Buchkritik

01. Sep 2010

Eine Welt, die uns gefällt

Buchkritik

Auf gleich mehreren Ebenen ist die Welt aus den Fugen geraten: ökologisch, wirtschaftlich, politisch, ethisch. Doch die bestehende Weltordnung ist keineswegs alternativlos. Amin Maalouf, Jeremy Rifkin, Nouriel Roubini und Stephen Mihm machen Vorschläge, wie sich unsere Zukunft gestalten ließe.

„Alternativlos“ scheint seit Jahren vieles im Westen: Militärintervention reiht sich an Militärintervention, ökonomisches Rettungspaket folgt ökonomischem Rettungspaket, Krisengipfel jagt Krisengipfel. Doch der Wähler wünscht sich mehr, vor allem: mehr Alternativen. Sagt ihm die Politik, es gebe keine, bleibt er am Wahltag immer öfter daheim.

Wenn sich in Krisenzeiten die Frage stellt, wie eine alternative Weltordnung aussehen könnte, ist Amin Maalouf in seinem Element. Der französisch-libanesische Schriftsteller und Journalist stellt bereits zu Beginn seines Essays die Auflösung der Weltordnungen fest: „Wir haben das neue Jahrhundert völlig orientierungslos begonnen.“ Schon in den ersten Monaten nach der Jahrtausendwende sei es zu beunruhigenden Ereignissen gekommen, die den Gedanken nahe legten, dass die Welt gründlich aus den Fugen geraten sei, und das auf mehreren Ebenen gleichzeitig: geistig, finanziell, ökologisch, geopolitisch und ethisch. Aus vier Gründen hegt Maalouf dennoch Hoffnung auf eine bessere Zukunft: Erstens scheint der wissenschaftliche Fortschritt weder durch Spannungen noch Konflikte aufzuhalten. Die Wissenschaft werde helfen, die Turbulenzen des 21. Jahrhunderts zu überwinden, etwa mit „sauberen Technologien“, mit denen man der globalen Erwärmung langfristig entgegenwirken könne.

Der zweite Anlass zu Optimismus ist für Maalouf die Tatsache, dass die bislang unterentwickelten Staaten mit der größten Bevölkerung im Begriff seien, ihre Rückständigkeit hinter sich zu lassen. Zwar könne sich dieser Prozess verlangsamen, es könne erneut zu Unruhen oder sogar Kriegen kommen. Aber man wisse jetzt, dass Unterentwicklung kein unabwendbares Schicksal sei, dass das Bestreben, jahrtausendealte Missstände wie Armut, Hunger, Seuchen oder Analphabetismus zu beseitigen, nicht mehr als naive Träumerei abgetan werden könne. Was sich für drei oder vier Milliarden Menschen als machbar herausgestellt habe, sei in ein paar Jahrzehnten auch für sechs, sieben oder acht Milliarden zu bewerkstelligen. Das sei unter dem Gesichtspunkt einer solidarischen und zukunftsoffenen Menschheit ein großer Schritt.

Wunschzettel für Europa

Als dritten Hoffnungsgrund führt Maalouf die Erfahrung des zeitgenössischen Europa an. In seinen Augen ist dem Alten Kontinent zumindest teilweise gelungen, was er sich auch für die übrige Welt wünscht: dass sich über Jahrhunderte verfeindete Nationen aussöhnen; dass die nachfolgenden Generationen eine gemeinsame Zukunft entwerfen, zuerst für sechs, dann für neun, zwölf, fünfzehn und schließlich für dreißig Nationen; dass sich die unterschiedlichen Kulturen miteinander verbinden, ohne einander Schaden zuzufügen.

Maalouf erinnert nicht zu Unrecht daran: Wenn Menschen zur Versöhnung der verschiedenen Nationen aufriefen, zur gegenseitigen Annäherung, zur solidarischen Verwaltung ihrer Umwelt und zur Planung einer gemeinsamen Zukunft, warf man ihnen häufig Naivität vor, da sie es gewagt hatten, derlei Utopien zu formulieren.

Die Europäische Union ist für Maalouf ein Beispiel für eben eine dieser angeblichen Utopien, die dennoch Wirklichkeit werden. Ihre Existenz beweise, dass die ehrgeizigsten Visionen nicht zwangsläufig naiv sind. Trotzdem ist Maalouf in Sachen EU keinesfalls ein Träumer. Pointiert listet er die fortwährenden Schwächen des europäischen Projekts auf.

Sein Wunschzettel ist lang: Europa solle mit gutem Beispiel vorangehen in punkto Koexistenz, nicht nur zwischen seinen Gründernationen, sondern auch in Bezug auf die Immigranten, die es aufnimmt; es solle sich viel mehr um seine kulturelle Dimension kümmern und gezielter mit seiner sprachlichen Vielfalt umgehen; ferner solle es der Versuchung widerstehen, sich zu einem exklusiven Klub der weißen, reichen, christlichen Nationen zu entwickeln; vielmehr solle es sich als Vorbild für die Gesamtheit der Menschen begreifen. Und vor allem: Auf institutioneller Ebene solle die EU eine einzige demokratische Einheit bilden, ein europäisches Äquivalent zu den Vereinigten Staaten von Amerika – mit Staaten, die größere kulturelle Besonderheiten aufweisen und sich für deren Schutz und Förderung einsetzen, aber mit Regierungen, die auf dem ganzen Kontinent am selben Tag gewählt werden und deren Autorität von allen anerkannt wird.

Bei allem Engagement für den Alten Kontinent vergisst Maalouf dabei nicht die Bedeutung der USA. Sein vierter Anlass zur Hoffnung ist – wenig überraschend – Barack Obama. Dessen Aufstieg verknüpft er mit der Rückkehr eines „vergessenen Amerikas“, das von Abraham Lincoln, Thomas Jefferson und Benjamin Franklin geprägt ist. Doch anders als beim New Deal von Franklin D. Roosevelt geht es nach Maalouf heute nicht allein darum, die Wirtschaft anzukurbeln und sozialen Fragen wieder mehr Beachtung zu schenken, sondern vor allem um eine neue globale Wirklichkeit, um neue Beziehungen zwischen den Nationen. Dazu brauche die Welt mehr denn je die USA, die, ausgesöhnt mit sich selbst und den übrigen Nationen, ihre globalen Aufgaben im Einklang mit den eigenen Werten ausüben – mit Redlichkeit, Gerechtigkeit, Großzügigkeit, sogar mit „Eleganz und Anmut“.

Schlachtfeld Umwelt

Während Maalouf in Entwicklung, technischem Fortschritt, dem Modell Europa und der Legitimität der USA die Fundamente einer alternativen Weltordnung sieht, die er mit dem „brennenden Zorn der Gerechten“ fordert, setzt Jeremy Rifkin auf Bewusstseinserweiterung. In „Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein“ plädiert der Gründer und Vorsitzende der Foundation on Economic Trends in Washington für eine auf Nachhaltigkeit beruhende Politik als Ausweg aus der globalen Misere.

Der amerikanische Soziologe und Ökonom glaubt, dass die heutige Ära des dezentralisierten Kapitalismus und der dritten industriellen Revolution der Menschheit ermöglicht, eine neue Art der Globalisierung zu gestalten: von unten nach oben gedacht, hochgradig vernetzt, gestützt auf regenerative und regional erzeugte Energien und damit weitgehend emissionsfrei. Diesen Weg müsse sich die Menschheit „erkämpfen“, nicht zuletzt die sich anbahnende Klimakatastrophe zwinge dazu. Dieser Wettlauf sei aber mit Schuldzuweisungen, traditionellen Denkmustern, Machtdemonstrationen und taktischen Manövern nicht zu gewinnen. An ihre Stelle soll eine Politik treten, die Rifkin „biosphärisch“ nennt. Sie basiert auf seiner Vorstellung, dass die Erde wie ein lebender Organismus funktioniert und „dass jeder von uns wächst und gedeiht, wenn wir das pflegen, wovon wir selbst ein Teil sind“. Die bisherige Geopolitik, die nach Rifkins Definition auf der Annahme fußt, dass die Umwelt ein „gigantisches Schlachtfeld“ sei, „auf dem wir um die Ressourcen kämpfen, um als Individuen zu überleben“, hat demnach ausgedient. Der Kollaps der Erde lasse sich nur verhindern, wenn das universalisiert empathische, das biosphärische Bewusstsein rechtzeitig die gesamte Menschheit umfasse.

Nach der Lektüre der zuweilen ein wenig über den Dingen schwebenden Essays von Maalouf und Rifkin ist es ein anregender Kontrast, sich mit dem auf pragmatische Handlungsvorschläge ausgerichteten wirtschaftspolitischen Werk von Nouriel Roubini und Stephen Mihm zu befassen. Denn im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der Ökonomen hat Roubini, ehemals Wirtschaftsberater von Bill Clinton und jetzt Dozent an der Stern School of Business der New York University, die aktuelle Finanzkrise früh und exakt vorausgesagt.

Und nicht nur das: Roubini hält die Krise nicht für einen Jahrhundertsturm, für einen Ausreißer, wie er nur alle 100 Jahre vorkommt. Vielmehr hat der Gründer und Vorsitzende des Beratungsunternehmens Roubini Global Economics (RGE) zusammen mit seinem Co-Autor Stephen Mihm, der Geschichte an der University of Georgia lehrt, einen aufmerksamen Blick für die historische Statistik: Die Vereinigten Staaten leiden seit ihrer Gründung regelmäßig an brutalen Banken- und Finanzkrisen; schon im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde das Land immer wieder von lähmenden Panikattacken und Wirtschaftskrisen heimgesucht.

Daher haben Roubini und Mihm eine schlechte und eine gute Nachricht für ihre Leser: „Die nächste Krise wird kommen, und sie wird uns alle treffen. Doch wir werden sie überstehen.“ Denn der Weg zur Besserung sei zwar steinig, aber gangbar. Zunächst müssten Händler und Banker so vergütet werden, dass sich ihre Interessen mit denen der Aktionäre decken. Das bedeutet für die Autoren nicht unbedingt eine schlechtere Bezahlung, sondern lediglich, dass Mitarbeiter von Finanzunternehmen durch die Art ihrer Vergütung dazu motiviert werden, das langfristige Interesse der Unternehmen im Auge zu behalten. Auch die Verbriefungsregeln müssten überarbeitet werden, denn einfache Lösungen wie die Beteiligung der Banken am Risiko reichen nach Erfahrung der Autoren nicht aus. Sie halten weit radikalere Einschnitte für nötig – von größerer Transparenz bis hin zu mehr Vereinheitlichung und einer strengeren Regulierung des Verbriefungsprozesses. Vor allem aber müssten die Kredite vor der Verbriefung weitaus sorgfältiger geprüft werden. Wenn sie hohe Qualitätsstandards nicht erfüllen, müssen sie eindeutig als minder-wertig und riskant gekennzeichnet werden.

Roubini und Mihm fordern eine ebenso tiefgreifende Reform der Derivate, die sich in der jüngsten Krise als so fatal erwiesen haben. So genannte Freiverkehrsderivate müssten transparenter werden, über zentrale Clearingstellen und Börsen laufen und in Datenbanken registriert werden. Ihr Einsatz soll auf ein angemessenes Maß reduziert und ihre Regulierung einer einzigen Behörde unterstellt werden.

Rating-Agenturen an die Leine

Auch die Rating-Agenturen wollen Roubini und Mihm zwingen, ihr Geschäftsmodell zu verändern: Dass sie von den Unternehmen bezahlt werden, deren Bonität sie bewerten, habe zu Interessenkonflikten geführt. Stattdessen sollen Investoren für die Bewertung von Anlagen bezahlen. Schließlich soll die Rating-Branche stärker für den Wettbewerb geöffnet werden. Derzeit vereine eine Handvoll Firmen zu viel Macht auf sich.

Finanzunternehmen wie Goldman Sachs und Citigroup müssen nach Roubini und Mihm zerschlagen werden, da sie aufgrund ihrer Größe das System gefährden. Außerdem soll der amerikanische Kongress das Glass-Steagall-Gesetz von 1933 wieder einführen, das nach dem Börsencrash von 1929 Fusionen von Geschäftsbanken mit Investmentbanken verbot, aber unter Bill Clinton abgeschafft wurde.

Damit sich die Finanzgeschäfte nicht auf kleinere, weniger streng regulierte Unternehmen verlagern, sollen die neuen Regulierungen nicht nur eine bestimmte Gruppe von großen Instituten, sondern flächendeckend alle Finanzunternehmen erfassen. Zudem soll die Regulierung an wenigen Stellen mit größeren Befugnissen zusammengeführt werden. Da die Zentralbanken den größten Einfluss auf und die größte Verantwortung für den Schutz des Finanzsystems haben, sollen sie in Zukunft mit ihren währungs- und kreditpolitischen Instrumenten offensiver gegen Spekulationsblasen vorgehen.

Mehr Regulierung und Mitsprache

Roubini und Mihm sind sich bewusst, dass die Zentralbanken die Krise der Weltwirtschaft nicht alleine schultern können. Dazu bedarf es internationaler Regulierung. Sie sehen vor allem eine Stärkung des Internationalen Währungsfonds und die Einführung einer neuen internationalen Reservewährung als dringlich an. Schwellenländer sollen im IWF mehr Mitsprache erhalten, entsprechend der wachsenden Bedeutung der G-20-Staaten.

Dass sich Krisen durch solche Reformen ganz verhindern lassen, glauben die Autoren allerdings nicht. Trotz dieser an sich beunruhigenden Tatsache sehen sie Anlass zu Optimismus, denn Krisen können durchaus abgemildert und bewältigt werden. Schon während der Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren waren Politiker zu Reformen bereit gewesen, mit denen sie den Grundstein für fast 80 Jahre Stabilität und Sicherheit im Finanzsystem legten. Ihre Nachfolger im amerikanischen Senat scheinen sich im Sinne von Roubinis und Mihms Empfehlungen ähnlich ehrgeizige Ziele gesetzt zu haben.

Mitte Juli haben sich die USA auf die größte Reform der amerikanischen Finanzaufsicht seit den dreißiger Jahren geeinigt, in deren Mittelpunkt ein Insolvenzverfahren für Banken, mehr Verbraucherschutz und strengere Regeln für Hedgefonds und den Handel mit Derivaten stehen. Damit hat die Regierung Obama demonstriert, dass Politik auch im 21. Jahrhundert keinesfalls „alternativlos“ sein muss.

Maalouf, Rifkin, Roubini und Mihm sind mit ihren unterschiedlichen Ansätzen keine Konkurrenten, sondern ergänzen sich auf der Suche nach einer neuen Weltordnung. Wenn man ihre Entwürfe kombiniert, ergibt sich zumindest eine Ahnung davon, wie die Welt zukünftig aussehen könnte – den politischen und gesellschaftlichen Willen zu grundlegenden Veränderungen vorausgesetzt. Die Autoren zeigen auf unterschiedliche Art, wie reich an Alternativen die angeblich „alternativlose“ Politik unserer Tage ist.

Deren Protagonisten sollten diesen Vordenkern aufmerksam zuhören. Denn dann werden die Konturen einer Weltordnung sichtbar, in der sich Militärintervention nicht mehr an Militärintervention reiht, ökonomisches Rettungspaket nicht mehr ökonomischem Rettungspaket folgt, Krisengipfel nicht mehr Krisengipfel jagt. Nicht zuletzt der Bürger im Westen wüsste diese Alternativen zu schätzen. Am nächsten Wahltag bliebe er dann wohl kaum daheim.

Amin Maalouf: Die Auflösung der Weltordnungen. Berlin: Suhrkamp 2010, 251 Seiten, 24,80 €

Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt am Main: Campus 2010, 468 Seiten, 26,90 €

Nouriel Roubini und Stephen Mihm: Das Ende der Weltwirtschaft und ihre Zukunft. Frankfurt am Main: Campus 2010, 470 Seiten, 24,90 €

Dr. THOMAS SPECKMANN lehrt am Institut für Politische Wissenschaften und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 132 - 136

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