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01. Sep 2006

Erkennt die wahren Zusammenhänge

Hisbollah, Israel und Libanon – zur Dynamik einer Eskalation

Der Westen misst aus der Perspektive dieses Autors mit zweierlei Maß: Israel darf alles, und alle arabischen Befreiungsbewegungen sind Terrororganisationen. Diese vereinfachte Sichtweise muss korrigiert werden, wollen wir eine dauerhafte Lösung des Nahost-Konflikts. Dabei muss Europa endlich Verantwortung übernehmen, denn seine Geschichte lastet bis heute schwer auf der Region.

Die derzeitige Krise im Nahen Osten, die den Libanon erneut in einen Strudel von Gewalt und Zerstörung gerissen hat, lässt sich nur verstehen, wenn man sie gewissenhaft in ihrem historischen und regionalen Kontext analysiert. Man darf sich nicht mit den Schlussfolgerungen zufrieden geben, die aus den USA, Israel und Großbritannien oder anderen europäischen Ländern kommen. Damit lässt sich weder die Komplexität des Konflikts erfassen noch eine Lösung finden, um die wesentlichen regionalen Spannungen zu überwinden, die seit Jahrzehnten den Nahen Osten zerreißen. Ganz im Gegenteil: Die Vereinfachung des Konflikts ist ein Rezept, das künftig in die Katastrophe führen wird, selbst wenn kurzfristig eine Stabilisierung der politischen Lage gelingen sollte. Dieses Zerrbild besteht in der Darstellung des Nahost-Konflikts als ein Kampf zwischen „Terroristen“ (der Hisbollah), gesteuert von einer Achse des Bösen (Syrien, Iran), die die demokratischen Hoffnungen der Völker in der Region zerstören, zu deren Aufbau die USA ihren Beitrag leisten wollen.

Diese verzerrte Darstellung bildet jedoch den Kern der israelisch-amerikanischen und britischen Sichtweise der Libanon-Krise und aller anderen Konflikte und Spannungen in der Region. Sie kennzeichnet auch viele Kommentare und Analysen und die Aufmachung der Nachrichten in wichtigen westlichen Medien. Diese Sichtweise kann in sieben Punkten zusammengefasst werden:

  1. Die Hisbollah ist ebenso eine Terrororganisation wie die Hamas in Palästina.
  2. Sie attackiert auf ungerechtfertigte und unannehmbare Art und Weise den Staat Israel.
  3. Israel befindet sich also im Recht, wenn es die Hisbollah im Libanon ausmerzen will und erscheint als ein Staat, der ganz legitim seine Bevölkerung gegen die Aggressionen dieser Terrororganisation schützt.
  4. Die zivilen Opfer im Libanon sind allein der Feigheit der Hisbollah geschuldet, die die libanesische Zivilbevölkerung als Geisel nimmt und zu ihrem menschlichen Schutzschild macht.
  5. Ohne die Hilfe Syriens und des Iran, die die Hisbollah mit Waffen und Geld unterstützen, könnte diese nicht existieren.
  6. Die Ideologie der Hisbollah ist dieselbe wie die der Hamas und ähnlich der dschihadistischen Gruppen, die sich von Bin Laden inspirieren lassen, d.h. es handelt sich um einen furchterregenden antiwestlichen und antisemitischen islamischen Faschismus, der alle Werte von Demokratie und Menschenrechten negiert.
  7. Die Hisbollah und ihre Ideologie sind Teil eines weltweiten Feindes des Westens und der Zivilisation, den es aus dem Nahen Osten zu entfernen gilt, um den Weltfrieden zu sichern.

Das Erschreckendste an dieser Sichtweise sind die allgemeine Verwirrung, die sie stiftet, und die Spannungen, die sie im Nahen Osten auslöst. Diese werden noch gesteigert durch das Ausmaß und die Härte, mit der die israelische Armee vorgeht. Diese Armee hat in der Region ein Gewaltmonopol in der Luft, das sie ohne jede Zurückhaltung nutzt, auch gegen Wohnhäuser und die zivile Infrastruktur im Libanon, im Gaza-Streifen oder im Westjordanland. Die Bilder der unsäglichen Leiden der palästinensischen und libanesischen Zivilbevölkerung kommen zu den Bildern der unter der amerikanischen und britischen Besatzung leidenden irakischen Bevölkerung hinzu.

Der Hauptwiderspruch des westlichen Denkansatzes besteht darin: Wenn Syrien und Iran die beiden regionalen Mächte sind, die die besagten Terrorgruppen lenken, warum werden dann unnötigerweise die libanesische und palästinensische Zivilbevölkerung gequält, statt sich direkt gegen diese Staaten zu wenden? Dieser Widerspruch hat sich bereits bei der katastrophalen US-Invasion des Irak gezeigt, die unter dem Vorwand stattfand, gegen die terroristischen Aktivitäten Osama Bin Ladens zu kämpfen, obgleich überhaupt nie irgendein Zusammenhang bestand zwischen Bin Laden und dem irakischen Regime.

Terrorismus, die „Macht des Bösen“?

Das Hauptproblem besteht in Wirklichkeit darin, wie der Terrorismus im Nahen Osten seitens der USA analysiert wird und welche Konsequenzen daraus auf internationaler Ebene gezogen werden. Die amerikanische Herangehensweise ist klar: Der Terrorismus ist eine Erscheinungsform des Bösen, die sich nur durch die Existenz einer „Macht des Bösen“ erklären lässt, die die „Macht des Guten“ in Gestalt der westlichen Demokratien beherrschen will. Diese terroristischen Kräfte sind ein und dieselbe Macht, ob es sich dabei nun um die Hisbollah im Libanon, die Hamas im besetzten Palästina oder Al-Qaida-Gruppierungen handelt, die im Irak operieren, um die „Macht des Guten“ – die USA, die dort die Demokratie etablieren – zu bekämpfen.

Diese Analyse ist von derartiger intellektueller Armut, dass sie direkt in politische Katastrophen führt. Dennoch ist diese Sichtweise bereits zur offiziellen Sicht der Vereinten Nationen geworden. Das wesentliche UN-Reformdokument vom September 2005 stellt fest, dass eine einzige Gefahr die Menschheit bedrohe, nämlich der so genannte transnationale islamische Terrorismus, der versuche, Massenvernichtungswaffen in die Hände zu bekommen.1 Dabei wird keiner der Konflikte erwähnt, die zu dem Terrorismus im Nahen Osten geführt haben. Auch wird nicht unterschieden zwischen dem berechtigten Widerstand gegenüber Besatzungsmächten und dem Terrorismus klassischen Typs, der von Gruppen ausgeht, die sich auf messianische und nihilistische Ideologien stützen und deren Aktivitäten die gesamte neuere Geschichte durchziehen.2

Ebenfalls nicht berücksichtigt wird die Instrumentalisierung junger arabischer antisowjetischer Dschihadistengruppen durch die USA selbst. Die USA hatten diese unterstützt und bewaffnet, um den wachsenden Einfluss der UdSSR in der Dritten Welt zurückzudrängen, aber auch um das spektakuläre Wachstum marxistischer Parteien weltweit zu bremsen. Diese Leute sind dann nach Afghanistan und Bosnien in den Kampf gezogen, und man findet sie heute in Tschetschenien. Ganz zu schweigen von der Unterstützung für die religiösen Fanatiker im Iran, die die bürgerliche und nationalistische Revolution von Ministerpräsident Mossadegh bekämpfen sollten, der 1952 die iranische Ölindustrie verstaatlicht hatte. Um angesichts des schwächer werdenden Schahs eine Machtübernahme durch die iranischen Kommunisten und die marxistischen Islamisten der Khalq-Mudschaheddin zu verhindern, gelangten diese Rebellen 1979 an die Macht.

Schlimmer noch ist, dass die amerikanisch-israelisch-britische Doktrin des Terrorismus vollkommen ignoriert, dass Israel dauerhaft alle Prinzipien des internationalen Rechts verletzt, u.a. die UN-Resolutionen, die das Land betreffen, und die Genfer Konvention über die Verantwortlichkeiten einer Besatzungsmacht, vor allem, was den Schutz der Zivilbevölkerung betrifft, sowie das Verbot, die Zusammensetzung der Bevölkerung in einem besetzten Gebiet zu verändern oder das Verbot der kollektiven Bestrafung.

Nun bestehen Israel, die USA, Frankreich und andere Länder auf der Umsetzung der Resolution 1559. Diese verpflichtet die libanesische Regierung unter anderem dazu, die Hisbollah und die noch im Libanon anwesenden palästinensischen Gruppen zu entwaffnen und seine eigene Armee einzusetzen, die übrigens kaum besser ausgestattet ist als die seit 1978 im Südlibanon stationierte UNIFIL-Truppe. Dabei vergisst man in diesen Ländern all die anderen UN-Resolutionen zum Rückzug Israels aus den 1967 besetzten Gebieten (Gaza und Westjordanland, die syrischen Golan-Höhen, die Schebaa-Farmen im Grenzbereich zwischen Israel, Syrien und Libanon) sowie zum Recht der vertriebenen oder während der Kämpfe 1948 oder 1967 geflüchteten Palästinenser, in ihre Häuser zurückzukehren oder aber durch den Staat Israel entschädigt zu werden.

Was den Libanon betrifft, gibt Israel vor, die Resolution 425 aus dem Jahr 1978 respektiert zu haben, die von ihm verlangt, den Südlibanon ohne Bedingungen zu verlassen, den es im März jenes Jahres besetzt hatte. Dies war unter dem Vorwand geschehen, dass von dort aus eine palästinensische Guerilla gegen das israelische Territorium operiere. Aber Israel vergisst zu erwähnen, dass es der hartnäckige Widerstand der Hisbollah – d.h. überwiegend von jungen Dorfbewohnern aus dem Südlibanon – gewesen ist, der dazu geführt hat, dass sich Israel im Mai 2000 nach 22 Jahren Besatzung einseitig aus diesem Gebiet zurückziehen musste. Israel und die USA sagen auch nicht, dass Israel 1978 das Vorrücken der UNIFIL-Truppe bis zur Grenze verhindert hat; so konnte die Besatzung von 1000 km2 Land in diesem Teil des Libanon andauern.

Man kann sich in der Tat darüber wundern, dass die Hisbollah nach dem Abzug der Israelis aus dem Südlibanon nicht sofort in die libanesischen Streitkräfte integriert wurde, sondern ihre Waffen behalten hat. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, die libanesische Armee und einen Großteil der politischen Kräfte des Landes zu überzeugen, dass diese Integration verfrüht wäre. Zu diesen Faktoren gehörten: das Fehlen einer Garantie, dass libanesisches Territorium in Zukunft vor einer erneuten Besatzung bzw. einem erneuten Angriff durch Israel geschützt wird, praktisch tägliche Verletzungen libanesischer Souveränität seit 1968 einschließlich der zwei Invasionen in den Jahren 1978 und 1982, und, darüber hinaus, permanente Verletzungen libanesischen Luftraums sowie libanesischer Hoheitsgewässer nach dem israelischen Rückzug im Jahr 2000. Des Weiteren hält Israel zahlreiche libanesische Gefangenen in seiner Gewalt. Zudem lehnte Israel die Anerkennung  der Schebaa-Farmen3 als libanesisches Gebiet ab, das es nach der Eroberung des syrischen Golan während des Krieges von 1967 besetzt hatte – und die Tatsache, dass dieses Gebiet nicht unter die Resolution 242 des Sicherheitsrats, sondern unter die Resolution 478 über die Befreiung der besetzten Gebiete fiel.

Angesichts der Übermacht der israelischen Armee kann, wie die jüngsten Ereignisse bewiesen haben, nur eine trainierte und erprobte Guerillatruppe eine erneute israelische Besatzung verhindern – und nicht etwa eine reguläre (libanesische) Armee, die nicht einmal über eine schlagkräftige Luftwaffe und Luftabwehrsysteme verfügt. Die Frage der Entwaffnung der Hisbollah wurde übrigens, unter dem Druck Frankreichs und der USA über die Anwendung der Resolution 1559, in einem offiziellen nationalen Dialog regelmäßiger Treffen diskutiert, bis der erneute Konflikt diese Situation überlagerte.

Hisbollah und Hamas

Man kann, andererseits, die religiöse Aufmachung, mit der die Hisbollah auftritt, ablehnen sowie ihren Extremismus, ihre Radikalität oder ihre antiisraelische Rhetorik. In Wahrheit aber steht diese Bewegung so wie die Hamas in der Tradition nationaler Befreiungs- und Dekolonisationsbewegungen. Die schiitisch geprägte Hisbollah oder die sunnitische Hamas kämpfen vor allem für die Befreiung besetzter Gebiete. Sie sind Erben der algerischen Fellaga, der vietnamesischen Vietcong und vieler anderer antiimperialistischer Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt.

Die religiöse Färbung dieser beiden Bewegungen ist zurückzuführen auf das Selbstverständnis des Staates Israel selbst. Dieser definiert sich vor allem als jüdischer Staat. Er besetzt und kolonisiert dabei fremde Territorien unter Verletzung von UN-Resolutionen und Genfer Konventionen. Israel wird bei diesem Vorgehen vorbehaltlos vor den USA unterstützt, einem Land, das sich ebenfalls als „Nation von Gläubigen“ begreift. In allgemeinerer Weise erfährt Israel auch Unterstützung seitens anderer westlicher Staaten, die sich ihrerseits seit einigen Jahren als Verteidiger jüdisch-christlicher Werte verstehen. Die traditionelle Definition des Westens als Erbe der griechisch-römischen Zivilisation ist heutzutage aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Man kann also schwerlich die ideologische Prägung von Hisbollah und Hamas kritisieren in einer Zeit, in der weltweit die säkularen Räume kleiner werden und das internationale Recht missachtet wird. Letzteres wurde vom Westen selbst und von seinen laizistischen und humanistischen Wurzeln inspiriert und erfährt immer dann Missachtung, wenn es um den Nahen Osten geht.4

Es ist müßig, angesichts der neuerlichen Zerstörung des Libanon über die jeweilige Verantwortung der Hisbollah und Israels zu streiten. Die Hisbollah hat zwei israelische Soldaten entführt, in der Hoffnung, die Verhandlungen über die Befreiung von in Israel inhaftierten libanesischen Gefangenen wieder aufnehmen zu können. Auf diese Provokation darf aber nach geltendem internationalen Recht – besonders dem Recht auf Vergeltung – nur angemessen reagiert werden; auf keinen Fall darf der Libanon in Schutt und Asche gelegt und unter Blockade von See, Land und Luft gestellt werden. Hätte man bei der Entführung zweier britischer Soldaten in Nordirland durch die IRA akzeptiert, dass England die Republik Irland mit derartiger Gewalt überzieht? Oder hätten Frankreich und Spanien so auf baskischen ETA-Terror reagiert?

Man muss sich in Erinnerung rufen, dass im Januar 2004 durch Vermittlung der deutschen Regierung ein Gefangenenaustausch von 400 in Israel inhaftierten Libanesen stattgefunden hat. Dies geschah infolge der Entführung eines israelischen Geschäftsmanns durch die Hisbollah, der offensichtlich Angehöriger des israelischen Geheimdiensts war. Dieser Austausch ist von Israel unterbrochen worden. Hat die Hisbollah geglaubt, mit der Entführung zweier Soldaten diesen Austausch fortsetzen zu können? Oder hat sie einfach den Druck von der Palästinensischen Autonomiebehörde nehmen wollen, die jetzt von der Hamas geleitet wird, und die ebenfalls einen israelischen Soldaten entführt hat, um die Befreiung der palästinensischen Häftlinge zu erreichen, deren Zahl bereits gegen 10 000 geht? Oder hat die Hisbollah gespürt, dass die Luft um sie herum immer dünner wird? Nichts davon lässt sich mit Sicherheit sagen.

Keine Achse Syrien–Iran

Die andere von westlichen Staatsführern favorisierte Hypothese ist die einer durch die Achse Damaskus-Teheran befohlenen Operation. Das ist sicherlich am wenigsten glaubwürdig. Die Hisbollah hat sich seit 15 Jahren vollkommen „libanisiert“, sie nimmt aktiv am politischen Leben im Libanon teil und hat eine nie zuvor dagewesene Popularität erlangt; die Kämpfer dieser Partei sind junge Libanesen aus dem Süden des Landes, die ihr Leben ganz der Befreiung ihrer Heimat gewidmet haben. Die Hisbollah wird kaum ihre eigene Existenz aufs Spiel setzen, nur um Syrien und Iran zu gefallen! Die Tatsache, dass ihr Kampf von beiden Ländern unterstützt wird, dass von „Märtyrerideologie“ innerhalb der Partei gesprochen wird, ändert nichts an dieser Tatsache.

Die antikolonialen und antiimperialistischen Kämpfe der Dritten Welt in den fünfziger und sechziger Jahren wurden von der UdSSR, von China oder Ägypten unter Nasser unterstützt. Das bedeutet nicht, dass diese Bewegungen nicht in der Gesellschaft verankert waren und ihr Kampf deswegen an Legitimität verlor. Alle diese Befreiungsbewegungen, u.a. in Algerien und Vietnam, fühlten sich solidarisch untereinander – genauso wie sich heute Hamas und Hisbollah solidarisch zueinander verhalten, denn es verbindet sie der Kampf gegen denselben Staat, der ihr Land besetzt und kolonisiert. Die öffentliche Meinung in allen arabischen Ländern solidarisiert sich ebenfalls mit dem antiisraelischen Kampf dieser beiden Bewegungen.

Die Folgen des Holocaust

Die Heftigkeit der israelischen Reaktionen auf die arabische „Weigerung“, die israelischen Sicherheitsbedürfnisse zu respektieren, wird seit langem von Spezialisten untersucht, die die Erfahrungen des Holocaust in der Psychologie israelischer Politiker analysieren. Der bekannteste unter ihnen, Raul Hilberg, erklärt, wie es angesichts des damaligen Dramas zu einer Übertragung von feindseligen Gefühlen auf Großbritannien kam, das damals Mandatsmacht in Palästina war. Die jüdischen Holocaust-Überlebenden in Europa und den USA wie auch die Einwanderer nach Palästina konnten ihre Feindseligkeit gegenüber all denjenigen, die den Genozid begangen bzw. hatten geschehen lassen, nicht ausdrücken. So haben sie diese Feindschaft zunächst auf die Briten und dann nach und nach auf die Palästinenser und die anderen umliegenden arabischen Völker übertragen.5

Heute gelingt es den westlichen Ländern umso leichter, sämtliche Schuld am europäischen Antisemitismus und dem Holocaust bei der arabischen und muslimischen Welt abzuladen, denn die Vorstellung vom Kampf der Kulturen hat Eingang gefunden in die Doktrin des Westens über seinen einzigen Feind, den islamischen Terrorismus. Der ehemalige Gegner – der von der Sowjetunion und China genährte Kommunismus – ist verschwunden, der Westen hat einen neuen Feind gefunden und Israel steht dabei aufgrund seiner geographischen Lage an der Spitze dieses Kampfes.

Angesichts des nahöstlichen Chaos freut sich Europa heute, endlich in Frieden zu leben und seine Einheit vorantreiben zu können – nach Jahrhunderten fürchterlicher Kriege zwischen seinen Nationen. Europa merkt jedoch nicht, dass der Sturm des mörderischen Wahnsinns, der von Afghanistan über den Irak nach Palästina und Libanon zieht, und den sein amerikanischer Verbündeter „Kampf der Kulturen“ nennt, zum Großteil ein Folgeprodukt seiner eigenen Geschichte ist.

In der Tat zeigt sich im Nahen Osten die spektakulärste Ausprägung dieser tragischen Geschichte, die zurückzuführen ist auf den Schrecken, den der Genozid an den europäischen Juden im Dritten Reich verursacht hat. Dieser Völkermord ist Höhepunkt eines Antisemitismus rassistischer Natur, der bereits während des gesamten 19. Jahrhunderts grassiert hat und Ausdruck fand in einem Antijudaismus, wie er seit Jahrhunderten von Katholiken und Protestanten gepredigt worden war. Die Entwicklung der linguistischen und rassischen Theorien in Deutschland, die eine Zweiteilung der Welt in Semiten und Arier propagierten, hat dazu beigetragen, die sich in Europa entwickelnde Demokratie zu stoppen.

Diese Grundlagen erklären die Lähmung des europäischen Gewissens,  und, im gleichen Atemzug, seinen Aufschrei im Falle Südafrikas, des Kosovo, Osttimors oder anderer Situationen, wo die Menschenrechte permanent verletzt werden.6 Aus diesem Wespennest herauszukommen wird nicht einfach sein.

Es ist auch nicht sicher, ob sich die Lage nach dem Ende der Amtszeit von George W. Bush beruhigen wird. Denn der Nationalismus, vor allem der Zivilisierungs-Fanatismus, der von der amerikanischen Politik in die Welt gesetzt und von vielen Europäern aufgegriffen wurde, wird umso schwerer zu beschwichtigen sein, als die dagegen gerichtete islamische Rhetorik genährt wird durch das unglückliche Irak-Unternehmen, die endlose Gewalt und die Leiden des libanesischen und palästinensischen Volkes, ganz zu schweigen von der sich rapide verschlechternden Lage in Afghanistan sowie dem massiven Aufmarsch amerikanischer Truppen in muslimischen Ländern, was großen Unmut in der Bevölkerung hervorruft.

Die EU könnte gewiss noch aktiver sein; dazu fordert sie auch das Europäische Parlament auf, das sich zu Recht dafür ausgesprochen hat, alle UN-Resolutionen zum Nahost-Konflikt zu erfüllen. Wenn die internationale Gemeinschaft die Umsetzung dieser UN-Resolutionen aber nur fordert, wenn sie den arabischen Staaten Verpflichtungen auferlegt, jedoch keinesfalls Israel – man denke an den Druck, mit dem Libanon die Resolution 1559 diktiert wurde – dann sind die Chancen auf Stabilität und Frieden in der Region gering. Man kann sich übrigens auch darüber wundern, wie unterschiedlich der UN-Sicherheitsrat zum Thema Libanon reagiert: Infolge des Mordes an dem früheren libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri nahm er eine ganze Serie entschiedener Resolutionen an, aber es gelang ihm nur sehr schwer, die Blockade des gesamten Libanon aufzuheben und das Bombardement der Zivilbevölkerung und der Infrastruktur zu stoppen. Sicherlich war Hariri ein Freund des Westens, während die Hisbollah als Feind betrachtet wird. Aber ist das Grund genug, um die Gewalt, die heute den gesamten Libanon überzieht, mit doppeltem Maß zu messen?

Europas Verantwortung

Für eine Schlichtung des Nahost-Konflikts muss auf Schwarz-Weiß-Malerei und religiöse Vorurteile, wie sie in den Medien und Führungszirkeln vieler westlicher Länder vorherrschen, verzichtet werden. Gewiss, um das Blutbad in Palästina und im Libanon zu rechtfertigen, kann man immer das fanatische Wesen des Islams beschwören, das Fehlen demokratischer Traditionen, das Festhalten an Stammestraditionen und gesellschaftlicher Gewalt und andere gängige anthropologische Klischees über den muslimischen Orient.

Man wird auch den unberechenbaren, gefährlichen Charakter der Regime in Syrien und Iran anführen. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als im Namen der Terrorismusbekämpfung in diese Länder einzudringen, sie unter Blockade zu Wasser, zu Lande und in der Luft zu stellen und ihre Zivilbevölkerung durch massive Luftbombardements zu terrorisieren. Das bedeutet, dass die zivilisierte Welt erneut in eine Art Barbarei verfällt, die man bereits überwunden glaubte. Schlimmer noch, handelt es sich nicht um das Wiederaufkommen einer neuen Form von umgekehrtem Rassismus, der besonders subtil, pervers und bedrohlich ist, wenn man aus dem Staat Israel einen Staat macht, der außerhalb der internationalen Rechtsnormen steht?

Der Nahe Osten zahlt bis heute die moralischen Schulden, die die Kriege und Gewaltakte in Europa verursacht haben. Kann Europa noch reagieren, um das neuerliche Blutbad abzuwenden, wird es die Verantwortung übernehmen, die ihm zukommt, seine Traumatisierungen überwinden, seine Kultur der Humanität und des Antirassismus wiederfinden und so endlich den Weg zum Frieden und zur Versöhnung mit dem Nahen Osten öffnen? Könnte dann das Mittelmeer wieder unser gemeinsames Meer werden – ohne Einmischung von jenseits des Atlantiks?

Prof. Dr. GEORGES CORM, geb. 1940, ist ehemaliger Finanzminister Libanons, Historiker und Wirtschaftswissenschaftler. Von seinen Veröffentlichungen zur Geschichte des Nahen Ostens wurde zuletzt ins Deutsche übersetzt: „Missverständnis Orient. Die Islamische Kultur und Europa“ (2004).

  • 1Vgl. In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle, Dokument A/59/2005 der UN-Generalversammlung, New York, Auszüge in der Dokumentation, Internationale Politik, Mai 2005, www.internationalepolitik.de.
  • 2Siehe dazu Georges Corm: La Question religieuse au XIXe siècle. Géopolitique et crise de la post-modernité, Paris 2006.
  • 3Es handelt sich um ein 40 km2 großes Gebiet zwischen der israelischen, libanesischen und syrischen Grenze im Süden Libanons. Dieses Gebiet verfügt, wie die ganze Region, über viel Wasser; alle dortigen Grundstücke gehören Libanesen und die meisten Landkarten schließen sie im libanesischen Gebiet ein. Trotzdem haben selbst die Vereinten Nationen diese Tatsache ignoriert.
  • 4Diese Fragen werden behandelt in Corm (Anm. 2).
  • 5Vgl. dazu Raul Hilberg: La destruction des Juifs d’Europe, Bd. II, Paris 1991, S. 905–906.
  • 6Diese Haltung zeigt sich auch in dem Artikel des ehemaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer: Le mauvais calcul iranien, Le Monde, 8.8.2006.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2006, S. 75‑81

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