Weltspiegel

27. Juni 2022

Eine strategische Win-win-Situation

Der Beitritt Schwedens und Finnlands wird das Abschreckungs- und Verteidigungspotenzial der NATO in der nordisch-baltischen Region deutlich erhöhen.

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Bild: Schwedische Soldaten bei einem NATO-Manöver
Schon jetzt engste Partner der NATO, bald Mitglieder: Schwedische Soldaten beim Manöver „Cold Response 22“ in Norwegen, das die transatlantische Allianz im März 2022 mit Partnerstaaten abhielt.
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Am 18. Mai 2022 überreichten Finnland und Schweden NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ihre formalen Beitrittsgesuche. Damit ist Russlands Präsident Wladimir Putin mit seiner Strategie gegenüber dem Bündnis grandios gescheitert. Sein Ziel war es, die NATO zu schwächen; nun wird sie erheblich gestärkt. Putin wollte sie zum militärischen Rückzug aus Mittel- und Osteuropa zwingen; jetzt wird die Allianz sogar ganz Nordeuropa integrieren. Er will die NATO destabilisieren und spalten; jetzt konsolidiert sie sich weiter.



Viele Jahre verfolgten Finnland und Schweden eine Politik der militärischen Bündnisfreiheit in der Annahme, dies würde ihrer Sicherheit am besten dienen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, einen friedlichen Nachbarstaat, hat beide Länder veranlasst, diese Politik aufzugeben und Sicherheit innerhalb der NATO zu suchen. Denn auf NATO-Partner außerhalb des Bündnisses erstreckt sich die kollektive Verteidigungsgarantie der NATO nicht. Darüber hinaus ist der historische Schritt Finnlands und Schwedens ein weiteres Beispiel für das Wesen der ­NATO-Politik der offenen Tür: Es sind diese beiden freien und souveränen Staaten, die sich aus eigenem Antrieb für den Beitritt zum Bündnis entschieden haben. Sie widerlegen damit einmal mehr Putins und Außenminister Sergej Lawrows falsche Behauptungen: Eine NATO-Mitgliedschaft wird keinem Staat aufgezwungen. Und die NATO wird nicht erweitert, um Russland zu bedrohen. Vielmehr suchen Finnland und Schweden Schutz vor möglicher russischer Aggression.



Strategische Implikationen

Putin hat die euro-atlantische Sicherheitsordnung, so wie sie sich seit 1990 entwickelt hatte, zerstört. Die NATO verstärkt daher ihr Abschreckungs- und Verteidigungsdis­positiv weiter signifikant. Finnlands und Schwedens Beitritt fügen dem ein neues, strategisch wichtiges Element hinzu: die politische und militärische Kohärenz der gesamten nordisch-baltischen Region und ein breites Spektrum an modernen militärischen Fähigkeiten. Beide Länder sind langjährige NATO-Partner, die mit NATO-Streitkräften oftmals geübt und ­NATO-Standards übernommen haben. Seit 2014, als Russland die Krim annektierte und den Aufstand der Separatisten in der Donbass-Region unterstützte, sind beide die engsten Partner der NATO geworden. Es gab kaum ein Treffen der Außen- und Verteidigungsminister ohne eine Sitzung im sogenannten NATO-plus-zwei-Format, um Russlands Ziele und Vorgehen zu beraten und sich abzustimmen. So entstand ein hohes Maß an Einvernehmen über die sicherheitspolitischen Herausforderungen in der nordisch-baltischen Region.



Nach dem Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO wird die gesamte Region ein kohärenter geostrategischer Raum, weitgehend unter der Kontrolle der NATO. Mit Ausnahme der russischen Enklave Kaliningrad und der Region um St. Petersburg werden alle Ostsee-Anrainer NATO-Bündnispartner sein. Die Ostsee wird praktisch zu einem „Mare Nostrum“ der transatlantischen Allianz. Dies wird zu einem verstärkten Austausch von Informationen und nachrichtendienstlichen Erkenntnissen führen, zu gemeinsamer Planung, zur Koordinierung militärischer Aktivitäten und zu gemeinsamer Vorbereitung der kollektiven Verteidigung dieser Großregion.



Bedeutende militärische Fähigkeiten

Sowohl Schweden als auch Finnland verfügen über moderne Land-, Luft- und Seestreitkräfte und dynamische Verteidigungsindustrien. Beide Länder haben zu einer Reihe von Krisenreaktionseinsätzen im NATO- und EU-Rahmen beigetragen. Im Gegensatz zu den meisten anderen europäischen Staaten haben sie sich aber auch nach dem Ende des Kalten Krieges weiter auf Landesverteidigung konzentriert. Mit Tarnkappen-Korvetten für die Küstenverteidigung in großer Zahl, U-Booten und Versorgungsschiffen verfügt Schweden über leistungsfähige Seestreitkräfte. Mit einer 1340 Kilometer langen Grenze zu Russland hat sich Finnland seit Jahr und Tag auf die mögliche Verteidigung gegen Russland vorbereitet – mit modernen mechanisierten Truppen, einem der größten Artillerie-Arsenale Europas, einem der besten Nachrichtendienste, einer robusten Cyber-Abwehr und künftig mit modernsten Kampfflugzeugen vom Typ F-35. Während Schweden im Jahr 2017 die Wehrpflicht wieder einführte, hat Finnland sie die ganze Zeit über beibehalten und verfügt über eine aktive Reserve. Im Konfliktfall kann Helsinki schnell bis zu 280 000 Soldaten und Soldatinnen mobilisieren, im Notfall bis zu 900 000. Finnland beherbergt auch das European Centre of Excellence for Countering Hybrid Threats, das NATO-Bündnispartnern und EU-Staaten spezielle Expertise für die Verbesserung ihrer Resilienz gegen die hybride Kriegsführung Russlands vermittelt.  



Beide Länder werden das Abschreckungs- und Verteidigungspotenzial der NATO in der nordisch-baltischen Region also erheblich erhöhen. Im Gegenzug wird die Sicherheit Finnlands und Schwedens durch die kollektive Verteidigungsgarantie der NATO gestärkt, auch durch bilaterale Abkommen mit den Vereinigten Staaten. Finnland könnte zum Pfeiler der Verteidigung im Nordosten des ­NATO-Gebiets werden, während Schweden eine Schlüsselrolle für das Erringen der Seeherrschaft der NATO in Krise und Krieg zukommen könnte – mit der Insel Gotland als „unsinkbarem Flugzeugträger“, um zusammen mit der finnischen und deutschen Marine die Wirksamkeit von Russlands Baltischer Flotte ebenso wie die „­Anti-Access/Area Denial“-Fähigkeiten in Kaliningrad erheblich einzuschränken. Die beiden skandinavischen Staaten würden somit im Konfliktfall dazu beitragen, die baltischen Staaten auf dem See- und Luftweg militärisch verstärken und versorgen zu können.



Die baltische Region ist die Achillesferse der NATO-Verteidigung, weil sie zu Lande nur über den schmalen Suwałki-Korridor im Nordosten Polens mit dem restlichen NATO-Gebiet verbunden ist. Durch Finnlands und Schwedens Beitritt erhält die Verteidigung des Baltikums die notwendige strategische Tiefe. Der Beitritt wird damit zu einer stärkeren Luft- und Seepräsenz der NATO im Ostseeraum führen, und Finnland wird zur Luftverteidigung des Baltikums beitragen können.



Ein neues Gravitationszentrum?

Darüber hinaus wird Schwedens und Finnlands Beitritt die NATO enger mit dem Hohen Norden verbinden. Die Auswirkungen der globalen Erwärmung in der Arktis werden vermutlich den Zugang zu enormen Bodenschätzen und einen ganzjährig nutzbaren Seeweg zwischen Ostasien und Europa eröffnen. Damit wächst die Gefahr einer Konfrontation zwischen Russland, China (als selbsternanntem „Near-Arctic State“) und dem Westen in dieser Region.



Moskau hat seine militärische Präsenz in der Arktis deutlich erhöht und seine „Bastion Defence“ nach Süden ins Europäische Nordmeer und zum Nordatlantik hin ausgeweitet. Daraus erwachsen erhebliche Risiken für die NATO, einschließlich für die Verteidigung (Nord-)Norwegens, das auf militärische Verstärkung auf dem Seeweg vor allem durch Amerika angewiesen ist, in Zukunft allerdings auch über Schweden und Finnland auf dem Land- und Luftweg unterstützt werden könnte.



Vor diesem Hintergrund werden Schweden und Finnland gemeinsam mit Norwegen versuchen, die strategische Aufmerksamkeit der Allianz auf den Hohen Norden zu lenken. Sie werden ihr politisches und militärisches Gewicht dafür nutzen, dass die Arktis Gegenstand regelmäßiger Konsultationen im Nordatlantikrat wird, die Großregion in die strategisch-operative Eventualfallplanung des Bündnisses aufgenommen und die militärische Präsenz der NATO dort zur See und in der Luft erhöht wird. Da sich dadurch das Gravitationszentrum der Allianz in Richtung Norden verlagern könnte, muss darauf geachtet werden, den sogenannten 360-Grad-Sicher­heitsansatz der NATO demonstrativ aufrechtzuerhalten, denn Schutz und Verteidigung der NATO richten sich „gegen alle Bedrohungen aus allen Richtungen“, vor allem auch aus dem Süden. Für den Zusammenhalt des Bündnisses als Ganzem ist dies von wesentlicher Bedeutung. Schweden und Finnland sind gut beraten, sich aktiv an entsprechenden Planungen, Übungen und Missionen zu beteiligen, wenn sie erforderlich würden.



Deutschland wiederum konzentriert sich als zentraler und zentral gelegener europäischer Verbündeter auf Bündnisverteidigung zu Lande und daher heute auf die Unterstützung und Verstärkung seiner östlichen Verbündeten vor allem mit Land- und Luftstreitkräften. Nun stellt sich eine zusätzliche Herausforderung: Als Anrainerstaat der Ostsee wird sich Deutschland in vollem Umfang an der gemeinsamen Planung und Vorbereitung der kollektiven Verteidigung des gesamten nordisch-baltischen Raumes zu Lande, zu Wasser und in der Luft wie auch an entsprechenden Übungen beteiligen müssen. Berlin könnte sogar gebeten werden, die Funktion eines für die Ostsee zuständigen „Maritime Component Command“ (dann in Rostock) zu übernehmen, was allerdings von der künftigen NATO-Planung für diesen Großraum abhängt.



Europas strategische Verantwortung

Angesichts der russischen Aggression haben die Vereinigten Staaten ihre militärische Präsenz in Europa erheblich verstärkt. Nach wie vor stellen sie auch den Großteil der modernen militärischen Fähigkeiten, die die NATO für alle ihre Aufgaben braucht. Aber für Amerika ist China der Hauptgegner, ein „full-spectrum strategic rival“, regional und global. Die USA verlagern daher ihren strategischen Schwerpunkt in den indopazifischen Raum und werden ihre Streitkräfte entsprechend ausrichten.



Die Europäer müssen deshalb künftig weit mehr Verantwortung für Europas Sicherheit übernehmen und dafür einen deutlich größeren Anteil an hochmodernen Streitkräften und Fähigkeiten stellen, einschließlich multinationaler Großverbände, die für die Abschreckung und ­Verteidigung gegen Russland, militärisches Krisenmanagement im Süden und die Unterstützung der USA beim Schutz der Seeverbindungswege notwendig sind. Deshalb ist die Entscheidung des Deutschen Bundestags, ein „Sondervermögen“ in Höhe von 100 Milliarden Euro einzurichten, um die volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr wiederherzustellen, und darüber hinaus die Mittel für das Erfüllen der NATO-Fähigkeitsziele bereitzustellen, für die Effektivität der Allianz und Europas Sicherheit von entscheidender Bedeutung. Die Streitkräfte Finnlands und Schwedens werden sofort einen gewichtigen Beitrag zur Stärkung des europäischen Pfeilers der NATO leisten.



Wie geht es weiter?

Das neue Strategische Konzept der NATO, gebilligt durch die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Treffen in Madrid Ende Juni, weist den Weg für die Neuausrichtung der NATO auf ein grundlegend verändertes Sicherheitsumfeld auf regionaler und globaler Ebene. Das Bündnis arbeitet nun an der Umsetzung seines strategischen Plans für Abschreckung und Verteidigung im gesamten Verantwortungsbereich der NATO. Finnland und Schweden werden jetzt in diese Planung einbezogen. Es bleibt abzuwarten, was dies für die Präsenz von NATO-Streitkräften und militärischer Infrastruktur auf deren Territorium bedeutet. Nach derzeitigem Stand kann davon ausgegangen werden, dass die NATO dort keine Atomwaffen stationieren wird, ohne dass die Glaubwürdigkeit der Abschreckung darunter leiden würde.



Die Reaktionen aus Moskau auf die Beitrittsentscheidung Schwedens und Finnlands waren gemischt. Sie reichen von der Drohung, „Vergeltungsmaßnahmen“ zu ergreifen, beispielsweise durch Stationierung zusätzlicher Truppen oder von Iskander-Raketen im baltischen Raum, die auch nukleare Sprengköpfe tragen können, bis zur Aussage Putins, dass von Finnland und Schweden keine Gefahr ausgehe. Moskau behalte sich aber Maßnahmen vor, sollte die NATO „militärische Infrastruktur“ in den beiden Ländern etablieren. Man darf bezweifeln, ob sich der Kreml dies angesichts des verlustreichen Krieges in der Ukraine und der westlichen Sanktionen leisten kann. Zudem täten die möglichen Maßnahmen der Wirksamkeit der NATO-Strategie keinen Abbruch.



Die größte Herausforderung für die NATO liegt aktuell darin, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zur Zustimmung zum Beitritt Finnlands und Schwedens zu bewegen (diese stand bei Redaktionsschluss der IP noch aus). Er macht geltend, dass vor allem Schweden Mitgliedern der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die von der EU, den USA und anderen als terroristische Vereinigung eingestuft wird, Asyl gewährte. Schweden und Finnland weisen dies zurück. Die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung teilt Erdoğans Ziel, die PKK und deren Anhänger zu schwächen, wie und wo immer möglich.



Die Türkei würde sich allerdings mit einem fortgesetzten Veto selbst schaden, denn Ankara braucht die Unterstützung der NATO und vor allem der Vereinigten Staaten gegen den wachsenden russischen Druck im Schwarzmeerraum.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 66-70

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Mehr von den Autoren

Heinrich Brauß

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Die größte direkte Gefahr für Europa geht derzeit von Wladimir Putins Russland aus, die große strategische Herausforderung heißt China

Heinrich Brauß, Generalleutnant a.D., war von 2013 bis 2018 Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung. Heute ist er Senior Associate Fellow der DGAP.

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