Einsatz verpflichtet
Bewährung auf Leben und Tod: Unsere Soldaten brauchen den Rückhalt in der Bevölkerung
Mit dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Auftrag des Heeres erweitert – aus dem „Heer für den Einsatz“ ist ein „Heer im Einsatz“ geworden. Ein Wandel, der die Soldaten und ihre Familien vor größte Herausforderungen stellt. Und vor allem eins verlangt: Vertrauen in die Richtigkeit des übertragenen Mandats.
Bis vor zwei Jahrzehnten war die Antwort auf die Frage nach dem Erfolg eines militärischen Einsatzes klar: der Sieg in einem Krieg, geführt durch reguläre Streitkräfte, der Gewinn einer weitgehend symmetrisch angelegten Auseinandersetzung. Sicherheit war gleichgesetzt mit Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit zum Erhalt der territorialen Integrität der Bundesrepublik Deutschland. Darauf war das Deutsche Heer konsequent ausgerichtet. Der sicherheitspolitische Paradigmenwechsel hat diese Gleichung in nicht vorhersehbarer Weise verändert. An die Stelle symmetrischer Kriegsgefahr traten Zug um Zug neue Risiken und Bedrohungen: multiethnische Konflikte, religiös motivierter Extremismus, das Auseinanderbrechen ganzer Regionen, Entstaatlichung von Gewalt, grenzüberschreitender oder internationaler Terrorismus, aber auch Proliferation von Massenvernichtungswaffen bis hin zur Gefahr verdeckter nuklearer Aufrüstung. Die Verteidigungspolitischen Richtlinien, die Konzeption der Bundeswehr und das Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik Deutschlands tragen diesen neuen Herausforderungen Rechnung – einhergehend mit der klaren Priorität für Einsätze im Rahmen internationalen Konflikt- und Krisenmanagements, also der Befähigung des Deutschen Heeres zu militärischen Operationen im Kontinuum von „major combat operations“ über Einsätze zum Nation Building bis hin zur humanitären Hilfe. Weltweit und jederzeit.
Seit mehr als zehn Jahren ist das Deutsche Heer Träger von Einsätzen im Rahmen unseres Beitrags zur internationalen Krisenbewältigung und Konfliktverhütung. Bei ihrer Auftragserfüllung sind die Soldaten nicht nur durch Artilleriegranaten oder Handwaffenbeschuss, sondern auch durch Selbstmordattentäter und Sprengfallen bedroht. Die Diskussion, ob es sich bei einem solchen Einsatz um einen Kampfeinsatz handelt oder nicht, ist dann kritisch zu hinterfragen, wenn sie etwa in Afghanistan auf ihrer Patrouille mit einer Panzerfaust beschossen werden, den Angriff abwehren und dem Gegner nachsetzen. Für die Soldaten ist das ohne Zweifel Kampf. Vor dem Hintergrund der gegenüber NATO und EU eingegangenen internationalen Verpflichtungen, schnell verfügbare Truppenteile bereitzustellen, können wir zudem nicht ausschließen, dass Einheiten und Verbände des Heeres künftig in einem größeren multinationalen Verband kämpfen müssen, um Sicherheit herzustellen oder zu erhalten, um Frieden zu erzwingen oder zu sichern. Für diesen „worst case“ gilt es, vorbereitet zu sein – organisatorisch-strukturell, personell und materiell, vor allem aber auch mental, d.h. in unserem Selbstverständnis. Gerade in Zeiten großer Veränderungen ist ein festes und verbindliches Koordinatensystem unverzichtbar. Das Selbstverständnis des Heeres als „Heer im Einsatz“ gibt deshalb Antworten auf Fragen nach unserer Identität, nach dem Anspruch an uns selbst wie auch nach unseren Verpflichtungen. Es verdeutlicht Aufgaben, Rolle und Bedeutung des Heeres und ist zugleich moralisch-ethisches Fundament und identitätsstiftender Anspruch.
Heute weiß jeder Heeressoldat: Die Wahrscheinlichkeit, in einen gefährlichen Einsatz gehen zu müssen, ist höher als noch zu Zeiten des Kalten Krieges. Wichtiges Merkmal unseres Selbstverständnisses ist deshalb die Orientierung an unserem umfassenden Einsatz- und Aufgabenspektrum als Kern der Landstreitkräfte und damit als Kompetenzträger von Landoperationen sowie Operationen im bodennahen Luftraum. Die Befähigung und die Bereitschaft auch zum Kampf ist deshalb die verbindende Klammer. Für Soldaten geht es im Einsatz um Leben und Tod. Das ist die Konsequenz, der sich Staatsbürger in und ohne Uniform bewusst sein müssen.
Dazu gehört auch die Erkenntnis, dass abstrakte Begründungen oder finanzielle Anreize nicht ausreichen, wenn mit dem Einsatz Verwundung oder gar Tod verbunden sein kann. Dafür braucht es mehr: Vertrauen in die Richtigkeit des übertragenen Mandats, Vertrauen insbesondere in den Rückhalt der Gesellschaft, in Vorgesetzte und Kameraden wie in das eigene Können und die Leistungsfähigkeit der eigenen Ausrüstung. Nicht zuletzt und gerade die emotionale Überzeugung, für das eigene Land einzutreten – oder in Anlehnung an Max Weber auch die Leidenschaft im Sinne der Hingabe an eine Sache – begründet die Motivation und die Bereitschaft, zur Durchsetzung des Auftrags bewusst das eigene Leben einzusetzen. Ohne emotionale Bindung zwischen der Gesellschaft und ihren Soldaten ist dies nur schwer vorstellbar.
Zwar wird die Bundeswehr als Institution in Umfragen hinsichtlich der Qualität ihrer Auftragserfüllung regelmäßig sehr hoch bewertet und auch die Zustimmung zum Konzept „Sicherheit und Wiederaufbau“ in Afghanistan ist hoch. In der konkreten Auseinandersetzung mit den Konsequenzen und Folgen des Einsatzes steht unsere Gesellschaft hingegen noch am Anfang. Im Interesse unserer Soldaten ist es jedoch unerlässlich, vor der nächsten Bewährungsprobe darüber zu diskutieren. Das sind wir den Soldaten im Einsatz, aber auch ihren Familien als Teil der deutschen Gesellschaft schuldig. Der Einsatz von Soldaten einer Parlamentsarmee ist von gesellschaftspolitischer Bedeutung für alle Staatsbürger, in und ohne Uniform.
Fähigkeiten des Heeres
Die Lage in den heutigen Krisen- und Konfliktregionen der Welt ähnelt in vielerlei Hinsicht der Situation in Europa am Ende des 30-jährigen Krieges. Unter diesen Bedingungen hat Erfolg im Einsatz für das Deutsche Heer heute zwei Dimensionen: Friedenserzwingung, relativ kurz und intensiv, sowie lang andauerndes Nation Building. Hierzu sind geeignete militärische Kräfte erforderlich, die bruchfrei das gesamte Einsatz- und Aufgabenspektrum abdecken können. Das Deutsche Heer verfügt dazu über ein „single set of forces“ – Einsatzkräfte –, aus dem heraus nach Auftrag und Einsatzspektrum differenzierte Kräfte mit jeweils spezifischen Fähigkeitsprofilen modular zusammengestellt werden können. Das sind zum einen Kräfte, die durch ihre Fähigkeiten besonders geeignet sind, Operationen zur Friedenserzwingung im multinationalen Zusammenwirken und unter den Bedingungen weitgehend vernetzter Operationsführung gegen einen vorwiegend militärisch organisierten Gegner zu führen; zum anderen sind das Verbände und Einheiten zur Durchführung multinationaler Operationen längerer Dauer (im Regelfall im niedrigen und mittleren Intensitätsspektrum friedensstabilisierender Maßnahmen), die besonders zum Halten eines sicheren Umfelds befähigt sind. Diese Kräfte sind derzeit im Norden -Afghanistans im Einsatz.
System 4-5-3
Erfolg im Einsatz erfordert unter diesen Bedingungen ein ganzes Bündel von Fähigkeiten, sowohl individuell als auch institutionell. Das schließt den Einsatz der dafür notwendigen Ausrüstung mit ein. „Fähigkeitsorientiertes Kräftedispositiv“ lautet dafür der Fachausdruck. Die Blaupause zum Aufbau dieser Kräftedispositive bildet im Heer das „System 4-5-3“. Dabei geht es im Wesentlichen darum, vier individuelle und vier institutionelle Fähigkeiten in fünf verschiedenen und auf den spezifischen Einsatz zugeschnittenen Fähigkeitspaketen abzubilden sowie – den finanziellen Rahmenbedingungen geschuldet – mit dem notwendigen Material in drei Schritten auf der Zeitachse zu hinterlegen. Um im Einsatz bestehen zu können, muss jeder Heeressoldat über vier individuelle Fähigkeiten verfügen: Er muss zunächst in der Lage sein, das ihm übertragene Mandat auch gegen Widerstände durchzusetzen und zu kämpfen, wenn es notwendig ist. Daneben muss er über die Fähigkeit verfügen, ihm anvertraute Menschen und Güter zu schützen, zwischen Konfliktparteien zu vermitteln und in Notlagen zu helfen. Das alles geschieht, wenn erforderlich, in einem uns geographisch, klimatisch und kulturell nicht vertrauten Umfeld. Institutionell muss das Heer mit seinen Verbänden und Einheiten die vier Fähigkeiten Schutz, Aufklärung, Führung und Wirkung zur Anwendung bringen können. Das schließt Mobilität und Durchhaltefähigkeit mit ein. Mit Blick auf die Ausrüstung unterscheidet das Heer beim Schutz in Individualschutz, Schutz von Feldlagern und Einrichtungen, Fahrzeugschutz und die sichere Identifizierung.
Neben Schutz kommt im Einsatz dem Verbund aus „Aufklärung, Führung und Wirkung“ hohe Bedeutung zu. Nur ein klares Lagebild über eigene und gegnerische Kräfte und die Echtzeit-Integration dieser Informationen in den eigenen Führungsprozess schaffen die Voraussetzung für zeitgerechte und präzise Wirkung auf den Gegner. Schließlich: Der Auftrag, das übertragene Mandat zu erfüllen, schließt auch dessen gewaltsame Durchsetzung mit ein. Während die Beschaffung der notwendigen Fahrzeuge und Systeme für Schutz, Aufklärung und Führung in unserer Gesellschaft weitestgehend unumstritten sind, werden Systeme zur Wirkung – dazu gehören Kampfpanzer (auch mit Minenschutz), der Unterstützungshubschrauber TIGER mit Lenkraketen als Hauptbewaffnung, die Panzerhaubitze 2000 sowie das neue Waffensystem PUMA und der Raketenwerfer MARS – häufig mit dem Etikett „Waffen des Kalten Krieges“ versehen. Die heutige Einsatzrealität zeichnet jedoch ein anderes Bild – diese Waffensysteme werden gerade auch in Stabilisierungsoperationen benötigt, wie der Blick auf den Süden Afghanistans zeigt.
Zur Erfüllung des im Weißbuch der Bundesregierung festgelegten umfassenden Einsatz- und Aufgabenspektrums unterscheidet das Heer fünf verschiedene Fähigkeitspakete:
- für Kriegs- und Kampfeinsätze,
- für Stabilisierungseinsätze (wie z.B. ISAF, KFOR),
- für Einsätze von Hubschraubern im Zusammenwirken mit speziell dafür ausgebildeter Infanterie,
- für Spezielle Operationen (wie die Evakuierung deutscher Staatsbürger),
- zur raschen Kräfteprojektion im NATO-/EU-Kontext (z.B. deutschfranzösische Brigade).
In diesen Fähigkeitspaketen werden die genannten vier institutionellen Fähigkeiten je nach Auftrag unterschiedlich gewichtet. Mit Blick auf deren Einsetzbarkeit kommt es dabei entscheidend auf einen gleichmäßigen, aber umfassenden Aufbau an. Dies bedeutet eine gleichmäßige und umfassende Beschaffung der dafür notwendigen Ausrüstung. Dies ist mit den derzeit vorhandenen finanziellen Mitteln nicht auf einmal möglich – aus diesem Grund muss die materielle Hinterlegung der Fähigkeiten im Heer und damit die Beschaffung der dazu notwendigen Ausrüstung in drei Schritte, Anfangs-, Grund- und Zielausstattung, priorisiert werden. Mit der Anfangsausstattung sollen konkret etwa zehn Gefechtsverbände bzw. Task Forces, d.h. knapp 30 Prozent der Einsatzverbände des Heeres, bis 2015 mit modernem Material ausgestattet werden. Damit könnte der heutigen Einsatzrealität – hochgerechnet auf das Jahr 2015 – Rechnung getragen werden. Dies erfordert dann allerdings noch immer aufwendige ablauforganisatorische Maßnahmen, die der Zielsetzung entgegenstehen, möglichst geschlossene Einheiten und Verbände in den Einsatz zu bringen. Daher ist eine Grundausstattung in der Größenordnung von fünf Brigadeäquivalenten als belastbares Minimum für den Einsatz anzusehen – damit können entsprechende Maßnahmen begrenzt und eine klare Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Ressourcen vorgenommen werden. Dies werden wir in großen Teilen jedoch erst nach 2015 erreichen können. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass langfristig jeder Truppenteil in der Zielausstattung über seine gesamte – und moderne – Ausrüstung verfügen muss.
Insgesamt besteht bei der Materialbeschaffung für das Heer noch Handlungsbedarf, da die Mengengerüste neuer einsatzwichtiger Ausrüstung derzeit unzureichend sind. Die Einsatzrealität einerseits wie auch die Erfahrungen, die alliierte Partner in den Einsätzen gewonnen haben, bestätigen hingegen die Richtigkeit und den Weitblick der Ausrüstungsplanung des Heeres. Denn die damit aufzubauenden Fähigkeiten sind konsequent auf die Erfordernisse der Aufgaben von heute und morgen ausgerichtet. Beleg dafür ist das nicht unerhebliche Interesse befreundeter Nationen nach geschützten Fahrzeugen, wie z.B. dem DINGO, der Panzerhaubitze 2000 oder wie derzeit nach dem minengeschützten Kampfpanzer LEOPARD 2 A 6. Ferner werden neues Gerät und neue Fähigkeiten, sobald verfügbar, unverzüglich in den Einsatz gebracht. Denn es ist Teil unserer Verantwortung, den Soldaten im Einsatz nur das bestmögliche Material zur Verfügung zu stellen. Und zum anderen können so von Beginn an wertvolle Erfahrungen gewonnen werden.
Perspektiven
Parallel zu seinen Einsätzen gestaltet das Heer derzeit den größten Umbau seit seiner Aufstellung, dessen Ausmaß in unserer Gesellschaft nur selten entsprechende Aufmerksamkeit erfährt. Das gilt vor allem für die damit verbundenen Leistungen der Truppe und ausdrücklich auch für die enormen Belastungen der Familien. Innerhalb von drei Jahren sind die Anzahl der Verbände im Heer von 123 auf 77 zu reduzieren sowie zahlreiche Stäbe und Kommandobehörden aufzulösen. Davon sind mehr als 40 000 Soldaten mit ihren Familien betroffen. Strukturell ist dieser Umbau bis auf wenige Ausnahmen Ende 2008, personell bis 2012 weitgehend abgeschlossen. Zeitgleich zum strukturellen Umbau gilt es, die Ausrüstungsplanung des Heeres ganz konkret in die Beschaffung der erforderlichen Ausrüstung umzusetzen. Nur so können die für das komplexe Aufgaben- und Einsatzspektrum notwendigen Fähigkeiten aufgebaut werden. Der Blick auf die finanziellen Rahmenbedingungen, so wie sie gegenwärtig noch in der Bundeswehrplanung der nächsten Jahre abgebildet sind, muss jedoch eher nachdenklich stimmen, denn das Zwischenziel „Anfangsausstattung bis 2015“ wird bei einigen Fähigkeiten absehbar nicht erreicht werden können. Zudem kommen neue, wichtige Systeme nur in so geringen Stückzahlen hinzu, dass die Betriebskosten durch den Parallelbetrieb von altem und neuem Gerät steigen – ein derzeit nicht zu lösendes Dilemma. Soldaten im Einsatz, ganz unabhängig von der Farbe der Uniform, haben Anspruch auf das Beste, was unsere hoch entwickelte deutsche Gesellschaft und wehrtechnische Industrie bereitstellen können. Das steht hinter dem Anspruch: Einsatz verpflichtet – Soldaten und Gesellschaft.
Denn beim Einsatz von Soldaten geht es um Gesundheit, Leben und Tod, aber auch um Vertrauen und Motivation – ganz zu schweigen von dem in Zukunft immer wichtiger werdenden Faktor der Attraktiviät des Arbeitsplatzes, gerade vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung. Wertet man bisherige Konfliktverläufe aus, so bleibt festzustellen: Ganz gleich, wo und wann ein Konflikt beginnt, die Entscheidung fällt am Boden, weil unser Leben landzentriert ist. Als Inspekteur des Heeres ist es meine Aufgabe und Verantwortung, vom „worstcase“ her zu denken; dazu gehört die Bewährung von Einheiten und Verbänden im Kampfeinsatz. Auch darauf gilt es vorbereitet zu sein. Der Hinweis „Das steht jetzt nicht an, wir kümmern uns darum, wenn es so weit ist“ trägt nicht. Unsere Prioritäten sind konsequent an der Einsatzrealität auszurichten – heute, morgen und auch übermorgen.
HANS-OTTO BUDDE, geb. 1948, ist Generalleutnant der Bundeswehr und seit 2004 Inspekteur des Heeres.
Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 28 - 35.