IP

01. Juli 2006

Energie für die Welt

Wie Staatskonzern Gazprom das Thema Energiesicherheit sieht

Die russische Firma Gazprom ist einer der
größten Energiekonzerne der Welt. Von ihren verlässlichen Gaslieferungen hängt
Europas Energiesicherheit ebenso ab wie das stabile Wachstum der
Weltwirtschaft. Denn neue Abnehmer in Asien und Nordamerika konkurrieren
inzwischen um das russische Gas. Kann Gazprom regionale und globale
Energiesicherheit gewährleisten? Nutzt der Staatskonzern die russischen
Ressourcen effizient? Antworten vom Vorstandsvorsitzenden Alexej Miller.

Fast überall auf der Welt steht die Gasbranche vor dem Problem der schwindenden Reserven. Gazprom kennt dieses Problem nicht. Während viele Unternehmen sich die Frage stellen müssen: Wo nehmen wir unser Gas her?, lautet die Frage für Gazprom immer: Wann ist der beste Zeitpunkt, unser Gas zu fördern? Gazprom besitzt heute mehr als 29 Billionen Kubikmeter an gesicherten Gasreserven und mehr als 1,2 Milliarden Tonnen Gaskondensat. Der Erwerb von Sibneft hat unsere Ölreserven auf 1,3 Milliarden Tonnen erhöht. Unser Entwicklungsprogramm sieht vor, bis zum Jahr 2030 jährlich zwischen 700 und 800 Milliarden Kubikmeter an Erdgasvorkommen neu zu erschließen. Durch dieses Programm erreichen wir einen Reservenzuwachs von 23,5 Billionen Kubikmetern von Erdgas und 3,4 Milliarden Tonnen an flüssigen Kohlenwasserstoffen.

Eine andere Sorge der Gaskonsumenten ist die Schnelligkeit, mit der die Gasproduzenten ihr Angebot erhöhen können. Gazprom hat die Antwort parat: 2005 haben wir 548 Milliarden Kubikmeter gefördert, mehr als im Vorjahr und 37 Milliarden Kubikmeter mehr als im Jahr 2001. Unsere Produktionsreserven sind größer als die Fördermengen, die wir aktuell erreichen. Wir gehen stets von den Bedürfnissen des Marktes aus, und wir liefern so viel Gas, wie der Markt bei uns anfragt. Gazprom hat gegenwärtig über die Reihenfolge und den Zeitplan entschieden, nach denen die Reserven ausgebaut werden sollen. Alle Verträge, die bereits unterschrieben sind, werden zu 100 Prozent erfüllt. Wir wissen bereits jetzt im Detail, welche Felder wir in welcher Reihenfolge bis 2015 und darüber hinaus erschließen werden.

In den letzten fünf Jahren hat Gazprom seine Kapitalinvestitionen verdreifacht; die jährliche Investitionssumme beträgt durchschnittlich zehn bis elf Milliarden Dollar. Zurzeit hat der Ausbau der Transportinfrastruktur die höchste Priorität. Diese Aufgabe ist auch die kostenintensivste. Gazprom investiert in den Gastransport doppelt so viel wie in die Gasproduktion. Eine Aufgabe für die nächste Zukunft wird die Weiterentwicklung der Infrastruktur von Untergrundgasspeichern innerhalb und außerhalb Russlands sein. Zusätzliche Kapazitäten hier werden die Liefersicherheit für die Endkunden erhöhen.

Russland versorgt Europa seit mehr als 30 Jahren mit Gas; es beliefert 21 westeuropäische Länder. Mit den meisten Ländern besteht ein zwischenstaatliches Abkommen, die meisten Exporte werden durch langfristige Verträge mit Laufzeiten von über 25 Jahren geregelt. Im Jahr 2005 hat Gazprom 156 Milliarden Kubikmeter in europäische Länder verkauft und somit etwa ein Viertel vom gesamten Import dieser Länder gesichert. Anhand bestehender Kontrakte wird Gazprom in den nächsten 10 bis 15 Jahren etwa 2,5 Billionen Kubikmeter Gas exportieren.

Bis vor kurzem hat Gazprom die GUS-Staaten in jeder Hinsicht subventioniert. Die Gesetze der marktwirtschaftlichen Logik gelten jedoch auch für diese Staaten. Natürlich ist für sie der Wechsel hin zur marktwirtschaftlichen Basis in der Preispolitik eine Herausforderung. Ein gutes Beispiel für diese Schwierigkeiten ist das Geschehen um den Gastransit durch die Ukraine. Über das Territorium der Ukraine werden sowohl Erdgas für die Ukraine selbst transportiert als auch unsere Exporte nach Westeuropa. Ende 2005 hatten wir eine recht schwierige Situation in den Verhandlungen über die Gaspreise für die ukrainischen Verbraucher. Schließlich haben wir einen Ausweg gefunden. Doch der Grund für diese Konfliktsituation war eine ungenehmigte Entnahme von Gas seitens der Ukraine.

Das wichtigste Ergebnis für die europäische Energiesicherheit nach dem ukrainischen Debakel ist die Tatsache, dass die Fragen des Transits von der Frage der Eigenversorgung der Ukraine entkoppelt worden sind. Bis Ende letzten Jahres wurden sowohl der Transit des Exportgases nach Westeuropa als auch die Lieferungen für die Ukraine selbst in einem einzigen Vertrag geregelt. Nun werden der Gastransit durch die Ukraine und der Gasexport in die Ukraine selbst durch unterschiedliche Verträge geregelt. Nichtsdestotrotz ist die Ukraine weiterhin in der Lage, ihren Zugang zu Gazproms Exportgas auszunutzen. Tatsächlich werden nach wie vor unvereinbarte Gasmengen in die Speicher auf dem ukrainischen Territorium gepumpt. Es ist bereits jetzt abzusehen, dass Gazprom im Winter trotz pünktlicher Lieferung nicht imstande sein wird, den Höchstbedarf in Europa zu decken – ohne eigenes Verschulden.

Das meiste von ihm geförderte Gas verkauft Gazprom innerhalb Russlands. Derzeit haben wir eine stabile Versorgungssituation und alle Voraussetzungen, um das lange anstehende Problem der Erweiterung des eigenen Marktes in Angriff zu nehmen. Gazprom bereitet sich weiter auf die Liberalisierung des Gasmarkts für die Geschäftskunden vor. Durch die gleichzeitige Nutzung  langfristiger Verträge und der Möglichkeiten der Rohstoffbörse wird es uns möglich sein, die Diskrepanz zwischen den Gaspreisen und den Preisen für alternative Energieträger zu verkleinern.

Bereits jetzt ist Gazprom einer der größten Energiekonzerne. Durch den Erwerb von Sibneft haben wir unsere Erdölreserven verdoppelt und unser Produktionspotenzial an flüssigen Kohlenwasserstoffen verdreifacht. Die Entwicklung geht in Richtung Petrochemikalien, darunter synthetische flüssige Brennstofffe. Wir haben auch Aktiva in der Elektroindustrie – zehn Prozent der Stromholding RAO EES (Vereinte Energiesysteme Russland AG) und einen Kontrollanteil an der wichtigsten Tochtergesellschaft der RAO EES, Mosenergo. Strom gehört zum Kerngeschäft von Gazprom, hier entstehen wichtige Synergieeffekte. Gazprom erwägt seine Teilnahme an einigen Projekten mit Energieerzeugung nicht nur aus Gas, sondern auch aus Kohle. Das wird beträchtliche Mengen von Gas freistellen, die im Moment noch wirtschaftlich ineffizient für die Stromerzeugung in Russland genutzt werden.

Tendenzen des Energiesektors und die Rolle von Gazprom

Die Situation auf dem Weltmarkt für fossile Brennstoffe wird durch ein stetiges Bedarfswachstum bestimmt. Der Verbrauch steigt sowohl in den traditionellen Bezugsregionen als auch in solchen, die sich erst als Konsumländer entwickeln – China, Indien, Lateinamerika. Der globale Wettbewerb um die Ressourcen wird intensiver, immer mehr Unternehmen aus den Ländern mit geringen eigenen Vorräten beteiligen sich an energieintensiven Produktionsprozessen. Die Konkurrenz zwischen den drei großen Energiemärkten – Europa, Asien/Pazifik, Nordamerika – wird sich verstärken.

Im Asien-Pazifik-Raum macht Erdgas zurzeit nur zehn Prozent des gesamten Energieverbrauchs aus. Doch hier findet das schnellste Wachstum in der Perspektive der nächsten 15 Jahre statt. Die Wachstumsrate ist hier doppelt so hoch wie in Europa. Wir befinden uns in Verhandlungen mit dem potenziell größten Markt Asiens – China – und planen, bis zum Ende des Jahres eine Vereinbarung zu unterzeichnen. Wir führen gerade eine Machbarkeitsstudie durch. Der entscheidende Faktor für das Zustandekommen der Kontrakte wird die Bereitschaft Chinas sein, den in Korrelation zum Ölprodukte-Preis kalkulierten Gaspreis zu bezahlen.

Der nordamerikanische Markt ist der weltweit größte, und er hat die höchsten Preise. Außerdem reicht ein Blick auf den Globus, um zu sehen, welche Vorteile die Lieferungen von Flüssig-Erdgas (LNG) aus den russischen Vorkommen haben könnten gegenüber Transporten aus dem Nahen Osten. Zurzeit sind wir im Gespräch mit den führenden Unternehmen, die wir als Partner für die Herstellung und Vermarktung von LNG gewinnen möchten. Wir sind uns der Risiken sehr bewusst, die mit den LNG-Projekten verbunden sind; diese können ein viel größeres Ausmaß annehmen als im Bereich der Pipelinetechnologien. Zwar sprechen handfeste wirtschaftliche Überlegungen dafür, das Produktsegment von LNG zu entwickeln, doch sind wir weit davon entfernt, LNG als ein Wundermittel in Sachen Versorgungssicherheit zu sehen. LNG-Transporte per Schiff rechnen sich nur auf längere Distanzen und eignen sich somit nicht für Lieferungen innerhalb Europas.

Wir sind überzeugt, dass ein flexibler Mix von Technologien und Produkten auf Dauer Erfolg verspricht. Und schließlich zeichnet sich die Gasindustrie dadurch aus, dass hier nicht produziert wird, solange die Ware nicht verkauft ist. Das bedeutet, dass nur Langzeitverträge die notwendige Grundlage für unsere zeit- und kostenintensive Produktion bilden können.

Europas Energiesicherheit

Wenn wir unsere Pläne für Europa formulieren, müssen wir das Wachstum der Gasnachfrage der kommenden Jahrzehnte berücksichtigen. Für Gazprom ist Europa ein Markt mit vorhandener Nachfrage und voraussichtlichem Verbraucherwachstum. Wir haben bereits eine Infrastruktur und Partnerschaften in diesem Teil der Welt, und auch der Großteil unserer Transportkapazitäten dient dem Export nach Europa. Gazprom ist ein aktiver Teilnehmer am Prozess der Liberalisierung der europäischen Märkte. Allerdings werden weder die Entwicklung im Handel mit Flüssigerdgas noch die Aktivierung auf dem Spotmarkt den Verkauf mittels Langzeitverträgen reduzieren. Diese Verträge sichern den wichtigsten Faktor, den der Gasmarkt braucht: stabile Versorgung und voraussagbare Preise. Die Nähe Russlands zu den europäischen Verbrauchern ist eine Tatsache. Es gibt keinen anderen, preiswerteren und wirtschaftlich effizienteren Weg des Gastransports als Pipelines. Was das Thema der Energiesicherheit angeht, ist Gazproms Management überzeugt, dass es keine Sicherheit für die Gasverbraucher geben kann ohne Sicherheit für die Gaserzeuger. Keine Formel für die Energiesicherheit kann lebensfähig sein, wenn sie keinen Ansporn bietet, diese Energie auch zu erzeugen.

Nicht protektionistische Barrieren, sondern die Zusammenarbeit und internationale Integration sind am besten für nationale und europäische Interessen, wenn es um die Gasversorgung geht. Gazprom hat beschlossen, seine Projekte über einen Vermögensaustausch zu gestalten, wie z.B. das Gasfeld Yuzhno-Russkoye, das zusammen mit deutschen Gesellschaften erschlossen wird. Das Projekt bezieht den ganzen Zyklus von der Produktion bis zum Endverbraucher mit ein und wird als ein Gemeinschaftsprojekt viel weiter reichen als die übliche Beziehung zwischen Käufer und Verkäufer. Das ist ein qualitativ neues Niveau in der Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern.

Es wurde jüngst viel über das Bedürfnis diskutiert, die Gaslieferungen für Europa zu diversifizieren. Für Gazprom bedeutet Diversifizierung Freiheit von der Instabilität in Transitgebieten und die Möglichkeit, die attraktivsten Märkte zu erschließen. Wichtig ist uns auch die Erweiterung unserer Produktpalette. Mit dem Bau der Nord-Europäischen Pipeline (NEGP) begann 2005 eine neue Phase unserer Exportstrategie. Die Pipeline wird eine direkte Verbindung zwischen dem Transportnetzwerk Gazproms zu den Netzwerken Europas herstellen und damit einen bedeutenden Beitrag zur Energiesicherung Europas leisten. Dieselbe Aufgabe der Gewährleistung sicherer Gaslieferungen in den europäischen Süden erfüllt die „Blue Stream“-Pipeline über die Türkei.

Häufig hören wir Murren über den hohen Gaspreis in Europa. Da sollte man sich fragen, wie der Gewinn auf dem langen Weg von der Produktion zum Endverbraucher verteilt wird. Für europäische Verbraucher macht den Hauptteil der Preise die Besteuerung aus. Vielleicht gibt es hier Raum, die Preise herabzusetzen. Wir haben alles, um unsere Vereinbarungen in Europa vollständig zu erfüllen und der Hauptlieferant von Gas in Europa zu bleiben. Daneben können wir auch unsere viel versprechenden Beziehungen im Asien-Pazifik-Raum entwickeln. Wie sich der Weltenergiemarkt formiert, wird bereits in den nächsten Monaten sichtbar sein. Wenn man die Ressourcen von Gazprom in Betracht zieht, können wir mit absoluter Zuversicht behaupten, dass die Gesellschaft über eine ausreichende Basis verfügt, um jedem Bedarf an Energie für die Entwicklung Europas (und der Welt) zu entsprechen.

Nur drei Länder dieser Welt sind in der Lage, langfristig Gas zu liefern: Russland, Iran und Katar. Wenn es um Gaslieferungen für die europäische Wirtschaftsentwicklung geht, gibt es keine realistische Alternative zu Russland. Die geographische Nähe ist unbestritten, und die Pipelines bleiben die wirtschaftlichste Art des Transports. Gazprom ist bereit, über jedes Problem  der Versorgung mit  russischem Gas offen zu diskutieren. Es ist unser Wunsch, das kolossale Potenzial für die Interessen unserer Partner und unserer Aktionäre zu verwenden – unter denen, wie wir alle wissen, der russische Staat die führende Rolle spielt.

ALEXEJ MILLER, geb. 1962 in St. Petersburg, war u.a. stellvertretender Energieminister der Russischen Förderation. Seit 2001 ist er Vorsitzender des Vorstands von OAO Gazprom.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 32‑35

Teilen