„Es gibt nur noch interkulturelle Hürden“
Interview mit der Türkei-Expertin Işınay Kemmler von Global Success GmbH
Ein dynamischer, junger Binnenmarkt, Fachkräfteüberschuss und die geografische Schlüssellage: Gerade für deutsche mittelständische Unternehmen gibt es heute viele gute Gründe, in der Türkei zu investieren. Doch wer kulturelle Unterschiede nicht beachtet, tut sich oft schwer. Dabei ergänzen sich gerade die Deutschen und die „Preußen des Orients“ vortrefflich.
IP: Frau Kemmler, was macht die Türkei gerade aus Sicht des deutschen Mittelstands attraktiv?
Işınay Kemmler: Wo soll ich anfangen? Da ist zum Beispiel der dynamische Binnenmarkt: Die junge, kauflustige und kaufkräftige Bevölkerung macht die Türkei für viele Unternehmen attraktiv. Das gilt nicht nur für business-to-business (B-to-B), also Geschäftsbeziehungen deutscher zu türkischen Unternehmen, sondern auch für business-to-consumer (B-to-C), also für Unternehmen, die direkt in der Türkei Kunden suchen. Der Altersdurchschnitt liegt bei 29 Jahren. Nur zum Vergleich: Bei uns in Deutschland sind es 43 Jahre. Dann reden viele vom Fachkräftemangel – in der Türkei ist das kein Thema. Es gibt viele qualifizierte und hochmotivierte Arbeitskräfte, die Produktivität ist überdurchschnittlich hoch. Wir hören das von Unternehmen, die ihre negativen Erfahrungen in anderen Ländern mit denen in der Türkei vergleichen: Oft sind die Investitionskosten hoch, aber es ist problematisch, qualifizierte Fachkräfte auf Managementebene zu finden, die Fremdsprachen sprechen: Es muss ja nicht unbedingt Deutsch sein, aber zumindest Englisch. In der Türkei ist das kein Problem.
Dann ist da die geostrategische Lage. Wer in der Türkei aktiv ist und dort investiert, hat einen perfekten Ausgangspunkt, um viele weitere große Märkte zu erreichen: die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, Nordafrika, den Mittleren Osten. Das nutzt übrigens nicht nur Investoren, die mit Niederlassungen und Tochtergesellschaften in der Türkei tätig sind, sondern auch exportorientierten Unternehmen. Sie nutzen einfach die Türkei als Drehscheibe.
IP: Hat sich daran mit dem Scheitern der türkischen Außenpolitik, die laut Kritikern auf so etwas wie einen Neo-Osmanismus gesetzt hat, etwas geändert? Macht sich der Wandel von einer „Null-Probleme“-Außenpolitik zu einer „Jede-Menge-Probleme“-Außenpolitik, ob es um Syrien geht oder Ägypten, wirtschaftlich bemerkbar? Und wirken sich die Gezi-Park-Proteste gegen die AKP-Regierung aus?
Kemmler: Nein, der Wirtschaft geht es nach wie vor gut, ausländische Investoren lassen sich davon nicht beeindrucken. Was diese interessiert, sind die politischen Rahmenbedingungen für ihre Geschäfte. Und in dieser Hinsicht bescheinigen viele der Türkei eine vorbildliche Arbeit: Es werden viele Anreize geschaffen und es wird einem sehr leicht gemacht, in der Türkei wirtschaftlich aktiv zu werden. Auch die Proteste haben kaum Auswirkungen gehabt, was die Nachfrage angeht. Im Übrigen begrüßen viele die Entwicklung der Zivilgesellschaft für die weitere Demokratisierung des Landes.
IP: Für welche Branchen ist es in der Türkei besonders interessant?
Kemmler: Eigentlich haben alle Branchen gute Chancen in der Türkei – querbeet von Konsumgütern über Automobilindustrie bis zum Maschinenbau, der nach wie vor sehr gefragt ist, obwohl in der Türkei inzwischen auch Maschinen hergestellt werden. Aber „Made in Germany“ ist immer noch ein Gütesiegel. Bei der Autoindustrie ist es so, dass inzwischen viele Teile in der Türkei gefertigt werden, die Branche hat enormes Potenzial. Die Türkei möchte bald auch komplett heimisch produzierte Fahrzeuge herstellen, viele deutsche Mittelständler sind schon lange vor Ort. Auch Energie ist nach wie vor ein sehr spannender Markt: Die Türkei bietet viele Möglichkeiten, insbesondere für erneuerbare Energien, Solarenergie und Windenergie. Oder Umwelttechnologien: Das schnelle Wachstum hat dem Land natürlich auch Umweltproblemen gebracht. Gerade aus Deutschland ließen sich viele Technologien importieren; Ingenieurbüros, die dieses Know-how haben, können davon profitieren. Und ein weiterer Bereich ist die Informationstechnologie: Das wissen viele nicht, aber in der Türkei gibt es ein großes Reservoir an qualifizierten IT-Fachkräften.
IP: Mit welchen Hürden haben denn Unternehmen noch zu kämpfen?
Kemmler: Das hört sich wahrscheinlich etwas seltsam an, aber: Es gibt so gut wie kaum Hürden, was die politischen Rahmenbedingungen angeht. Die Hürden liegen heute aus meiner Sicht eigentlich eher im interkulturellen Bereich. Viele gehen in die Türkei, lassen sich aber nicht auf die kulturellen Gepflogenheiten des Landes ein beziehungsweise bereiten sich nicht darauf vor. Ein Unternehmen zu gründen geht sehr schnell, es gibt staatliche Förderungen. Wenn es aber darum geht, Produkte zu verkaufen, gerade im B-to-B, da geht es schon los mit Schwierigkeiten, weil in der Türkei das Geschäft etwas anders funktioniert. Man muss Beziehungen aufbauen, man muss in bestimmten Netzwerken sein. Die Türkei ist keine individualistisch geprägte Gesellschaft, sondern eher kollektivistisch. Man sagt auch: keine Gesellschaft, sondern eine Gemeinschaft. Wenn man das außer Acht lässt, gibt es Probleme. Ich höre das von Unternehmen, die dort investiert haben und sagen: Mit dem Verkauf tun wir uns schwer, wir sind schon seit einem Jahr da, unser Produkt ist eigentlich super. Warum läuft es nicht? Und aus meiner Erfahrung heraus ist die Hauptschwierigkeit oft die, dass sie wenig vorbereitet in das Land gehen und keine Strategie haben für Fragen wie: Wie können wir Vertrauen aufbauen, welche Netzwerke sind für uns hilfreich? Sollten wir mit einem einheimischen Manager arbeiten oder wenigstens eine Doppelspitze installieren?
IP: Noch einmal nachgefragt: Bürokratie, Infrastruktur, Rechtssicherheit, Korruption – alles kein Thema mehr?
Kemmler: Es gibt mit Sicherheit hier und da auch Schwierigkeiten, ich möchte nichts beschönigen. Aber die Infrastruktur wird ständig ausgebaut, die Landwege sind zum Beispiel viel besser als in Brasilien, wo man tagelang unterwegs ist; und die bürokratischen Hürden sind zum Beispiel viel niedriger als zum Beispiel in Russland, ob es um Zölle geht oder sonst etwas. Aber ja: Man muss in Beziehungen, in den Vertrauensausbau investieren, um nachhaltig erfolgreich sein zu können. Man sollte zum Beispiel nicht gleich mit einer gewissen deutschen Arroganz von den Produkten schwärmen, nach dem Motto: Wir haben ein tolles Produkt, und ihr tut euch einen Gefallen, wenn ihr das kauft. Mit so einer Haltung wird man wahrscheinlich nirgends erfolgreich sein, in der Türkei schon gar nicht.
IP: Was sind denn Missverständnisse, die häufig vorkommen?
Kemmler: Die meisten betreffen die Kommunikation. Türken sind sehr höflich, es wird zum Beispiel nicht direkt „nein“ gesagt, und man muss zwischen den Zeilen lesen können. Also wenn man fragt: „Kann man das so machen?“, und es nicht gehen sollte, würde man selten ein klares „Nein“ hören, sondern eher ein „Wir werden sehen, was wir tun können“ – und der Deutsche tendiert dazu, das als „Ja“ zu verstehen. Das ist ein klassisches Beispiel, wo Missverständnisse auftreten oder Deutsche sich beschweren. Oder die Türken werden in die Schublade „südländisch“ gesteckt, mit den üblichen Klagen: Zeiten werden nicht eingehalten und so weiter. Aber wenn man klar kommuniziert, kann man eigentlich viel erreichen.
IP: Welche Rolle spielen türkischstämmige Deutsche oder Rückkehrer in den bilateralen Handelsbeziehungen?
Kemmler: Aus meiner Erfahrung keine große Rolle – aber es kommt darauf an, wen sie meinen. Einwanderer in der zweiten, dritten, vierten Generation, für die Deutschland seit langem Heimat ist, haben vielleicht etwas türkisch gelernt, weil das in der Familie gesprochen wird, aber sie kennen die türkische Mentalität oder die Gepflogenheiten im Geschäftsleben genauso wenig wie andere Deutsche. Wer darauf setzt nach dem Motto: „Wir haben ja den Ali im Unternehmen, der spricht doch türkisch …“ – also das ist kein Erfolgsrezept. Ein anderes Thema sind Türkeistämmige, die sich am deutschen Arbeitsmarkt diskriminiert fühlen oder nicht ihre Wunschpositionen erreichen; manche haben Erfolg in der Türkei, wo sie wiederum oft für deutsche Unternehmen arbeiten, weil sie perfekt deutsch sprechen und die deutsche Mentalität kennen – was insofern schade ist, weil Deutschland qualifizierte Fachkräfte verliert. Darüber hinaus gibt es in Frankfurt ganz aktuell eine interessante Initiative, initiiert vom türkischen Generalkonsulat, für eine Plattform, durch die Unternehmen, die in Deutschland von Türkeistämmigen geführt werden, mit türkischen Unternehmen in Verbindung gebracht werden sollen. Da gibt es sicher Potenzial, in beide Richtungen: Auch türkische Unternehmen investieren verstärkt in Deutschland, da können türkischstämmige Unternehmen durchaus eine Rolle spielen.
IP: Wie beurteilen sie die Perspektiven, gerade für die deutsch-türkischen Handels- und Geschäftsbeziehungen?
Kemmler: Die sehe ich sehr, sehr positiv, das Interesse ist enorm. Unsere Türkei-Veranstaltungen sind ruckzuck ausgebucht. Manchmal höre ich von Unternehmensvertretern, die einfach aufgrund des Islams als Mehrheitsreli-gion in der Türkei davon ausgehen, dass sie dort Schwierigkeiten hätten; aber im Geschäftsleben spielt das meist gar keine Rolle. Vielmehr gelten die Türken als „Preußen des Orients“. Kurz: Es gibt genügend Anknüpfungspunkte und Gemeinsamkeiten – und ein riesiges Potenzial, wenn sich beide ergänzen. Türken sehen eher die Chancen, die Deutschen eher die Risiken und agieren dann oft nach den Geboten deutscher Planungssicherheit: alles durchdenken und jegliche Risiken ausschließen. Und auf der anderen Seite findet sich diese flexible, spontane, leistungsfähige türkische Mentalität, und in der Synthese sehe ich sehr große Chancen.
IP: Wie wichtig ist es für die weitere Entwicklung, dass die Türkei der EU beitreten kann?
Kemmler: Persönlich würde ich es begrüßen. Ich kann oft nicht nachvollziehen, mit welchen Argumenten die Verhandlungen immer weiter hinausgezögert werden, und habe Verständnis für einen gewissen Ärger auf der türkischen Seite und die Reaktion: Wenn die Türkei Europas wachstumsstärkster Markt ist, braucht die Türkei wirtschaftlich keine EU-Mitgliedschaft! Aber politisch würde ich eine EU-Mitgliedschaft der Türkei sehr begrüßen: Sowohl für die EU als auch die Türkei ist das der richtige Weg.
Die Fragen stellte Henning Hoff
Işınay Kemmler ist Geschäftsführerin der Global Success GmbH in Frankfurt am Main und Autorin des Buches „Business Know-how Türkei“. 2012 gründete sie das erste soziale Netzwerk für Führungskräfte innovativer Unternehmen, die in Wachstumsmärkten wie der Türkei aktiv sind (www.globalsuccess-club.net).
IP Länderporträt Türkei, November/Dezember 2013, S. 50-53