Es ist ein Wirtschaftskrieg
Die Kartelle bringen Mexiko an den Rand eines gescheiterten Staates
Illegaler Bergbau und Markenpiraterie, Drogen- und -Waffenhandel, Schutzgelderpressung von Unternehmen, Privatleuten und Gemeindeverwaltungen: Mexikos Kartelle handeln wie Unternehmen, die ihre Erträge aus der Schattenwirtschaft mit brutaler Gewalt verteidigen und ausbauen – und ihre Gewinne auch in die legale Wirtschaft investieren.
Drei Autostunden von Mexiko-Stadt entfernt herrscht Krieg. Januar 2014: In Michoacán, einem Bundesstaat im Südwesten Mexikos mit fruchtbaren Böden, feuchtem Klima und langer Pazifik-Küste, kämpfen mindestens drei Parteien gegeneinander. Bürgerwehren haben sich gegen das Drogenkartell der Tempelritter erhoben. Soldaten der Armee wollen die Herrschaft des Staates wieder herstellen. Im Chaos versuchen andere organisierte Banden, ihren Einfluss auszudehnen. Die Kämpfe markieren einen neuen Höhepunkt der Gewalt. Dies sei der schwerste Konflikt seit mindestens 20 Jahren, meint Verónica Calderón. Sie stammt aus Michoacán und ist Korrespondentin der spanischen Tageszeitung El País.
Dabei wollte Präsident Enrique Peña Nieto das Land befrieden. Sein Vorgänger Felipe Calderón hatte den Kartellen im Dezember 2006 den Krieg erklärt – ausgerechnet in Michoacán. Niemand weiß, wie viele Menschen in den sechs Jahren danach durch den Kampf gegen das organisierte Verbrechen umkamen. 64 786 Tote erkennt die Regierung an, die Zeitschrift Zeta kommt sogar auf 83 191 Ermordete. In den ersten sechs Monaten von Peña Nietos Amtszeit sollen fast 14 000 weitere Personen getötet worden sein.
Reine Drogenkartelle gibt es schon lange nicht mehr
Es sind hohe Zahlen. Doch sie sagen noch nichts über die Grausamkeit der Morde, und sie ignorieren die Verschwundenen ebenso wie die Opfer anderer Verbrechen. Deshalb taugen sie nicht als Maß für die Dimension der Gewalt. Aber eines kann man an ihnen ablesen: Die Intensität des Konflikts nimmt zu. Andere, noch weniger exakte Daten zeigen: Es ist ein Wirtschaftskrieg. Er wird geführt um die Erträge der mexikanischen Schattenwirtschaft. Wie hoch sie genau sind, weiß niemand, aber es geht um zig Milliarden. „Wirtschaftsdelikte sind die Existenzgrundlage der kriminellen Gruppen Mexikos“, sagt Edgardo Buscaglia. Er ist Experte für organisierte Kriminalität an der New Yorker Columbia-Universität. Die mexikanischen Banden erforscht er seit Jahren. Reine Drogenkartelle seien sie schon lange nicht mehr, erklärt Buscaglia. Er unterscheidet mehr als 20 typische Delikte: Schmuggel aller Art, Erpressung und Entführung, Dokumentenfälschung, Kreditkartenbetrug, Geldwäsche, Produktpiraterie, Waffen-, Drogen- und Zigarettenschmuggel, Autodiebstahl, Menschenhandel, Schlepperdienste für Migranten ohne Papiere.
Buscaglia und andere Experten sind sich einig: Für die organisierten Banden ist die Gewalt nur Mittel zum Zweck. Durch sie erobern sie neue Territorien, schützen ihre Märkte oder sichern Handelsrouten. Die Kartelle seien wie transnationale Unternehmen, sagt der Jurist und Ökonom. Das Kartell von Sinaloa zum Beispiel. Buscaglia beschreibt es als einen Zusammenschluss flexibler Netzwerke ohne starre Hierarchien. So sei das Kartell bestens in der Lage, seine Geschäfte auszuweiten, auch über Landesgrenzen hinaus. Jeder Unterschied zwischen nationalen Gesetzen eröffne den Banden neue Spielräume, erklärt Buscaglia. Je schwächer ein Staat aber sei, desto mehr Gewalt erzeuge die Konkurrenz ums illegale Geschäft. Und Mexiko sei ein sehr schwacher Staat.
Boomtown im gescheiterten Staat
Was das bedeutet, kann man derzeit in Michoacán sehen. Das hier ansässige Kartell der Tempelritter ist noch relativ jung, aber es gehört zu Mexikos größeren Verbrecherorganisationen, mit Verbindungen angeblich bis nach China. Die Tempelritter sind die Herren Michoacáns. Doch ihre Macht ist angekratzt, seit Peña Nieto im November 2013 ihre ökonomische Grundlage attackierte. Er schickte Soldaten der Kriegsmarine nach Lázaro Cárdenas an die Pazifik-Küste, in einen der wichtigsten Handelshäfen Mexikos. Die eigentlich zuständigen Polizisten wurden ihrer Posten enthoben. Man verdächtigte sie, vom Kartell bezahlt zu sein, ebenso wie Zollbeamte und andere Funktionsträger.
Die Tempelritter sollen den Warenumschlag im Hafen schon seit Jahren kontrolliert haben, bis Peña Nieto die Soldaten schickte. In den Wochen danach erhoben sich dann auch die Bürgerwehren – Privatleute, die sich bewaffnet und zu Milizen zusammengeschlossen haben, um sich gegen die gewalttätigen Übergriffe der Drogenmafia zu verteidigen. Wer hinter ihnen steckt, wer sie finanziert und mit Waffen versorgt, ist aber nicht ganz klar: Unternehmer, die sich schützen wollen, konkurrierende Drogenbanden oder tatsächlich ganz normale Bürger? Möglich ist alles. Die Bürgerwehren eroberten zahlreiche Ortschaften, vertrieben die Bürgermeister, setzten die Polizisten fest. Und sie lehnten die Aufforderung der Regierung ab, ihre Waffen niederzulegen. Spätestens da war klar: Das Gewaltmonopol des Staates gibt es in Michoacán nicht mehr. In weiten Regionen scheint Mexiko ein gescheiterter Staat.
Lázaro Cárdenas aber ist eine Boomtown. Schon heute ist der Hafen ein zentraler Umschlagplatz der Region. Was hier angelandet wird, geht nach Mexiko und in die USA. Einst soll Lázaro Cárdenas der wichtigste Hafen ganz Lateinamerikas werden, so plant es die mexikanische Regierung. Doch ihre Pläne sind wenig wert, solange Lázaro Cárdenas vom organisierten Verbrechen beherrscht wird.
Über den Hafen kommen gefälschte Markenprodukte ins Land: DVDs, CDs, Kunstwerke, Medikamente und Autoreifen. Lázaro Cárdenas ist ein Umschlagplatz für Drogen. Aus China werden Chemikalien geliefert, die für die Produktion von Methamphetaminen unerlässlich sind. In Mexiko ist Michoacán ein Zentrum für die Herstellung von Methamphetaminen, ebenso wie für die Produktion von Marihuana. Wichtige Handelsrouten für Kokain verlaufen ebenfalls durch den Bundesstaat.
Illegaler Bergbau für China
Doch der Aufschwung, den Lázaro Cárdenas in den vergangenen Jahren erlebte, wird vor allem dem Eisenerz zugeschrieben. Michoacán ist reich an Bodenschätzen, und über den Hafen werden die Erze nach Asien verschifft. Vor allem nach China, wo viel Stahl gebraucht wird.
Fast die Hälfte der Exporte soll aus den illegalen Minen der Gegend stammen. Medienberichten zufolge kontrollieren die Tempelritter auch dieses Geschäft, vom Bergbau über den Transport bis zur Verschiffung. Der angebliche Umsatz jährlich: 72 Millionen Dollar. Diese Einnahmen sichern die Bosse mit tödlicher Gewalt. „Sie zwingen die Bergleute, ihnen kleine Mengen an Erz zu überlassen“, so Verónica Calderón von El País. „Die Transporteure müssen das Erz transportieren. Die Geschäftsleute werden bedroht, damit sie schweigen, und die Zollbeamten, damit sie die Ausfuhr erlauben.“
Wer sich weigert oder dem Kartell anderweitig in die Quere kommt, riskiert sein Leben. So ist es häufig in Mexiko. Ein Opfer der Gewalt um Lázaro Cárdenas hieß Virgilio Camacho. Er war Manager des multinationalen Stahlkonzerns ArcelorMittal, der eine Fabrik in der Hafenstadt betreibt – und offenbar machte er den Fehler, sich öffentlich gegen die illegalen Erzschürfer zu wenden. Im April 2013 wurde Camacho erschossen aufgefunden. Die Hintergründe des Mordes an ihm sind bis heute ungeklärt, offizielle Stellungnahmen blieben vage. Medienberichte aber legen nahe, dass die Tempelritter für das Verbrechen verantwortlich sind.
Illegaler Bergbau, Drogenhandel und Markenpiraterie sind nicht die einzigen Geschäftsfelder des Kartells. Sie erpressen Schutzgeld von Unternehmern, Privatleuten und Gemeindeverwaltungen, entführen Menschen und handeln mit Waffen. Die illegalen Gewinne mehren sie durch Investitionen in die legale Wirtschaft: in die Viehzucht, den Mais-, Leder- oder Zitronenhandel, ins Immobiliengeschäft oder das öffentliche Transportwesen. Wie viel sie damit verdienen, lässt sich kaum schätzen. Allein die Kontrolle von Lázaro Cárdenas bringe ihnen rund zwei Milliarden Dollar jährlich ein, erklärte Michoacáns Gouverneur Fausto Vallejo Figueroa im November. Nur ein Bruchteil davon ist dokumentiert, exakte Messungen sind unmöglich.
Ebenso unmöglich ist es, das Ausmaß der illegalen Wirtschaft in ganz Mexiko zu beziffern. Aber es gibt einzelne Schätzungen, zum Beispiel über die Summen, die jährlich illegal aus den USA nach Mexiko gelangen. Die Vereinten Nationen haben die wichtigsten zusammengetragen: Drogengeld – mindestens elf Milliarden Dollar, vermutlich weit mehr. Profit allein aus dem Schmuggel und Verkauf von Kokain in den USA – knapp vier Milliarden. Das Geld illegaler Migranten aus Südamerika, Asien und Afrika, die von Mexiko aus über die Grenze nach Norden geschleust werden – 6,6 Milliarden Dollar.
Ein Teil der Profite wird direkt in den USA investiert oder auf Bankkonten eingezahlt und so gewaschen. Ein anderer Teil gelangt in Form von geschmuggeltem Bargeld oder Waffen zurück nach Mexiko. Die Vereinten Nationen schätzen das Ausmaß des Bargeldschmuggels aus den USA nach Mexiko auf sechs bis 36 Milliarden Dollar pro Jahr, den Wert der geschmuggelten Waffen auf 20 Millionen.
Enorme Grauzone
Wie viele Milliarden noch dazukommen, weiß niemand genau. Schätzungen variieren außerdem, weil Forscher schon Grundsatzfragen ganz unterschiedlich beantworten: Gehören zur Schattenwirtschaft auch die Kinder, die an Kreuzungen Windschutzscheiben waschen, die Schuhputzer im Park und die Straßenhändler, die sich ohne staatliche Genehmigung und vermutlich ohne Steuerklärung durchschlagen, um zu überleben? Oder nur die in gewalttätigen Banden organisierten Drogenschmuggler, Waffendealer und Menschenhändler?
Oft sind die Grenzen fließend, gerade in Mexiko. Im Alltag sei bisweilen kaum zu unterscheiden, ob ein Angebot legal oder illegal sei, sagt Annette von Schönfeld, Repräsentantin der Heinrich-Böll-Stiftung in Mexiko-Stadt. „Es gibt da eine enorme Verquickung.“ Auf Straßenmärkten zum Beispiel, wo Fälschungen direkt neben echten, aber gestohlenen Waren und ordnungsgemäß importierten Produkten liegen. Oder im Einzelhandel, wo so mancher Laden nicht ordnungsgemäß angemeldet sei und selbst die legalen Geschäfte ihre Waren oft ohne Rechnung anböten. „All das zeigt, wie groß die Grauzone ist“, sagt Schönfeld. „Die große Frage ist: Kann man in Mexiko überhaupt Geschäfte machen, ohne in illegale Aktivitäten hineingezogen zu werden?“ Kein Unternehmen gebe darüber Auskunft. Buscaglia, ein Freund provokanter Thesen, erklärt, in Mexiko seien alle verstrickt. Die ganze Elite des Landes, ob Unternehmer oder Politiker, paktiere mit den Kartellen. Welche Ausmaße die Korruption zuweilen annimmt, hat die Journalistin Ana Lilia Pérez am Beispiel des Ölkonzerns Pemex detailliert belegt. In ihrem Buch „El cartel negro“ beschreibt sie, wie die organisierte Kriminalität das Unternehmen ausplündert, unterstützt von dessen Managern und öffentlichen Funktionären.
Mexiko, die „Mafiakratie“
Buscaglia nennt Mexiko auch wegen solcher Fälle eine „Mafiakratie“. Ein kaum demokratisch legitimiertes Staatswesen, in dem die Eliten die öffentlichen Institutionen absichtlich schwach halten und davon profitieren, während das Schicksal des Volkes sie kaum interessiere. Angeblich haben rund sieben Millionen mexikanische Jugendliche weder eine Arbeit noch eine Ausbildung. Wenn die Kartelle Nachwuchs suchen, sind sie eine leichte Beute, in Michoacán und anderswo. Die wirtschaftlichen Folgen der organisierten Kriminalität für Mexiko seien „brutal“, sagt Rafael Fernández, Wirtschaftsexperte der Vereinten Nationen. „So viel Unsicherheit und Gewalt, so viele Tote.“ Von den verlorengegangenen Investitionen und den entgangenen Einnahmen, etwa durch ausbleibende Touristen, ganz zu schweigen.
Der Regierung zufolge bezahlt Mexiko den Drogenkrieg mit 1,3 Prozent seines BIP. Das sind rund 16 Milliarden Dollar jährlich für die Reparatur von Schäden, die Verluste an Produktivität, die medizinische Versorgung und Rehabilitation der Verletzten. Fernández glaubt, dass der Verlust insgesamt noch höher ist, vielleicht 4 oder 5 Prozent der Wirtschaftsleistung. „Es gibt nichts, was Mexiko größeren Schaden zufügt als die Gewalt“, sagt er. Noch bleiben die meisten Delikte straffrei. Das müsse sich dringend ändern, sagt Edgardo Buscaglia. Er fordert eine funktionierende Justiz, Finanzkontrollen gegen Geldwäsche und Korruption, eine stärkere Beteiligung der Bürger am politischen Prozess und mehr soziale Prävention. Das alles sind Dinge, die nur mit Zeit aufzubauen sind. Doch Buscaglia drängt zur Eile. Er mahnt: Wenn Mexiko sich nicht ändere, sehe es bald im ganzen Land so aus wie heute in Michoacán.
Alexandra Endres ist Wirtschaftsredakteurin bei ZEIT ONLINE.
IP Länderporträt Mexiko 1, März/April 2014, S. 52-56