Erdogans Wirtschaftswunder
Wie der Regierungschef und seine AKP die Türkei beflügeln – und polarisieren
Recep Tayyip Erdogan hat der modernen Türkei seinen Stempel aufgedrückt wie vor ihm nur Kemal Atatürk. Die AKP-Regierung bescherte dem Land einen rasanten Wirtschaftsaufschwung und neues Selbstbewusstsein. Doch das Wirtschaftswunder am Bosporus hat auch seine Schattenseiten, soziale und kulturelle Spannungen steigen.
Nach dem Gründungsvater der Türkei, Kemal Atatürk, ist Recep Tayyip Erdogan ohne Zweifel die einflussreichste Führungspersönlichkeit in der Geschichte der modernen Türkei. Das vergangene Jahrzehnt seit dem Wahlsieg seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) brachte der Türkei überdurchschnittliches Wachstum, eine aktive Außenpolitik, ambitionierte politische Reformen, einen rasanten Ausbau der Infrastruktur und die Erweiterung sozialer Dienstleistungen. Es wuchsen aber auch die sozialen Spannungen und vertieften sich kulturelle Gräben. Ohne eine der größten Finanzkrisen in der Türkei wäre aber auch dieser Aufschwung kaum möglich gewesen.
Ausgelöst wurde die Krise 2001 durch einen Streit zwischen dem damaligen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer und Premierminister Bülent Ecevit. Sezer hatte den Premier während einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats beschuldigt, Ermittlungen gegen korrupte Banken zu behindern – und angeblich sogar mit einem Exemplar der türkischen Verfassung nach dem Premier geworfen. Dieser verließ entrüstet den Saal und erklärte Journalisten, dass sich die Türkei in einer Krise befände, was der Realität ziemlich nahe kam: Wegen anhaltender Liquiditätsengpässe und riesiger Vermögensabflüsse aus der türkischen Zentralbank hatten Investoren das Vertrauen verloren. In der wirtschaftlichen Ordnungspolitik herrschten Missmanagement und Korruption. Regiert wurde die Türkei von einer Koalition aus drei Parteien unter Führung eines 75 Jahre alten Premierministers, dem weder die türkische Öffentlichkeit noch Investoren die Kraft zur Lösung dieser Probleme zutrauten.
Binnen weniger Stunden nach Ecevits Statement vor den Kameras verzeichnete die Wertpapierbörse erhebliche Verluste und verlor die Zentralbank mehrere Milliarden an Devisen. Das feste Wechselkurssystem, das seit 1999 existierte, musste durch ein flexibles Regime ersetzt werden. Die Regierung entschied sich außerdem für eine Bankenreform, die den Staat rund 21,9 Milliarden Dollar kostete. Das Volumen des Schuldentransfers zwischen Banken und Einlagensicherungsfonds betrug 17,3 Milliarden Dollar. Die Gesamtkosten von 39,2 Milliarden Dollar entsprachen 2002 genau 26,6 Prozent des türkischen Bruttoinlandsprodukts und 20 Prozent der Gesamtschulden des Staates. Über Nacht wurde die Türkei um 25 Prozent ärmer.
Ecevit berief den damaligen Vizepräsidenten der Weltbank Kemal Dervis als Krisenmanager und Wirtschaftsminister. Dervis nutzte seine Unabhängigkeit von nationalen Interessen, seine internationale Erfahrung und die Unterstützung türkischer Reformer, um ein straffes Stabilisierungsprogramm durchzusetzen. Die Unabhängigkeit der Banken, speziell der Zentralbank, wurde gestärkt und weitreichende strukturelle Veränderungen im Landwirtschafts- und Energiesektor sowie im Haushaltsverfahren durchgesetzt. Jetzt waren auch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank bereit, neue Kredite im Wert von 20 Milliarden Dollar bereitzustellen. Die Wirtschaft wuchs wieder, die Inflationsrate schrumpfte von 70 Prozent in den neunziger Jahren auf 12 Prozent im Jahr 2003, die Zinssätze sanken, der Wechselkurs der Lira stabilisierte sich.
Doch wie in den meisten Fällen forderte der wirtschaftliche Aufschwung auch einen sozialen Tribut. Im April 2001 fanden zahlreiche Demonstrationen in der ganzen Türkei statt. Das Volk hatte genug von den etablierten Parteien. Man suchte einen Retter, einen Messias.
Aller Anfang ist schwer
Die Parlamentswahlen vom November 2002 sollten die politische Landschaft des Landes ein für alle Mal verändern. Erdogans AKP erhielt 34,3 Prozent der Stimmen und mit 363 von 550 Sitzen eine deutliche Mehrheit in der Großen Nationalversammlung. Trotz der ausgezeichneten Ergebnisse hatte die AKP nach der Wahl mit ernsten Problemen zu kämpfen. Eigentlich sollte ihr Vorsitzender Erdogan Premier werden. Doch weil ein türkisches Gericht ihm wegen „Schüren religiösen Hasses“ die Bekleidung eines politischen Amtes untersagt hatte, wurde zunächst Abdullah Gül zum Premierminister der ersten AKP-Regierung ernannt.
Mit Unterstützung der Opposition setzte Erdogan allerdings eine Verfassungsänderung durch, die ihm zuerst den Weg ins Parlament und dann in das Amt des Premierministers ebnete. Damit hatte die AKP ein erstes Hindernis überwunden. Aber sie war Nachfolgerin islamistischer Parteien, die vom Verfassungsgericht verboten worden waren, da sie gegen das Prinzip der Säkularität verstießen. Trotz ihrer Stimmenmehrheit geriet sie in vielen Gesellschaftskreisen unter Generalverdacht. Und noch immer lief die AKP Gefahr, vom Militär als Hüter des Kemalismus und stärkster politischer Kraft oder durch rechtliche Mittel „beseitigt“ zu werden. Auch die wirtschaftliche Entwicklung war nach der Finanzkrise weiter fragil. Jedes Zeichen politischer Instabilität konnte einen neuen wirtschaftlichen Kollaps nach sich ziehen.
Nicht zuletzt um diese Bedenken zu zerstreuen, räumte die AKP-Führung dem EU-Beitrittsprozess Priorität ein und brachte so auch weite Teile der liberalen türkischen Eliten und der Zivilgesellschaft auf ihre Seite. Mit Hilfe der Opposition und zivilgesellschaftlicher Akteure setzte sie eine ambitionierte Reformagenda durch, die am Ende die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllen sollte. Das große Ziel baldiger EU-Beitrittsverhandlungen sollte die Nation einen und Sympathiepunkte für die Partei einfahren. Auch die Pläne des damaligen UN-Generalsekretärs Kofi Annan zur Beilegung des Zypern-Konflikts unterstützte Erdogans AKP.
Weil die AKP starke Verbündete in den Medien, der Zivilgesellschaft und im Unternehmertum auf ihrer Seite wusste, erfuhr ihr Demokratisierungskurs wenig sozialen oder politischen Widerstand. Diese breite gesellschaftliche und politische Koalition schützte die Regierung auch vor einem Putschversuch, der – wie sich später herausstellte – in Kreisen des Militärs, der akademischen Welt, der Judikative und der Geschäftswelt durchaus geplant worden war.
Neben den großen und kleinen Krisen der ersten Amtszeit Erdogans hätten sich Wirtschaftsfragen schnell als das schwerwiegendste Problem der Regierung erweisen können. Doch die Führungsriege der AKP war weise genug, den Vorgaben des Bereitschaftsabkommens des IWF Folge zu leisten und dem von Kemal Dervis auf den Weg gebrachten Konjunkturprogramm noch strikter zu folgen als die vorangegangene Regierung es getan hatte. Die von der Einparteiregierung garantierte politische Stabilität und die strenge Haushaltsdisziplin der AKP sorgten für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Im Jahr 2002 erreichte das Wirtschaftswachstum 6,2 Prozent, ein Jahr darauf 5,3 und 2004 satte 9,4 Prozent.
Sternstunden
Das Ereignis, das die positive Entwicklung der AKP-Regierung auf nationaler und internationaler Ebene krönte, war die am 17. Dezember 2004 gefällte Entscheidung des Europäischen Rates, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu eröffnen. Ein Traum, den viele kaum zu träumen gewagt hatten, schien sich zu verwirklichen. Dass der Beitrittsprozess auch Komplikationen mit sich bringen würde, ging in der Welle der Euphorie unter: Die AKP erstrahlte nun in vollem Glanz. Zweifel an der politischen Ausrichtung der Partei wurden über Bord geworfen, die Beziehungen zur EU konnten besser nicht sein und auch die Beziehungen zu den USA gerieten wieder ins Lot. Obendrein versprach der EU-Beitrittsprozess, die Türkei auf einen anhaltenden Wachstumskurs zu bringen. Mit dem Erfolg der Partei entwickelte sich auch ein gesteigertes Selbstbewusstsein, das Erdogans Politik fortan prägen sollte. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes befand sich die Türkei in einem relativ stabilen strategischen Umfeld und musste keine direkten Sicherheitsbedrohungen fürchten. Ahmet Davutoglu, damals noch führender außenpolitischer Berater Erdogans, entwickelte aus dieser Situation ein völlig neues strategisches Konzept für die im Nahen und Mittleren Osten zuvor relativ isolierte Türkei. Sie sollte sich auf lange Sicht als regionale „sanfte Macht“ etablieren, die gute Beziehungen oder auch „Null Probleme mit den Nachbarn“ haben sollte.
Kernprinzip war, schwierige Nachbarregime wie Syrien oder den Iran eher einzubinden als zu isolieren – was gerade von westlichen Partnern häufig kritisiert wurde. Manche Beobachter begannen sich zu fragen, ob die Türkei sich nicht vom Westen abwende. Ein weiterer zentraler Aspekt der neuen türkischen Außenpolitik war eine stärkere Konzentration auf den bilateralen Handel. Das bisherige Motto „Handel folgt Flagge“ wurde kurzerhand in „Flagge folgt Handel“ umgewandelt. Die türkische Regierung machte sich daran, speziell die Handelsbeziehungen zu den Nachbarstaaten zu verbessern – und zwar so sehr, dass man, so Kemal Kirisci von der Brookings Institution, schon einen Imagewechsel von einer Militärmacht oder „Nation der Krieger“ zu einer Handelsnation beobachten könne.
Der Strategiewechsel veränderte die Struktur der türkischen Exportmärkte: Der Anteil des EU-Markts am türkischen Gesamthandelsvolumen fiel von 60 Prozent im Jahr 2003 auf unter 40 Prozent im Jahr 2012. Der Anteil der Staaten im Nahen Osten und Vorderasien hingegen konnte sich mit einem Anstieg von 12 auf 28 Prozent mehr als verdoppeln. Das gesamte Exportvolumen der Türkei verdreifachte sich von 47 Milliarden auf 152 Milliarden Dollar. Als Folge des neu gewonnenen Selbstvertrauens der Regierung verfolgte Erdogan nicht nur eine selbstbewusstere Außenpolitik, sondern schlug auch einen weniger versöhnlichen innenpolitischen Kurs ein. Während der ersten Regierungsjahre, in denen sich die AKP angreifbar fühlte, hatte Erdogan noch so deutlich wie möglich signalisiert, dass er keine islamische Agenda habe. Doch mit der Zeit verflog diese Zurückhaltung. Die Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten und die Kriminalisierung des Ehebruchs wurden von vielen Beobachtern als erste Zeichen dafür gesehen, dass der Premier beabsichtigte, eine konservativere Gesellschaftsordnung zu etablieren. Doch allzu bald sollten Erdogan und seine Partei lernen, dass der Moment, in dem man sich am sichersten fühlt, ein sehr gefährlicher Augenblick sein kann.
Bedrohung und Konsolidierung der Macht
Vier Jahre nach ihrem ersten Wahlsieg hatte die AKP ihr Legitimitätsproblem gelöst, die Wirtschaft stabilisiert, nahm Beitrittsverhandlungen mit der EU auf und errang mit dem Segen der USA Ansehen als Soft Power in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft. In den Kommunalwahlen 2004 konnte sie sich von 34 auf 42 Prozent der Stimmen steigern, im Parlament besaß sie das Mandat, auch den Präsidenten zu wählen. Dass nun aber auch das Amt des Präsidenten, bis dato eine Domäne der Republikaner, von einem „Islamisten“ besetzt sein sollte, brachte die säkulare Elite – zunächst mit „republikanischen Protesten“ in Istanbul, Ankara oder Izmir – und dann auch das Militär auf den Plan. Ein Memo des Generalstabs machte klar, dass die Armee, die schon mehrfach rabiat in die Politik eingegriffen hatte, auch weiter „ihrer Pflicht nachgehen würde, den unabänderlichen Charakter der Türkischen Republik zu wahren“. Das Verfassungsgericht wiederum annullierte in einer höchst umstrittenen Entscheidung zwei Wahlgänge für das Amt des Präsidenten im Parlament, die von der Oppositionspartei CHP boykottiert worden waren. Erdogan nahm die Herausforderung an und rief im April 2004 Neuwahlen aus, die der AKP enormen Zuwachs brachten: Sie gewann 47 Prozent der Stimmen und 341 der 550 Sitze im Parlament. Kurz darauf wurde Abdullah Gül vom Parlament zum Präsidenten gewählt; eine kurz darauf durchgeführte Verfassungsänderung sieht nun vor, dass der Präsident direkt gewählt wird.
„What doesn’t kill you makes you stronger – stand a little taller“, heißt es im Refrain eines Liedes von Kelly Clarkson, das wie auf Erdogan zugeschnitten scheint. Nach mehreren gescheiterten Versuchen, seine Regierung zu stürzen und seine Partei zu verbieten, entschied sich Erdogan, eben „noch aufrechter“ zu stehen und ging nicht nur ein Bündnis mit der moderat islamistischen Gülen-Bewegung ein. In einem umstrittenen Gerichtsurteil wurden der säkularen und ultranationalistischen Ergenekon-Terrororganisation Verbindungen zum türkischen Militär und Sicherheitskräften sowie Aktivitäten zum Sturz der demokratischen Regierung zur Last gelegt. Im so genannten „Sledgehammer-Fall“ wiederum wurden hochrangige Militärs, Verwaltungsmitarbeiter, Universitätsprofessoren und zivilgesellschaftliche Akteure ebenfalls wegen Verschwörung gegen die Regierung zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Prominentestes Urteil war das gegen den ehemaligen Stabschef des türkischen Militärs Ilker Basbug, der als „Anführer einer terroristischen Gruppe“ eine lebenslange Haftstrafe erhielt. Die Gerichtsurteile wurden auf nationaler und internationaler Ebene heftig diskutiert und werden höchstwahrscheinlich eines Tages vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte landen. Mit Hilfe der Ergenekon- und Sledgehammer-Prozesse und durch Modifizierungen der Verfassung jedoch veränderte die AKP-Regierung die Struktur der türkischen Gerichtsbarkeit, beendete die Bevormundung der türkischen Politik durch das Militär und brachte die Streitmacht mehr oder weniger unter zivile Kontrolle. Das Zeitalter der Staatsstreiche in der Türkei war beendet.
Parallel zu den Ergenekon- und Sledgehammer-Verhandlungen setzten Erdogan und seine Partei in Zusammenarbeit mit der Gülen-Bewegung tiefgreifende verfassungsrechtliche Änderungen per Volksentscheid durch. Doch während Erdogan seinen Stand in der türkischen Politik festigte, wandelte sich die ruhige globalwirtschaftliche und strategische Umgebung, in der sich die AKP-Regierung seit jeher bewegte, Schritt für Schritt zum Schlechteren.
Die amerikanische Hypothekenkrise und die europäische Finanzkrise von 2008 und 2009 zogen auch die türkische Wirtschaft in Mitleidenschaft. Der Wechselkurs zwischen dem Dollar und der türkischen Lira stieg von 1,3 im Jahr 2008 auf knapp 1,6 im Jahr 2009. Im selben Jahr schrumpfte die türkische Wirtschaft um 4,8 Prozent. Vor diesem Hintergrund sind auch die Kommunalwahlen 2009 zu sehen, in denen die AKP von 48 auf 38 Prozent rutschte. Trotzdem erholte sich die türkische Wirtschaft schnell, das Wirtschaftswachstum kletterte 2009 und 2010 auf starke 9 Prozent und in den Wahlen von 2011 fuhr die AKP wieder 50 Prozent der Stimmen ein.
In der Außenpolitik jedoch wurde die Angelegenheit kompliziert. Im Bestreben, sich als regionale Soft Power zu etablieren, hatten die traditionellen Beziehungen zu Israel keinen Platz. Die harsche Kritik Erdogans am Gaza-Krieg von 2008 und der Mavi-Marmara-Vorfall 2010, nach dem Ankara seinen Botschafter aus Israel abzog und den israelischen Botschafter auswies, belastete zwar auch die Beziehungen zu den USA. In Ankara jedoch war man überzeugt, dass die USA die Türkei mehr bräuchten als umgekehrt. Mit den Aufständen in der arabischen Welt – von denen die türkische Regierung ebenso überrascht wurde wie alle anderen – geriet jedoch das Konzept freundlicher Beziehungen zu Nachbarstaaten unter Druck. Nach kurzem Zögern stellte sich die Türkei auf die Seite der Aufständischen und änderte den Slogan „Null Probleme mit den Nachbarn“ zu „Null Probleme mit den Nachbarvölkern“. In der Tat scheint es kaum mehr Regime in der Region zu geben, die der Türkei wohl gesonnen sind.
Entscheidungen
Nach den für die AKP äußerst erfolgreichen Wahlen von 2011 bestätigte Erdogan, dass er nicht wieder für das Amt des Premiers antreten werde, aber in dieser Legislaturperiode eine neue Verfassung verabschieden möchte, die sehr zum Missfallen der Oppositionsparteien eine Präsidialdemokratie anstrebt – mit Erdogan an der Spitze. Nicht nur im Parlament, auch in der Gesellschaft zeigt sich Unruhe über Erdogans Führungsstil, die Repressionen der Regierung gegenüber den Medien oder ihre Intoleranz für „westliche“ Lebensstile. Die Gezi-Park-Proteste, die als Demonstration gegen ein Bauvorhaben begannen, waren auch Ausdruck dieser Unzufriedenheit. Hunderttausende demonstrierten wochenlang nicht nur in den Straßen Istanbuls, sondern auch in zahlreichen anderen Städten.
Die kommenden Jahre werden für die Türkei von zentraler Bedeutung sein. Die Gezi-Park-Proteste haben gezeigt, dass kulturelle Konflikte die Türkei zu einer unregierbaren Gesellschaft machen könnten. Mit wenigen Freunden in ihrer Nachbarschaft und angespannten Beziehungen zur EU und den USA befindet sich die Türkei in einer außenpolitischen Zwangslage. Zudem signalisierte die US-Notenbank zuletzt eine mögliche Lockerung der Geldmarktpolitik, die in Schwellenländern wie der Türkei für eine erhebliche Konjunkturdelle sorgen könnte.
Mehr als elf Jahre nach der Regierungsübernahme der AKP stellt sich die Frage, wer die Geschicke des Landes nach Erdogan lenken wird. Und wenn es überhaupt jemanden gibt, der die Antwort auf diese Frage kennt, dann ist es wahrscheinlich Erdogan selbst.
Özgür Ünlühisarcıklı leitet das Büro des German Marshall Fund of the United States
in Ankara.
IP Länderporträt Türkei, November/Dezember 2013, S. 4-10