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01. Jan. 2006

Empire Europa

Nicht Amerika ist das Imperium von heute, sondern Europa

Das Imperium Romanum war kultureller Schmelztiegel, das British Empire etablierte globale Rechtsnormen. Und der Nationalstaat erwies sich keineswegs als höhere Entwicklungsstufe. Was wäre so schlecht an einem neuen Imperium? Nicht viel. Ein Imperium Americanum aber wird es nicht geben. Ohne es recht zu bemerken, schlüpft Europa in die vakante Rolle.

Im Tempel zu Jerusalem wird der Apostel Paulus als Verräter am Glauben fast gelyncht. Das Eingreifen einer römischen Kohorte rettet ihn vor der hysterischen Menge. Beim Verhör gibt sich der Zeltmacher, Rabbiner und Christ aus Tarsus als römischer Bürger zu erkennen: „Der Oberst kam zu Paulus und fragte ihn: Sag mir, bist du Römer? Er antwortete: Ja. Da antwortete der Oberst: Ich habe für dieses Bürgerrecht ein Vermögen bezahlt. Paulus sagte: Ich bin sogar als Römer geboren …“ Damit darf er weder gefoltert noch der religiösen Gerichtsbarkeit der Juden überantwortet werden. Der römische Statthalter haftet für sein Leben. Der Vorfall wird in der biblischen „Apostelgeschichte“ ausführlich berichtet, die eine faszinierende Innenansicht des Römischen Reiches aus ungewöhnlicher Perspektive bietet; nicht vom Zentrum der Macht, sondern von der Peripherie her.

Wahrscheinlich konnte nur einer wie Paulus, der als Römer geboren wurde, also von Kindesbeinen an mit der Vorstellung einer universalen Herrschaft, eines universellen Rechts, einer die Enge der Rassen und Religionen überwindenden, an jedem Ort und zu jeder Zeit gültigen Reichsbürgerschaft vertraut war, das Christentum aus einer jüdischen Sekte in eine Weltreligion verwandeln. Das Reich Roms nahm das Reich Gottes vorweg, die Pax Romana die Pax Christi. Imperium ist darum nie bloß Geschichte, sondern immer auch Utopie. Utopie der Herrschaft – Zaren, Schahs und Kaiser übernahmen und verballhornten den Titel „Cäsar“; aber auch Utopie der Freiheit: Reisefreiheit, Handelsfreiheit, Niederlassungsfreiheit, Freiheit der Religion. Das Römische Reich ist ein multikultureller Schmelztiegel, wo selbst im abgelegenen Galiläa ein jüdischer Zimmermannssohn mit Siedlern aus Griechenland und Legionären aus Gallien konfrontiert werden konnte. Von der Nordgrenze Englands bis nach Amman im heutigen Jordanien begegnet man den Zeugnissen römischer Zivilisation: Straßen, Bäder, Marktplätze, Theater, Amphitheater. Der römische Bürger war Weltbürger in einem Sinne, wie es erst wieder der Geschäftsreisende unserer Tage ist, der in jeder Metropole der globalisierten Welt ähnlich gestaltete Flughäfen, Mietwagenverleihfirmen, Hotels, Bars usw. findet und mit Plastikweltgeld bezahlen kann. Ob er sich freilich so sicher vor lokaler Willkür fühlen darf wie Paulus vor 2000 Jahren, ist fraglich.

Merkwürdigerweise haben weniger die Leistungen des Imperiums die Fantasie des Westens beflügelt als die Umstände seines Niedergangs. 1984 zählte der Historiker Alexander Demandt nicht weniger als 500 Theorien zum Untergang des Römischen Reiches auf. Dabei wäre es interessanter zu erfahren, wie das Reich angesichts der großen Entfernungen, schlechten Kommunika-tionsmittel und kulturellen Divergenzen ein halbes Jahrtausend überdauern konnte. Auch in der Populärkultur überwiegt die negative Darstellung, ob in Hollywood-Filmen (von „Quo Vadis?“ bis „Gladiator“) oder in den „Asterix“-Bänden. Kurz nachdem Frankreich sein eigenes Kolonialreich liquidieren musste und parallel zum Aufstieg des Gaullismus zur Staatsräson der Fünften Republik, wird bei Asterix das barbarische Leben der Gallier als Freiheitsidylle gefeiert, während Rom dekadent und dumm daherkommt. Nicht zufällig auch stammt eine der seltenen Rechtfertigungen Roms in der Populärkultur aus Großbritannien. Man erinnert sich an jene Szene im „Leben des Brian“, wo die Volksfront von Judäa (VVJ) einen Anschlag auf die Besatzer plant:

Reg:        Was haben sie (die Römer) je als Gegenleistung erbracht, frage ich! Rebell 2:  Das Aquädukt. Reg:        Oh. Jajaja. Das haben sie uns gegeben, das ist wahr. Rebell 3:  Und die sanitären Einrichtungen. Loretta:    Oh ja. Weißt Du noch, wie es früher in der Stadt stank? Reg:        Also gut ja, ich gebe zu, das Aquädukt und die sanitären Einrichtungen, das haben die Römer für uns getan. Matthias:  Und die schönen Straßen. Reg:        Ach ja, selbstverständlich. Das versteht sich ja von selbst, oder? Abgesehen von den sanitären Einrichtungen, dem Aquädukt, und den Straßen … Rebell 2:  Medizinische Versorgung … Rebell 5:  Schulwesen … Rebell 6:  Die öffentlichen Bäder … Loretta:    Und jede Frau kann es wagen, nachts die Straße zu überqueren. Francis:   Jaha. Die können Ordnung schaffen, denn wie es hier vorher ausgesehen hat, davon wollen wir ja gar nicht reden. Reg:        Also gut. Mal abgesehen von sanitären Einrichtungen, der Medizin, dem Schulwesen, Wein, der öffentlichen Ordnung, der Bewässerung, Straßen, der Wasseraufbereitung und den allgemeinen Krankenkassen, was, frage ich euch, haben die Römer je für uns getan? Rebell 2:  Den Frieden gebracht … Reg:        Aach! Frieden! Halt die Klappe.

Mit dieser Szene unterlief die Komikertruppe Monty Python 1979 die politisch korrekte konventionelle Weisheit im postkolonialen Großbritannien und sprach eine Wahrheit aus, die weder in der Publizistik noch im akademischen Bereich, im Schulunterricht oder in der Politik anerkannt werden durfte: Das British Empire hatte – wie damals Rom – ein gewaltiges zivilisatorisches Werk vollbracht. Riesige Räume und Millionen Menschen waren in kaum mehr als 200 Jahren der Willkür örtlicher Despoten und der Herrschaft von Krankheit und Unwissenheit entrissen und in die Moderne geführt worden. Das Weltreich schuf Welthandel und Weltmarkt, etablierte globale Rechtsnormen (wie das Verbot der Sklaverei, der Folter, der Witwenverbrennung, der Blutrache) und international verbindliche Geschäftspraktiken, vom Bank-, Kredit- und Versicherungswesen bis hin zur Buchhaltung, eine globale lingua franca und das Ideal transnationaler Freizügigkeit und gleicher Bürgerrechte für alle: die globalisierte Welt von heute ist das Produkt des Empire.

Weder hat ein halbes Jahrhundert Entkolonialisierung zu Demokratie und Frieden geführt – im Gegenteil, Despotie und Krieg sind in der nachkolonialen Welt, zumal in Afrika, eher die Regel als die Ausnahme. Noch hat sie Wohlstand gebracht. Ja, die Wohlstandsschere zwischen den ehemaligen Kolonien und ihren ehemaligen Herren hat sich seit der Dekolonisierung in fast allen Fällen weiter geöffnet. Als das afrikanische Sierra Leone 1965 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, war das Pro-Kopf-Einkommen Großbritanniens achtmal höher als das seiner ärmsten Kolonie. Jetzt ist es 200 Mal höher. (Vor kurzem kehrten übrigens britische Soldaten unter dem Jubel der Bevölkerung in das Land zurück, um einen blutigen Bürgerkrieg zu beenden, der eine der Ursachen jener Armut war.) Von allen ehemaligen Kolonien haben einzig Malaysia und Singapur ihre relative Situation gegenüber den ehedem imperialistischen Mächten verbessern können; Indien steht wohl kurz davor.

Lob des Imperiums

Wir haben uns zwar daran gewöhnt, die Geschichte als evolutionären Prozess zu denken, in dessen Verlauf der Nationalstaat das Imperium ablöst; es spricht aber wenig dafür, darin einen Fortschritt zu erblicken. Sicher war der Nationalstaat, der sich im spätmittelalterlichen Europa herausbildete, dem chaotischen Zustand vorzuziehen, in dem sich adelige Warlords wechselseitig bekriegten. Doch die Geschichte der Nationalstaaten ist mit wenigen Ausnahmen weniger erbaulich als die der großen Imperien; Intoleranz im Inneren und Aggression nach außen sind die Hauptkennzeichen politischer Gebilde, die sich auf Homogenität der Rasse, Kultur und vor allem Religion gegründet haben. Im Übrigen war es mit der Homogenität der Nationalstaaten nie besonders weit her: Beinahe jedes Land beherbergte schon vor den Völkerwanderungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Minderheiten, die ethnisch, religiös oder kulturell von der dominanten Kultur abwichen. Beinahe jeder Nationalstaat ist ein multiethnisches, multikulturelles Imperium im Kleinen; aber da die Ideologie der Nation nach einer Definition durch Rasse, Sprache, Kultur, Religion und Geschichte strebt, ist der Nationalstaat tendenziell intolerant – bis hin zum kulturellen und physischen Genozid. Die Auflösung der Reiche ist immer verbunden mit Orgien der Gewalt, man denke nur an den Völkermord an den Armeniern in den letzten Tagen des Ottomanischen Reiches, an die Massaker bei der Trennung von Indien und Pakistan, an das Wüten von Serben, Kroaten, Albanern und Bosniern bei der Auflösung des sozialistischen Mini-Imperiums Jugoslawien. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Es ist so lange nicht her, dass die internationale Gemeinschaft der natürlichen Intoleranz der Nationen durch die Legitimation der ethnischen Säuberung beizukommen suchte. Man denke an den vom Völkerbund organisierten „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechenland und der Türkei oder an die von den Vereinten Nationen beschlossene „Westverschiebung“ Polens, die natürlich die stillschweigende Billigung der Vertreibung der Deutschen aus ihren Ostgebieten voraussetzte.

Wahrscheinlich ist – nach Kommunismus und Nationalsozialismus – das von US-Präsident Woodrow Wilson 1917 proklamierte „nationale Selbstbestimmungsrecht“ die schädlichste Idee, die das an schädlichen Ideen so überreiche 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Wilsons Kantianische Utopie eines Reigens demokratischer Republiken, die im Völkerbund den ewigen Frieden verwalten, war gut gemeint, aber geschichtsblind und verlogen. Die USA selbst hatten ein halbes Jahrhundert zuvor einen gewaltigen Bürgerkrieg geführt, um klarzustellen, dass es kein Selbstbestimmungsrecht einzelner Staaten oder Staatengruppen der amerikanischen Union geben könne. Und während in Amerika völlig zu Recht der Anspruch jeder Minderheit, sich nach eigenem Gutdünken als Staat zu konstituieren, der Lebensfähigkeit der Union untergeordnet wurde, zog man in Versailles das Prinzip der Selbstbestimmung heran, um das alles in allem erfolgreiche, friedliche, multikulturelle Habsburger Reich in lauter gehässige Republiklein zu zerlegen. Gleichzeitig verbot man den Deutschen und Österreichern die Vereinigung zur demokratischen Republik. (Nachdem Hitler Österreich heim ins Reich geholt hatte, wurde ihm aus lauter schlechtem Gewissen und mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen auch noch die Zerlegung der Tschechoslowakei gestattet.) Auch die Vereinten Nationen, gegründet vom Wilson-Bewunderer Franklin D. Roosevelt, beruhen auf dem Trugschluss, die Nation sei so etwas wie eine natürliche Person, die sakrosankte kleinste Einheit der internationalen Gemeinschaft. Freilich ist seit dem 11. September 2001 hier ein langsames Umdenken im Gange. Die Nation hat ihren Nimbus verloren; der einzelne Bürger mit seinen Menschenrechten tritt wieder ins Blickfeld. Hinzu kommt: In dem Maße, wie immer mehr „Failed States“ oder umstrittene Provinzen unter UN-Kuratel gestellt werden, entwickeln sich die Vereinten Nationen zu einem quasi-imperialen Gebilde, einer Art Treuhand-Imperium für die Großmächte. Dies bringt zwar, wie die Skandale um Kinderprostitution in afrikanischen UN-Lagern, Korruption beim Öl-für-Lebensmittel-Programm, Versagen bei humanitären Katastrophen wie dem Erdbeben in Kaschmir und beim Schutz vor Terror wie in Srebrenica und Ruanda zeigen, ganz eigene Probleme mit sich. Doch es sind eben die Probleme einer imperialistischen Macht.

Möglicherweise hängt es mit dieser Metamorphose der Vereinten Nationen zusammen, dass sich jetzt, vor allem mit Neill Ferguson in Großbritannien und Herfried Münkler in Deutschland, einige Akademiker einen neuen, nicht einfach denunziatorischen Blick auf das Projekt Imperium erlauben; wobei der radikal querdenkende Ferguson eine erheblich positivere Sichtweise hat als der vorsichtig im Mainstream manövrierende Münkler. Allerdings nehmen beide Historiker nicht die UN ins Visier. Beide gehen davon aus, dass die Welt heute von einem Imperium namens USA beherrscht wird und man sich mit dieser Tatsache arrangieren müsse.

In seinem Buch „Das verleugnete Imperium“ kritisiert Ferguson die USA, weil sie sich vor der imperialen Verantwortung drücken, die schon Rudyard Kipling in seinem berühmten Gedicht von der „Bürde des Weißen Mannes“ formulierte. Ihm sind die USA also nicht imperial genug: „Auf Kredit zu konsumieren, nur widerstrebend an die Front zu gehen, rasch das Interesse an langwierigen Unternehmungen zu verlieren: All das ergibt ein Bild von Amerika als einem trägen Koloss – oder, rundheraus gesagt, eines strategischen Sesselhockers.“ Zwischen 1991 und 2001 habe sich der Anteil der fettleibigen Amerikaner an der Gesamtbevölkerung von 12 auf 21 Prozent fast verdoppelt: „Heute“, so Ferguson zornig, „scheint sich die Bürde des weißen Mannes an seinen Hüften zu befinden.“ Münkler hingegen lotet in seinem Buch „Imperien“ (2005) eher die Möglichkeiten aus, die allzu imperial agierenden USA einzuhegen und konstruiert getreu der Hauptlinie der deutschen Geschichtsschreibung seit der Romantik einen Gegensatz zwischen Nationalstaat und Imperium, bei dem der Nationalstaat als per se friedlich erscheint: „Staaten sind in eine Ordnung eingebunden, die sie gemeinsam mit anderen Staaten geschaffen haben und über die sie nicht allein verfügen. Imperien hingegen verstehen sich als Schöpfer und Garanten einer Ordnung, die letztlich von ihnen abhängt und die sie gegen den Einbruch des Chaos verteidigen müssen. Der Blick in die Geschichte der Imperien zeigt, dass sprachliche Wendungen wie die von der ‚Achse des Bösen‘ oder den ‚Vorposten der Tyrannei‘ nichts Neues und Besonderes sind. Während Staaten an den Grenzen anderer Staaten Halt machen und es ihnen selbst überlassen, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln, mischen sich Imperien in die Verhältnisse anderer ein, um ihrer Mission gerecht zu werden.“ Hier soll nur einerseits angemerkt werden, wie Münkler politische Analyse durch Sprachkritik ersetzt (sind die von US-Außenministerin Rice gemeinten Staaten Nordkorea, Syrien und Simbabwe Tyranneien oder nicht?); andererseits gefragt werden, wie ein Deutscher und noch dazu Historiker ohne das Gesicht zu verziehen behaupten kann, Staaten würden „an den Grenzen anderer Staaten Halt machen“. Allenfalls, möchte man bei Betrachtung der europäischen Geschichte meinen, vorübergehend: auf dem Vormarsch oder dem Rückzug. Wichtiger ist die Feststellung, dass sowohl der Imperialist Ferguson als auch der Nationalist Münkler von einer falschen Voraussetzung ausgehen. Wenn das Wort irgendeinen Sinn haben soll außer „sehr großer und mächtiger Staat“, dann ist Amerika kein Imperium. Russland hingegen schon.

Wahlen erzwingen und sich dann zurückziehen

Der britische Sozialist H.G. Wells hatte vollkommen Recht, als er 1921 feststellte, die USA seien „eine völlig neue historische Erscheinung“, für die uns „ein Begriff fehlt“. Explizit wies er den Vergleich mit früheren oder gegenwärtigen Imperien zurück: „Das waren Assoziationen divergierender Völker; es hat aber noch nie ein einheitliches Volk dieser Größenordnung gegeben. (...) Wir nennen die Vereinigten Staaten ein Land, so wie wir Frankreich oder Holland als Land bezeichnen. Aber sie sind so verschieden wie ein Automobil und ein Pferdedroschke.“ An anderer Stelle spricht Wells von den USA als der „ersten der großen modernen Nationen“. Der ersten sind weitere gefolgt: Kanada und Australien sind vom Typus und vom Potenzial her den USA ähnlich und könnten mit Amerika, Neuseeland und Großbritannien als „Anglosphäre“ in Zukunft den wichtigsten Pol der „anglobalisierten“ kapitalistisch-demokratischen Welt bilden; Brasilien, Indien und Indonesien sind große Demokratien, die ebenfalls eine weltpolitische Rolle spielen könnten; China und Russland sind Imperien im Übergang; es ist noch völlig unklar, ob aus ihnen „moderne Nationen“ oder aggressive Gegenspieler der Demokra-tien im Kampf um die Zukunft der Erde werden.

Tatsächlich entstammen gerade die Verhaltensweisen, die Ferguson und Münkler von entgegengesetzten Standpunkten aus kritisieren, eben der Tatsache, dass die USA weder ein Imperium sein können noch wollen. Das Land ist so groß, dass bewaffneter Isolationismus immer eine Möglichkeit und eine Versuchung ist; die Nation politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich derart individualistisch verfasst, dass der konsensuale nationale Wille, der zur längerfristigen Aufrechterhaltung einer weltweiten imperialen Präsenz notwendig wäre, schlicht nicht herzustellen ist. Die Weltordnung, die dieses neuartige Gebilde anstrebt, ist eben nicht eine „Assoziation divergierender Völker“, für deren Schicksal in einer Hobbes’schen Welt die Militärs in Washington und die Steuerzahler im Mittleren Westen verantwortlich wären; sondern eben die Kantianische Vision einer Assoziation freier Republiken, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen können. Schon 1913 brachte US-Botschafter Walter Page im Gespräch mit dem britischen Außenminister Edward Grey den Unterschied in der Herangehensweise auf den Punkt. Es ging um Mexiko, aber man darf getrost jedes andere Land der Erde als gemeint betrachten.

Grey:  Angenommen, Sie müssen eingreifen, was dann? Page:Dann zwingen wir sie zu wählen und mit ihrer Entscheidung zu leben. Grey:  Aber angenommen, sie wollen nicht so leben? Page:Dann marschieren wir ein und lassen sie noch einmal wählen. Grey:  Und das halten Sie 200 Jahre durch? Page:Ja. Die Vereinigten Staaten werden noch 200 Jahre da sein, und sie sind für diesen kleinen Zeitraum durchaus in der Lage, weiterhin Menschen zu erschießen, bis sie lernen, zu wählen und sich selbst zu regieren.

Amerika ist zu demokratisch, um selbst Imperium zu werden – das ist es, was Ferguson frustriert. Amerika ist zu groß, um es irgendwie verlockend zu finden, unwiderruflich Souveränität abzugeben an eine imperiale Holding-Gesellschaft wie die Vereinten Nationen – das ist es, was Münkler moniert. Aber die Kritik an Amerikas Unilateralismus ist nicht nur ungerecht (die USA haben unter Bill Clinton ebenso wie unter George Bush Vater und Sohn zur Lösung internationaler Konfliktfälle immer wieder den Weg über die UN gesucht), sondern auch naiv, zumal Amerikas imperialistische Gegenspieler China und Russland ebenso wie diverse arabische, afrikanische, europäische und zentralasiatische Diktatoren ein völlig instrumentelles Verhältnis zur Weltorganisation hatten und haben. Als Europa gegen einen seiner eigenen Diktatoren – den Serben Slobodan Milosevic – endlich zur Tat schreiten wollte und dafür die Legitimation der UN nicht bekam, weil MiloševiT Klient Moskaus war, entdeckten auch die Europäer, dass die NATO als Bund demokratischer Staaten mindestens ebenso zur Durchsetzung der Menschenrechte legitimiert sei wie die Vereinten Nationen. Das Prinzip der „Koalition der Willigen“ wurde nicht von George W. Bush erfunden, sondern von den Europäern mit Bill Clinton.

Die Balkan-Kriege und ihre Folgen verdeutlichen am besten, worin die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Welt besteht. Europa tritt auf dem Balkan als Erbe des Mini-Imperiums Jugoslawien auf, das seinerseits Habsburger und Ottomanen beerbte. De facto ist die EU nur die letzte der imperialen Mächte, die den Balkan verwalten, einen Teil Europas, in dem der Nationalstaat nur als künstliches Konstrukt existieren kann; dessen natürliche Existenzform die eines imperial verwalteten Flickenteppichs der Nationalitäten und Konfessionen ist. Wenn europäische Politiker behaupten, dass etwa das Problem des Protektorats Kosovo nur „mit einer europäischen Perspektive“ zu lösen sei, also indem Serbien und Albanien und das Kosovo Mitglieder der Europäischen Union werden, drücken sie eben diese Einsicht aus; Ähnliches gilt für das Konstrukt Bosnien. Europa tritt aber nicht nur auf dem Balkan ein imperiales Erbe an und als imperiale Macht auf, sondern auch in Osteuropa nach dem Rückzug der russischen Besatzer und tenden-ziell rund um das Schwarze Meer, wo nach Rumänien und Bulgarien nun die Türkei und die Ukraine, Moldawien und Georgien unter die Fittiche der Union und ihres militärischen Armes, der NATO, drängen.

Das Problem der EU ist aber, dass weder ihre Bürger noch ein Großteil ihrer Politiker sich dieser imperialen Realität gestellt haben. Das spiegelt sich in Diskussionen um „Erweiterung versus Vertiefung“ oder in Warnungen vor einer „Überforderung“ der Union durch die Aufnahme neuer Mitglieder. Die Forderung nach „Vertiefung“ der Union ist ebenso wie das Konzept „Kerneu-ropa“ von der utopischen Vorstellung getrieben, aus Europa ebenfalls eine „große moderne Nation“ wie Amerika zu machen, die „Vereinigten Staaten von Europa“. Das Scheitern des Verfassungsreferendums in zwei Ländern des anvisierten Kerneuropas hat gezeigt, dass die Bürger früher als die Politiker begriffen haben, dass dies weder möglich noch wünschenswert ist. Tony Blair immerhin kam Europas Bestimmung nahe, als er sagte, es gehe darum, „eine Supermacht zu werden, nicht ein Superstaat“. Statt verdruckst davon zu reden, Europa sei irgendetwas zwischen Staatenbund und Bundesstaat, sollten sich die Europäer eingestehen, dass sie ein Imperium sind. Ein Imperium neuen Typs zwar, aber doch ein Imperium. Man könnte einwenden, dieses Imperium habe kein Zentrum und keine feste Struktur. Aber wenn man etwa das streng zentralisierte zaristische oder bolschewistische Reich mit dem britischen Weltreich vergleicht, das im Kern konsensual funktionierte und sich in dem Augenblick – friedlich – auflöste, als die Kolonien zu Nationen wurden, sieht man, dass Imperien ganz verschieden strukturiert werden können. Österreich-Ungarn und Frankreich-Algerien bieten wieder andere Modelle, andere Verhältnisse von Zentrum und Peripherie.

Auch ließe sich einwenden, dass die Grundeinheit der EU eben der Nationalstaat sei; aber das gilt spätestens dann nicht mehr, wenn auf dem Balkan Territorien gerade deshalb in die EU aufgenommen werden, weil sie keine lebensfähigen und friedlich mit ihren Nachbarn lebenden Nationalstaaten bilden können. Es zeichnen sich die Konturen einer EU ab, die aus Kernstaaten und nicht völlig gleichberechtigten peripheren Staaten (Türkei, Georgien, Israel) sowie dazwischen liegenden, nur formal als Staat verfassten Territorien bestehen könnte. Entscheidend ist nicht die Struktur, sondern die Funktion.

Man muss nur die Vorgehensweise der USA in dem von ihnen militärisch besiegten und besetzten Irak mit der Art vergleichen, wie die EU das nominell selbständige Nachbarland Türkei behandelt. Sobald der Irak halbwegs in der Lage ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, werden sich die Amerikaner zurückziehen. Zurückbleiben wird eine für arabische Verhältnisse demokratische, föderale islamische Republik; aber davon, dass die USA eine Demokratie nach ihrem Bilde exportieren würden, wie Kritiker meinen, kann keine Rede sein – und die Zukunft des Landes ist offen.

Verhandlungen zum Beitritt ins Imperium

Die Türkei hingegen wird in den nächsten zehn bis fünfzehn Jahren 80 000 Seiten des „aquis communautaire“ abarbeiten, die minutiös alle Aspekte des politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Lebens nach Brüsseler Vorstellungen regeln, und nachweisen müssen, dass diese Regelungen auch ebenso minutiös umgesetzt worden sind – bevor das Land überhaupt als Mitglied der EU aufgenommen wird! Die gleiche Homogenisierungsleistung mussten die von Russland befreiten Länder erbringen. Deren Anpassungsprozess nahm ebenfalls 15 Jahre in Anspruch und führte im Innern zu gewaltigen sozialen Verwerfungen. So viel Anpassung an ihre Leitkultur verlangten nicht einmal Römer und Briten. In der Tat besteht das europäische Imperium aus einem Kern der gleichberechtigten Mitgliedsländer, vergleichbar den ersten Provinzen, die sich freiwillig der römischen Republik anschlossen oder den englischsprechenden Dominions des britischen Empire, und einer sich ausweitenden Peripherie der Aspiranten, denen das europäische Bürgerrecht noch vorenthalten – jedoch mit der Aussicht auf Teilhabe an Europas Prosperität und Sicherheit die Anpassung an Europas Rechtsordnung abverlangt wird.

Europa wird seine eigene Bestimmung aber nicht erkennen, solange es sich nicht bewusst und selbstbewusst in die Reihe der Imperien stellt und deren zivilisatorische Leistung anerkennt. Denn sonst bleibt es in Diskussionen um die eigene „Identität“ und die eigenen Grenzen gefangen, statt am Beispiel des britischen Weltreichs zu erkennen, dass es für Imperien im Gegensatz zu Nationen keine natürlichen, selbstgesetzten Grenzen der Ausdehnung gibt. Eine demokratisch verfasste Nation wie die USA findet ihre Grenzen eben dort, wo aus ihr ein Imperium würde – das ist letztlich der Grund, weshalb sie nie südlich des Rio Grande expandierte. Ein Imperium hingegen findet seine Grenzen dort, wo sie die Interessen anderer Imperien oder starker Nationen berühren. Europas Grenzen dürften früh genug von anderen gesetzt werden. Aber es ist nicht undenkbar, dass in 50 Jahren nicht nur das Schwarze Meer, sondern auch das Mittelmeer zu europäischen Binnenmeeren geworden sein könnten.

Angesichts dieser Perspektive ist es mehr als schade, dass Herfried Münkler erst auf den letzten Seiten seines Buches auf die „imperiale Herausforderung Europas“ zu sprechen kommt; und dass er angesichts dieser Herausforderung in den üblichen deutschen antiimperialistischen Reflex verfällt: „Hier stehen die Europäer vor der – paradoxen – Gefahr, imperial überdehnt zu werden, ohne selbst ein Imperium zu sein.“ Ja, wenn Europa kein Imperium neuen Typs wäre, sondern so etwas wie eine übernationale Nation und ein christlich-abendländisches Identitätsprojekt, stellte die Ausdehnung bis an die Grenzen des russischen Machtbereichs und der arabischen Republiken in der Tat eine Überdehnung dar. Wenn aber Europa seine imperiale Bestimmung realisiert, so ist eben diese Ausdehnung einerseits schlicht und einfach notwendige Bedingung seiner Sicherheit, andererseits ein zivilisatorischer Auftrag, der Europas müde Eliten neu beleben könnte.

Das imperiale Projekt als Modernisierungsauftrag untergräbt alle reaktionären Träume von der EU als Trutzburg eines christlichen Abendlands oder seiner laizistischen Entsprechung, des paternalistischen Sozialstaats. Es ist das Gegenteil jener Enge, die in der bedrohlichen Phrase von der „immer engeren Union“ enthalten ist. Vielmehr erscheint das im Wettlauf mit Russland und China expandierende, mit der Anglosphäre strategisch liierte Europa als Raum sich öffnender Möglichkeiten, in dem ein einheitlicher Markt und gemeinsame Sicherheit die Grundlage individueller, unternehmerischer, regionaler und nationaler Freiheit bilden.

ALAN POSENER, geb.1949, ist Kommentarchef der Welt am Sonntag.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 60 - 67.

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