härte gezeigt, die ich bei ihm nie gesehen habe, und auch er steht im eigenen Land vor enormen Herausforderungen.
Den finnischen Präsidenten Stubb habe ich schon erwähnt. Finnland entwickelt sich zum Anker der europäischen Sicherheit in der Arktis, im Baltikum und an der Ostflanke und geht mit gutem Beispiel voran. Die Finnen sind nicht für Selbstlob bekannt. Sie handeln einfach. Auch Ministerpräsident Tusk ist eine angesehene Persönlichkeit. Und Polen investiert offensichtlich – sie lassen ihren Worten Taten folgen. Und dann ist da noch Italien. Sie sind für mich eine Überraschung. Die Italiener haben ihre Rüstungsindustrie stark ausgebaut, und ich glaube, dass sie einen wichtigen Beitrag leisten werden.
Ich drücke mich nicht vor der Frage, wer die Führung übernehmen soll. Natürlich muss es eine institutionelle Führung durch die EU-Kommission geben. Aber Brüssel kann Deutschland, Frankreich und die anderen Länder nicht zum Handeln zwingen.
Wo sehen Sie die größten Schwächen Europas?
Bei der Abschreckung, den Fähigkeiten und der Glaubwürdigkeit. Die Fähigkeiten, die fehlen, sind Luft- und Raketenabwehr. Man muss davon ausgehen, dass Russland, wenn es sich zum Angriff auf ein NATO-Land entscheidet, die Zerstörung der Verkehrsinfrastruktur bereits beschlossen hat. Es weiß, dass unsere gesamte Verteidigungsstrategie darauf basiert, schnelle Bewegungen von West nach Ost zu ermöglichen.
Das bedeutet, dass Hamburg, Bremerhaven, Danzig, Klaipėda, Tallinn und Riga – all diese Orte – mittels Cyberoperationen und Raketen angegriffen werden. Als nächstes werden dann die wichtigen Verkehrsknotenpunkte für den Schienenverkehr attackiert. Verfügen wir in Europa über ausreichende Luft- und Raketenabwehrkapazitäten, um mit dem fertig zu werden, was die Ukraine derzeit abbekommt, nämlich in jeder Nacht etwa 100 bis 140 Drohnen und Raketen? Die Antwort lautet offensichtlich: Nein, noch nicht.
Die zweite Schwachstelle – wobei ich zuversichtlich bin, dass sie behoben wird – betrifft die Rüstungsproduktion. Das Problem ist nicht, dass es nicht genügend Fabriken gibt, sondern dass sie nicht organisiert sind und die Produktionsziele nicht erreichen. Als ich vor etwa anderthalb Jahren die Europäische Verteidigungsagentur besuchte, sagte mir ein hochrangiger Mitarbeiter, dass mehr als 50 Prozent der in Europa produzierten Munition an Kunden in Afrika und im Nahen Osten geht. Mit anderen Worten: Es gibt Kapazitäten, aber nicht alles geht an die Bundeswehr oder die Ukraine.
Und das dritte Element ist das Transportwesen. Es ist immer noch zu schwierig, Soldaten schnell durch Europa zu verlegen. Dabei geht es nicht darum, Übungen bequem durchführen zu können. Es geht darum, den Russen zu signalisieren, dass wir uns auch in Friedenszeiten genauso schnell oder schneller bewegen können als sie, zum Beispiel an irgendeinen Ort in Polen oder Rumänien. Das gelingt uns derzeit noch nicht.
Die nächste deutsche Regierung hat versprochen, in beides zu investieren: in die Infrastruktur und in das Militär.
Das ist unbedingt notwendig. Deutschland ist die Drehscheibe der NATO. Fast alles, was sich nicht schon an der Ostflanke befindet, muss durch Deutschland transportiert werden. Schiene und Autobahn, das ist alles von entscheidender Bedeutung. Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen, da der Transportbedarf in Geheimplänen bestimmt wird. Sagen wir einfach, dass die Kapazität der Deutschen Bahn Cargo, unter Friedensbedingungen mehrere Panzerbrigaden gleichzeitig zu transportieren, weit unter dem liegt, was erforderlich wäre. Und das ist nicht die Schuld von DB Cargo. Man muss ihnen signalisieren, dass Nachfrage da ist, damit sie mehr Kapazität bereitstellen.
Wird es in zehn Jahren noch eine NATO geben?
Die Aufgabe der NATO wird weiterhin die kollektive Sicherheit all ihrer Mitglieder sein, auch wenn die USA eine geringere Rolle spielen werden. Die Bedrohung verschwindet nicht. Im Gegenteil, sie könnte sogar noch größer werden. Die NATO ist nach wie vor die beste Struktur, die es für die kollektive Sicherheit gibt. Ich würde nicht darüber nachdenken wollen, das Ganze auf den Müll zu werfen, um dann zu versuchen, etwas Neues zu schaffen.
Wir sind zu jeder Zeit besser dran, wenn wir dieses Bündnis und die Struktur haben. Wie der ehemalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg einmal sagte: „Es ist schön, jeden Morgen aufzuwachen und zu wissen, dass man 31 Freunde hat.“ Das wollen wir nicht verlieren.
Sie meinen also, Washington kann irgendwann wieder der verlässliche transatlantische Partner werden, den wir seit Jahrzehnten kennen?
Ich kann nicht genau vorhersagen, was die US-Regierung tun wird, aber ich bin überzeugt, dass es für uns nicht von Vorteil ist, uns komplett von der NATO abzuwenden, schon allein wegen unserer wirtschaftlichen Interessen. Die USA waren auch noch nie in der Lage, alles allein zu bewältigen. Unsere besten und zuverlässigsten Verbündeten kommen aus Europa, Kanada und Australien. Aus allen erdenklichen Gründen erscheint es daher unwahrscheinlich, dass eine Regierung – selbst diese – der NATO den Rücken kehrt. Damit würden wir uns zu sehr selbst schaden.
Das heißt nicht, dass es nicht geschehen kann, aber ich halte es für unwahrscheinlich. Und das Bedürfnis nach kollektiver Sicherheit wird wachsen. Deshalb glaube ich, dass verantwortungsbewusste Politiker in ganz Europa den Fortbestand und die Einsatzbereitschaft der NATO aufrechterhalten wollen.
Das Gespräch führte die IP-Redaktion. Aus dem Englischen von Bettina Vestring
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2025, S.24-31