Erklärt Merkel
Zwei Versuche, die Außenpolitik der Bundeskanzlerin auf den Punkt zu bringen
Auch nach zwei Amtszeiten bleibt Angela Merkel ein Mysterium. Ihre Äußerungen werfen oft mehr Fragen auf, als sie Antworten geben. Das gilt auch für die Außenpolitik. Obwohl Merkel als eine der mächtigsten Frauen der Welt bezeichnet wird, bleibt oft undeutlich, wie sie diese Macht einsetzen will. Zwei Neuerscheinungen wollen hier Klarheit schaffen.
Dass Angela Merkel ihre Politik nicht erklärt, ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Wer sich ihrer Außenpolitik annähern will, dem bleibt damit nur der Weg über die Deutung ihres konkreten Handelns. Doch auch dieses Handeln bleibt ominös, oft widersprüchlich. Es ergibt sich keine klare Linie; das Gegenteil ist auch immer möglich. Was Merkels Außenpolitik angeht, so sind nach acht Jahren noch fast alle wichtigen Fragen offen: Wie weit ist die Kanzlerin bereit zu gehen, um den Euro zu retten? Wird sie, wenn es hart auf hart kommen sollte, einer Vergemeinschaftung von Schulden zustimmen oder dann doch lieber eine Spaltung der Euro-Zone in Kauf nehmen? Welche Angebote ist Merkel bereit, den Briten zu machen, um sie in der EU zu halten? Wird sie dem Druck europäischer Partner standhalten, Israel weniger freundlich zu behandeln? Wird die sichtbare Abkühlung des Verhältnisses zu Putin auch zu einer neuen, von der „Modernisierungspartnerschaft“ unterscheidbaren Russland-Politik führen? Und in wie weit ist Merkel bereit, etwa in Bezug auf China deutsche Außenpolitik in den Rahmen einer gemeinsamen EU-Außenpolitik zu integrieren und die EU dadurch zu einem veritablen Machtfaktor auf der Weltbühne zu machen?
Faible für Amerika, Fixpunkt Israel
Zwei Bücher sind jetzt erschienen, die versuchen, Angela Merkel als Europa- und Außenpolitikerin besser als bisher zu erklären. Das eine stammt von Stefan Kornelius, dem Leiter des außenpolitischen Ressorts der Süddeutschen Zeitung, das andere von Judy Dempsey, langjährige Deutschland-Korrespondentin der International Herald Tribune, für die sie heute als Kolumnistin schreibt.
Das Buch von Kornelius gründet auf intensiver Langzeitbeobachtung aus der Nähe. Kornelius ist seit Jahren dabei, wenn Merkel durch Europa und die Welt jettet, auf Staatsbesuchen und Gipfeln. Er schreibt aus der Perspektive großer Nähe und auch großer Sympathie. Immer wieder erklärt er Merkels Gedanken und Gefühle: was und wen sie mag und warum. Ganz falsch wird er damit nicht liegen, sonst hätte die Kanzlerin das Buch nicht höchstpersönlich in Berlin präsentiert. Auch wenn es formal keine autorisierte Biografie ist, ist das Buch doch offenkundig geprägt durch die Sichtweise des Kanzleramts.
Aus acht Jahren Merkel-Beobachtung destilliert Kornelius die Hauptthemen der Merkelschen Außenpolitik: USA, Krieg, Israel, Russland, China und Europa. Um es vorweg zu sagen: Überraschungen gibt es nicht, das Buch bestätigt im Wesentlichen das Bekannte. So hat Angela Merkel, wie man weiß, ein Faible für Amerika und legt grundsätzlich Wert auf gute transatlantische Beziehungen. Das bedeutet aber nicht, dass Washington damit rechnen kann, Deutschland stets auf seiner Seite zu wissen; immer wieder ist die Kanzlerin bereit, auf Konfrontationskurs zu Washington zu gehen.
So weigerte sich Merkel im Jahr 2008, der Ukraine und Georgien eine konkrete NATO-Beitrittsperspektive zu geben, trotz massiven Drängens von George W. Bush, mit dem sie sich persönlich gut verstand. Damals bescheinigte Wladimir Putin der Kanzlerin, schreibt Kornelius, „in seltener Dankbarkeit, dass er ihr diese Tat niemals vergessen werde“. Mit Barack Obama hat Merkel den guten Draht, den sie zu Bush hatte, nicht gefunden. In der Finanz- und Euro-Krise gab es wenig Übereinstimmung zwischen Washington und Berlin. Das Verhältnis ist kühl.
Israel ist ein Fixpunkt in Merkels außenpolitischem Universum, es ist, schreibt Kornelius, für die sonst so kontrolliert auftretende Kanzlerin eine höchst emotionale Angelegenheit. Übersetzt ins Politische heißt das dann: Israels Existenz ist Teil der deutschen „Staatsräson“, wie Merkel mehrfach erklärt hat. Doch trotzdem kam es im Herbst 2011 mit Benjamin Netanjahu zu einem heftigen Disput. Als der israelische Premier dem Bau neuer Siedlungen im Ostteil Jerusalems zustimmte, sei Merkel „fuchsteufelswild“ geworden; die Beziehungen zu ihm sind seitdem abgekühlt.
Frustriert ist Merkel, schreibt Kornelius, auch über Moskau. Mit Dmitri Medwedew, von Putin für eine Amtszeit ins Präsidentenamt gehoben, habe sie große Hoffnungen verbunden. Als Putin schließlich enthüllte, dass der Rollentausch nur eine von Anfang an geplante Inszenierung gewesen sei, fühlte sich Merkel „schwer getäuscht“. Heute sei Merkel „ernüchtert bis ratlos“, was Russland angeht.
Europäerin aus Vernunft
Im Europa-Kapitel seines Buches zeichnet Kornelius eine Vernunfteuropäerin, die zu dem Schluss gekommen ist, dass die Euro-Rettung essenziell für Deutschland ist. Eine Rettung jedoch, die nicht durch die Stärkung der Brüsseler Institutionen bewerkstelligt werden soll – wie es die Föderalisten anstreben –, sondern durch ein besser koordiniertes Vorgehen der Nationalstaaten, die sich wechselseitig auf Reform und bessere Haushaltsführung verpflichten sollen. Merkels Europa, auch das zeigt Kornelius, ist ein Europa der Nationalstaaten. Brüssels Eigengewicht ist in der Krise gesunken.
Insgesamt hat Kornelius einen umfassenden und sehr gut lesbaren Überblick vorgelegt. Und dennoch ist man nach der Lektüre nicht viel klüger als zuvor. Was Merkel als Außenpolitikerin antreibt, bleibt bei allen Deutungsbemühungen doch offen. Aus der Übersicht über acht Jahre Merkel-Außenpolitik ergeben sich wenig Anhaltspunkte für kommende Entscheidungen. Aus ihrer emotionalen Neigung zum Westen, zu den USA und auch zu Israel, ergeben sich keine klaren, systematisch entwickelten außenpolitischen Präferenzen und Strategien.
Begrenzt zuverlässig
Genau das ist es, was Judy Dempsey nicht behagt. Als Journalistin, die Merkel ebenfalls auf Reisen begleitet hat, teilt sie mit Kornelius eine gewisse Insider-Perspektive. Anders als Kornelius aber, der sich mit Kritik eher zurückhält, lässt Dempsey ihrer Enttäuschung über Merkels konturenarme Außenpolitik freien Lauf. Dempsey trauert der Merkel von 2005 hinterher, die Menschenrechte in den Vordergrund stellte und Deutschland nach den geopolitischen Abenteuern ihres Vorgängers Gerhard Schröder wieder entschieden auf Westkurs brachte, entschlossen und orientiert an übergreifenden Prinzipien.
Dempseys Buch setzt in etwa die gleichen Akzente wie Kornelius: die EU und das Management der Euro-Krise, das Verhältnis zu den USA, zu Russland und Israel, das Militärische, die Menschenrechte. In der Europa-Politik beklagt sie den Mangel an deutscher Führung in Richtung „mehr Europa“. Im Verhältnis zu den USA diagnostiziert Dempsey wie Kornelius eine Abkühlung. Die Schuld dafür sieht sie bei Merkel, die das Werben Obamas ignoriert habe. Die deutsche Enthaltung bei der Libyen-Abstimmung im UN-Sicherheitsrat sei ein großer Fehler gewesen, seither gelte Deutschland international „nur noch begrenzt als zuverlässig“; es stehe in steigendem Maße „im Abseits“.
Überhaupt denkt Deutschland „seit dem Amtsantritt von Angela Merkel in der Außenpolitik so gut wie überhaupt nicht strategisch“. Von der Absicht, Menschenrechte ins Zentrum der Außenpolitik zu stellen, sei kaum etwas geblieben; Merkel erteile „den Wirtschaftsinteressen Deutschlands in der Regel den Vorrang vor den Werten.“
Lob dagegen gibt es für die Entwicklung der Beziehungen zu Deutschlands östlichem Nachbarn: „Gegenüber Polen hat sie mit beharrlicher Freundlichkeit für einen historischen Neuanfang gesorgt.“ Im Verhältnis zu Moskau dagegen bleibe sie blass: „Merkel muss endlich damit beginnen, gegenüber Moskau die Möglichkeiten ihrer Macht zu nutzen.“
Dempseys Erwartung an Merkel ist groß – und ebenso groß ist die Enttäuschung. Die Latte, an der sie Merkel misst, liegt hoch: „Die Aufgabe eines Bundeskanzlers ist es, die Richtung vorzugeben, Ideen einzubringen, Visionen zu entwerfen und strategisch zu denken, um das Land voranzubringen. Das sind sicherlich nicht Merkels Stärken. Manchmal habe ich den Eindruck, dass es Merkel schon reicht, Kanzlerin zu bleiben.“
Nicht wenige Beobachter teilen diese Kritik. Und doch muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Deutschen mit Merkels Amtsführung insgesamt zufrieden sind, auch außenpolitisch. Eine Kanzlerin, die bis zum Alter von 35 Jahren die Bundesrepublik von außen betrachtete, hat sich in den von Westdeutschland geprägten Mainstream hineingearbeitet.
Der kollektive Auftrag lautet, ganz grob gesagt: Bewahrung der Kontinuität und des Status quo. Die Dinge laufen recht gut für Deutschland, trotz der Euro-Krise, und so soll es auch bleiben. Merkels Botschaft lautet dementsprechend: Keine Sorge, ich kümmere mich darum. Wie sie dabei vorgehen will, erklärt sie allerdings nicht. Nicht nur die Deutschen, auch unsere Nachbarn und Partner rätseln permanent, was Merkel wirklich will. Solange das aber für die Deutschen funktioniert, hat Merkel das Vertrauen der deutschen Wähler.
Die Methode Merkel
Konkret heißt die Methode Merkel: durchwurschteln, auf Sicht fahren. In einer komplexen Welt kommt man mit großen Plänen nicht weit, also schaut man nicht allzu weit nach vorne und arbeitet lieber die tägliche Agenda ab, wie sie sich aus dem Fortgang der Ereignisse ergibt. Und in der Tat sieht das aus wie eine Erfolgsstrategie. In der Euro-Krise erscheint Deutschland wie eine Insel der Glückseligen.
Die große Frage aber ist, ob das ausreicht: ob sich Deutschland nicht auch verändern muss, um das einmal Erreichte in einer sich rapide verändernden Welt zu bewahren. Doch anstatt an der Suche nach Lösungen für europapolitische und internationale Probleme teilzunehmen, statt außenpolitisch Zukunft zu gestalten, wendet sich Deutschland unter Merkel noch stärker als zuvor ab von der Außenwelt und erscheint den Partnern immer mehr als negative Macht, als bloße Veto- und Blockademacht. Ob es um Syrien geht oder um die Bankenunion – ohne ein intensives, am Fortschritt in der Sache interessiertes Engagement Deutschlands kommt Europa nicht voran.
Das wiederum ist nicht primär Merkel anzulasten, es ist Ausdruck einer politischen Kultur, die geprägt ist von der alten Bundesrepublik: Man ist gewohnt, die wesentlichen Richtungsentscheidungen anderen zu überlassen und sich ganz aufs Wirtschaftliche und Soziale zu konzentrieren. Heute aber muss sich Deutschland ändern, es muss Mitverantwortung übernehmen für die Zukunft der größeren Ordnung, in die das eigene Staatswesen eingebettet ist. Für ein derart auf Austausch und Vernetzung angewiesenes Land wie Deutschland ist Außenpolitik von vitaler Bedeutung.
Eine verantwortungsvolle, auf längerfristige Interessen orientierte Außenpolitik kann aber nicht von der Kanzlerin alleine entwickelt werden. Sie muss in außenpolitischen Milieus entwickelt und von gesellschaftlichen Kräften getragen werden. Insofern ist für Judy Dempseys Kritik, wonach es der deutschen Außenpolitik an Visionen, Ideen und strategischem Denken mangele, nicht nur die Kanzlerin der Adressat. Gefordert sind alle diejenigen, die sich mehr oder weniger professionell am außenpolitischen Diskurs beteiligen.
Dr. Ulrich Speck arbeitet als außenpolitischer Analyst in Heidelberg. Er ist u.a. Herausgeber des Global Europe Morning Brief.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 134-137