Titelthema

26. Juni 2023

Moskaus Krieg, Pekings Macht

Die größte direkte Gefahr für Europa geht derzeit von Wladimir Putins Russland aus, die große strategische Herausforderung heißt China. NATO und EU müssen sich beiden stellen, und die Europäer müssen viel mehr für ihre Verteidigung tun.

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Bild: Junge Taiwaner lassen sich im Umgang mit Waffen ausbilden
Übung für den Fall der Fälle: Dass China Taiwan vereinnahmen und Kontrolle über ganz Ostasien gewinnen will, ist ein Szenario, auf das man sich in dem Inselstaat schon seit Langem vorbereitet.
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Im Dezember 2021, die russische Armee war bereits in einem großen Halbkreis um die Ukraine aufmarschiert, richtete Wladimir Putin je ein Ultimatum an die USA und die NATO. Wären sie akzeptiert worden, hätte das die sicherheitspolitische Entwicklung in Europa um Jahrzehnte zurückgedreht. Die Allianz sollte sich, so die Forderung aus dem Kreml, militärisch auf die Linien von 1997 zurückziehen, also vor der ersten Erweiterung um Polen, Tschechien und Ungarn, und die USA sollten ihre Nuklearwaffen aus Europa abziehen.



Die Konsequenzen einer solchen Entscheidung wären fatal: Mittelosteuropa würde ab der deutschen Ostgrenze zur Einflusszone eines neuen russischen Imperiums, das Putin errichten will: durch Anschluss der früheren Sowjetrepubliken Belarus, Ukraine, Moldau und Georgien und womöglich auch der drei baltischen Staaten. Und der Rest Europas wäre von der erweiterten nu­klearen Abschreckung der USA abgekoppelt, dem Schutzschirm gegen die russischen nuklearfähigen Mittelstreckenraketen, die gegen Europa gerichtet sind. Seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 kämpft die Ukraine also nicht nur um ihre Existenz, sie verteidigt auch Europas Sicherheit.



Märkte und Macht

Während von Putins Russland derzeit die größte unmittelbare Gefahr für Europa ausgeht, ist China die noch größere, strategische Herausforderung. Peking verfolgt eine umfassende Strategie geopolitischer Machtprojektion mit politischen, wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Mitteln.Es sucht Zugang zu Märkten weltweit; Investitionen in kritische Infrastrukturen und Schlüsseltechnologien durch Staatsunternehmen sollen die Kontrolle über globale Lieferketten sichern, politische Abhängigkeiten schaffen und China zu Einfluss auf Entscheidungen von Staaten und internationalen Organisationen verhelfen. Der rasante Ausbau der Streitkräfte und des nuklearen Raketenarsenals, untermauert durch den weltweit zweitgrößten Verteidigungshaushalt nach den USA, ist vor allem darauf ausgerichtet, die Bewegungsfreiheit amerikanischer Streitkräfte im Ost- und Südchinesischen Meer einzuschränken. Denn Peking will Taiwan vereinnahmen und Kontrolle über ganz Ostasien gewinnen.

Die aus Chinas Machtentfaltung folgenden Risiken für die westlichen Demokratien werden durch Pekings Kooperation mit Russland verschärft. Beide sprechen von „strategischer Partnerschaft“, beide eint das Ziel, den globalen Einfluss Wa­shingtons zurückzudrängen.

Für eine Reihe von Staaten im Indo-­Pazifik sind die USA aber Sicherheits­garant und entscheidender Faktor der militärischen Stabilität. Sie gewährleisten die Offenheit der Seewege und nehmen so eine geostrategische Aufgabe wahr, die für den freien Welthandel und damit auch für Europas Ökonomien von größter Bedeutung ist. Die transatlantische Gemeinschaft ist also durch zwei totalitäre Großmächte mit einem doppelten strategischen Risiko konfrontiert, im euroatlantischen und im indopazifischen Raum.



Russland stoppen, China eindämmen

Für Amerika ist China geostrategischer Hauptgegner und globaler systemischer Rivale. Das Gravitationszentrum der amerikanischen politischen und militärischen Strategie liegt daher in der indopazifischen Region. Schon jetzt sind dort rund 300 000 US-Soldaten präsent. Die Zahl der Stützpunkte auf den Philippinen wird erhöht, die militärische Kooperation mit Japan und Australien ausgebaut.

Allerdings ist die Eindämmung von Chinas Dominanzstreben im Indo-Pazifik strategisch mit der Abwehr von Putins Aggression in Europa verbunden. Putin muss auch gestoppt werden, um China in Schach zu halten. Würde der Westen die Ukraine nicht ausdauernd genug darin unterstützen, ihr Territorium zurückzugewinnen, könnte Peking dies als Schwäche und womöglich als Chance deuten. Insofern profitiert Taiwans Sicherheit vom Erfolg der Ukraine gegen die russische Armee.

Die USA sind nicht nur mit weitem Abstand die Hauptunterstützer der Ukraine; angesichts des Krieges ist auch ihre unentbehrliche Rolle als Führungsmacht der NATO und nukleare Schutzmacht Europas erneut offensichtlich geworden. Bei dem jetzigen Grad an militärischer Abhängigkeit von Amerika können es die Europäer aber nicht belassen.

Da auch die US-Streitkräfte für zwei mögliche Großeinsätze, in Europa gegen Russland und in Asien gegen China, nicht ausreichen würden, müssen die Europäer die Vereinigten Staaten hier entlasten und selbst viel mehr für die Sicherheit Europas tun. Zudem ist es alles andere als sicher, dass künftige US-Regierungen angesichts der Fülle von Herausforderungen weiterhin bereit sein werden, uneingeschränkt militärisch für Europa einzustehen, solange die wohlhabenden Europäer nicht selbst die Hauptlast für ihre Verteidigung übernehmen.

Als Wirtschafts- und Währungsunion hat die EU globale Interessen und erheblichen geoökonomischen Einfluss. Zugleich ist sie auf internationale Zusammenarbeit, offene Märkte und sichere Handelswege angewiesen. Die Europäer müssen in der Lage sein, ihre sicherheitspolitischen ­Interessen militärisch zu untermauern und als globaler Akteur gemeinsam strategisch zu handeln.

Davon sind die Europäer derzeit weit entfernt. Doch mit NATO und EU gehören sie zwei Organisationen an, die beide für die Sicherheit und Stabilität des Kontinents unerlässlich sind. Beide befassen sich mit der Entwicklung der notwendigen militärischen Fähigkeiten, und beide haben im Jahr 2022 Weichenstellungen vorgenommen, die für die sicherheitspolitische und militärische Handlungsfähigkeit der Europäer von überragender Bedeutung sind.



Richtungsweisende Entscheidungen

Auf ihrem Madrider Gipfel im Juni 2022 verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der Allianz ein neues Strategisches Konzept. Es spiegelt die Zeitenwende auf NATO-Ebene wider. Russland wird darin als die „bedeutendste und direkte Bedrohung“ bezeichnet, ein Satz, den man seit über 30 Jahren nicht mehr gehört hatte. Erstmals wird China in einem Strategischen Konzept der NATO erwähnt und sein Vorgehen als Gefährdung der Interessen und Sicherheit der Bündnispartner bezeichnet.

Im Lichte der neuen Gefahren ist „kollektive Verteidigung“ wieder der Hauptzweck der NATO, und zwar gegen sämtliche Bedrohungen aus allen Richtungen. Das ist neu und erfasst auch die Risiken, die von Terrororganisationen im Süden Europas ausgehen. Neu ist auch die überragende Bedeutung von Resilienz, also der Widerstandsfähigkeit gegen hybride, subversive Angriffe und Cyber-Attacken, aber auch gegen die Abhängigkeit von autokratischen Mächten bei kritischer Infrastruktur, Rohstoffimporten, Lieferketten und Energieversorgung.

Als Antwort auf die russische Bedrohung trafen die NATO-Spitzen zwei weitere richtungsweisende Entscheidungen: die signifikante Verstärkung der NATO-­Ostflanke und die Aufnahme Finnlands und Schwedens. Bisher liegt der Schwerpunkt an der NATO-Ostflanke auf Abschreckung mit multinationalen Gefechtsverbänden (Battlegroups) in den baltischen Staaten und Polen, der am meisten gefährdeten Region.

Im Lichte von Putins mörderischem Angriffskrieg und seinen geopolitischen Ambitionen reicht das nicht mehr aus. Die Allianz muss weit schneller als bisher mit wirkungsvoller Verteidigung vorn beginnen können, um einen Angriff rasch zum Scheitern zu bringen. Die multinationalen NATO-Verbände müssen also in kurzer Zeit zu Brigaden und weiter zu Divisionen aufwachsen können.

Mit dem sogenannten New Force Model steigt der Umfang der schnell verfügbaren NATO-Kräfte von 40 000 auf 300 000. Die große Mehrzahl müssen die Europäer stellen. Die Zahl der Battlegroups ist auf acht angewachsen; sie stehen heute auch in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Hinzu kommt die neue Allied Reaction Force für schnelle Krisenreaktion in gefährdeten Räumen.

Und schließlich ist der NATO-Beitritt Finnlands geostrategisch von größter Bedeutung – und für Putin eine strategische Niederlage. Schweden folgt hoffentlich bald. Im Norden entsteht ein geostrategisch kohärenter Großraum unter NATO-Schutz. Die Ostsee wird praktisch zum NATO-Binnenmeer. Die Verteidigung des Baltikums, das zu Lande nur über den sogenannten Suwałki-Korridor in Ostpolen mit dem Bündnisterritorium verbunden ist, erhält die nötige räumliche Tiefe fürs Heranführen von Verstärkungen, etwa aus Großbritannien, Dänemark und Schweden.



An strategischem Profil gewonnen

Derzeit arbeitet die NATO an der Umsetzung ihrer neuen Strategie in Verteidigungspläne. Daraus werden Streitkräfteziele abgeleitet, die die Verbündeten erfüllen müssen, jeder einen fairen Teil. Putins Krieg und seine geopolitischen ­Ziele haben aber auch in der Europäischen Union das Bewusstsein für die militärische Bedrohung geschärft, der Europa ausgesetzt ist. Dank der Verabschiedung mehrerer Sanktionspakete und der enormen wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine hat die EU erheblich an Profil als politisch-strategischer Akteur gewonnen. Dazu gehört auch die Entscheidung, der Ukraine den Weg in die Europäische Union zu öffnen.

Nun will die EU auch ihre „Europäische Verteidigung“ drastisch stärken. Angesichts der russischen Bedrohung herrscht allerdings Einigkeit, dass die militärische „Verteidigung Europas“ in der Verantwortung der NATO bleiben muss. „Europäische Verteidigung“ verhält sich zu ihr komplementär. Sie soll Gefahren von Europa fernhalten – durch zivile und militärische Einsätze zur Bewältigung von Krisen außerhalb Europas, durch die Unterstützung von Partnern beim Aufbau ihrer Verteidigungskapazitäten und schließlich durch den Schutz der EU-Bürger gegen Gefahren, die etwa von Cyber-Angriffen, Terrorismus, dem Organisierten Verbrechen, von illegaler Migration oder großen Katastrophen ausgehen.

Der „Strategische Kompass“ der EU vom März 2022 enthält ein ehrgeiziges Programm zum Aufbau von modernen Streitkräften, die über sämtliche Fähigkeiten verfügen („full-spectrum forces“), einschließlich einer Schnellen Eingreiftruppe von bis zu 5000 Soldaten und Soldatinnen, die weltweit für militärische Krisenintervention eingesetzt werden kann. Die EU will erhebliche Investitionen in die Modernisierung der Streitkräfte der Mitgliedstaaten wie auch in die Entwicklung der wehrtechnischen Kapazitäten in Europa lenken. Die EU-Nationen sollen zur gezielten Koordinierung ihrer Fähigkeitsplanung und gemeinsamen Entwicklung angehalten werden, etwa im Rahmen der „Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit“, die dann vom Europäischen Verteidigungsfonds finanziell unterstützt werden kann.

Um unnötige Doppelungen in EU und NATO zu vermeiden, muss ihre Streitkräfteplanung koordiniert werden, die Zielvorgaben müssen kohärent sein und die Fähigkeiten einander ergänzen. Da 22 Europäer Mitglied beider Organisationen sind, leistet die Entwicklung gemeinsamer Fähigkeiten im Rahmen der EU einen wichtigen Beitrag zur kollektiven Verteidigung der NATO und zur Stärkung des „europäischen Pfeilers“ der transatlantischen Gemeinschaft.



Unerlässliche Partner

Die Zusammenarbeit von NATO und EU hat in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht. Beide betrachten einander als unerlässliche Partner, und ihre grundlegenden Strategiedokumente ergänzen einander. Inzwischen arbeiten die Stäbe auf mehr als 70 Feldern zusammen, von der Abwehr hybrider und Cyber-Bedrohungen bis hin zur Nutzung des Weltraums oder den sicherheitspolitischen Auswirkungen des Klimawandels.

Doch die Sicherheitslage erfordert weitere innovative Schritte. So sollte die Fähigkeitsentwicklung von NATO und EU besser koordiniert werden.

Die EU will bis 2025 vor allem Lücken in entscheidenden militärischen Unterstützungsfähigkeiten für schnelle Krisenreaktion reduzieren. Zeitgleich aktualisiert die NATO ihre Defizitliste an Fähigkeiten für militärisch anspruchsvolle Verteidigungsoperationen. Da es sich hier nahezu ausschließlich um Mängel bei den europäischen (und nicht etwa den amerikanischen) Streitkräften handelt, sollten EU und NATO gemeinsam die 10 bis 15 europäischen Fähigkeitslücken bestimmen, die vorrangig zu schließen sind.

Ein großer Schritt in die richtige Richtung ist die deutsche „European Sky Shield Initiative“. Der Krieg in der Ukraine hat die überragende Bedeutung von Flug- und Raketenabwehr, weitreichenden zielgenauen konventionellen Flugkörpern und Drohnen gezeigt. Nun wollen 17 europäische Staaten gemeinsam Luftverteidigungssysteme beschaffen, die in der Lage sind, eine große Region zu schützen. So können die Europäer der NATO eine strategische Fähigkeit anbieten, die das Konzept von „Deterrence by Denial“ (Abschreckung durch Erfolgsvereitelung) durch territorialen Raumschutz mit konventionellen Mitteln unterstützt.

Mehr tun müssen die Europäer auch im Rahmen der amerikanisch-europäischen Lastenteilung in der NATO. Trotz der Abmachung, dass die Europäer zusammen mit Kanada rund die Hälfte der notwendigen Streitkräfte und hochwertigen militärischen Fähigkeiten stellen, kommt die Mehrzahl der unverzichtbaren und teuren Unterstützungsfähigkeiten in einigen Bereichen nach wie vor von den USA. Angesichts der Hinwendung Amerikas zum Indo-Pazifik müssen die Europäer unbedingt mindestens 50 Prozent der notwendigen Streitkräfte und Fähigkeiten aufbringen und sich schon jetzt darauf vorbereiten, dass ihr Anteil weiter steigt, vielleicht in Richtung 60 Prozent.

Neben dem Multinationalen Korpskommando Nord-Ost im polnischen Stettin könnte beispielsweise auch das Deutsch-Niederländische Korpskommando aus Münster einen multinationalen Großverband führen. Als „Rahmennation“ wäre Deutschland für die Planung und einheitliche Führung, für Ausbildung und Übungen im Großverbandsrahmen sowie für die Logistik verantwortlich.

Dass Truppen im Krisenfall sehr schnell über große Entfernungen und nationale Grenzen hinweg in ihre Einsatzräume verlegt werden müssen, ist besonders für die Verbündeten an der Nord- und Ostflanke der NATO entscheidend. Streitkräftemobilität in Europa ist daher ein gemeinsames politisch-militärisches Großprojekt von EU und NATO. Mit dem „Action Plan on Military Mobility 2.0“ der EU, einer erweiterten Auflage des Planes von 2018, sollen die Bestimmungen für den Grenz­übertritt von militärischen Verbänden und Gütern europaweit vereinheitlicht, die Genehmigungszeiten drastisch verkürzt und die zivile Verkehrsinfrastruktur für die militärische Nutzung optimiert werden. Die Europäische Kommission hat zugestimmt, solche Projekte mit den betroffenen Staaten gemeinsam zu finanzieren; die NATO unterstützt das aus ihrem Gemeinschaftshaushalt.

Aber die Materie ist komplex und die Koordination der Stäbe unterschiedlicher internationaler und nationaler Organisationen eine mühselige Angelegenheit. Daher sollten sich die Verteidigungsminister der besonders interessierten Nationen wie Deutschland und Amerika das Projekt zu eigen machen und in EU und NATO abgestimmt voranbringen.



Was Europa will und was es braucht

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat den Europäern schlagartig vor Augen geführt, dass sie wieder gezwungen sein könnten, gemeinsam mit den Amerikanern großangelegte militärische Operationen zu führen. Sie müssen daher die an die Ukraine gelieferten Waffensysteme und Munition schnellstmöglich ersetzen, ihre Rüstungsindustrie modernisieren und die Entwicklungs- und Produktionskapazitäten schnell und durchgreifend erhöhen. Noch immer reichen Europas Rüstungskapazitäten nicht aus, sind die Fähigkeitsprofile der europäischen Streitkräfte und Waffensysteme nicht genügend aufeinander abgestimmt. Europa investiert weit weniger in Forschung und Technologie als die USA und China. Die Entwicklung neuer Systeme ist teuer und langwierig. Material- und Munitionsreserven gibt es gerade in Deutschland kaum.

Zudem setzen die meisten europäischen Staaten neben der Erfüllung ihrer NATO-Streitkräfteziele in erster Linie nach wie vor auf nationale Prioritäten. Wollen die Europäer aber in der sich gnadenlos verändernden Weltlage bestehen, müssen sie Antworten auf einige zentrale Fragen finden: Über welche Streitkräfte wollen sie künftig verfügen, um in einem großen militärischen Konflikt zur Verteidigung Europas gemeinsam bestehen zu können? Wie wollen sie als geopolitischer Akteur glaubwürdig, also militärisch abgesichert, strategisch handeln können? Welche Beiträge müssen die europäischen Nationen aufbringen, die aufeinander abgestimmt sind und zugleich ihren NATO-Streitkräftezielen genügen? Und schließlich: Wie wollen sie eine wettbewerbsfähige und innovative Rüstungsindustrie schaffen?

Eines ist klar: Die erforderlichen militärischen Fähigkeiten können die Europäer nur entwickeln, beschaffen und bezahlen, wenn sie ihre Hauptwaffensysteme vereinheitlichen und in ausreichender Stückzahl produzieren und damit die Kosten senken – und wenn sie Duplizierungen vermeiden und Fragmentierung signifikant reduzieren. Die Verteidigungsminister der EU müssen also eine gemeinsame Vorstellung davon entwickeln, wie ein kohärentes europäisches Streitkräftedispositiv aussehen soll, das die Anforderungen der NATO und der EU erfüllt. Wichtig ist zudem, auch Großbritannien in diese Diskussionen einzubeziehen. Auf sein beträchtliches Potenzial kann Europa nicht verzichten.

Ein militärisch und technologisch hochentwickelter „Streitkräftepool“ der Europäer würde die Fähigkeiten der Amerikaner substanziell ergänzen, die europäisch-amerikanische Sicherheitspartnerschaft festigen, faire Lastenteilung ermöglichen und die Europäer befähigen, gemeinsam strategische Verantwortung zu übernehmen.



Grundpfeiler der Verteidigung

All das hat Folgen auch für die Bundeswehr. Sie muss konsequent auf ihren Hauptauftrag ausgerichtet werden: Bündnisverteidigung im NATO-Rahmen. Das erfordert effiziente Führung und uneingeschränkte Interoperabilität mit alliierten Streitkräften, vor allem der USA. Statt modular zusammengestellter Kontingente brauchen wir wieder voll ausgestattete Großverbände, aus denen dann auch Kräfte für internationale Krisenbewältigung gewonnen werden können. Und: In einer Krise werden die deutschen Streitkräfte zusammen mit den Amerikanern die ersten sein, die unsere Verbündeten im Osten unterstützen müssen; daher ist es nötig, mehr Kräfte dauerhaft in deutlich höherer Einsatzbereitschaft zu halten – Stichwort „Kaltstartfähigkeit“.

Als logistische „Drehscheibe“ im Zentrum Europas muss sich Deutschland besonders dafür einsetzen, in Europa zügig die politischen, infrastrukturellen, logistischen und militärischen Bedingungen dafür zu schaffen, dass NATO-Truppen schnell ihre Einsatzräume erreichen und dort versorgt werden können. Dazu müssen das neue Territoriale Führungskommando und rasch mobilisierbare Reserve-Verbände einen wesentlichen Beitrag leisten.

Und auch hier gilt es, Antworten auf eine ganze Reihe von Fragen zu finden. Was muss geschehen, damit die Bundeswehr genügend und gut qualifiziertes Personal bekommt? Können wir logistische Fähigkeiten noch zivilen Vertragspartnern überlassen, oder brauchen wir wieder organische Fähigkeiten in unseren Verbänden? Müssen wir Großgerät, Munition und Betriebsstoff in bestimmte Risikoregionen auslagern? Brauchen wir wieder einen Alarmkalender?

Deutschland steht vor einer doppelten Herausforderung von großer Dringlichkeit: Die Lücken, die durch die Abgabe von Großgerät und Munition an die Ukra­ine entstehen, müssen schnellstmöglich geschlossen werden, und die materielle Einsatzbereitschaft derjenigen Verbände und Truppenteile, die künftig in einer Krise schnell in den zugewiesenen Einsatzräumen der NATO präsent sein müssen, muss drastisch erhöht werden.

Mit dem Beschluss des Bundestags über das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr können etliche wesentliche Fähigkeitslücken geschlossen werden. Aber Personal- und Betriebskosten steigen, die Inflation ist hoch, und der Fähigkeitsbedarf wird mit den neuen NATO-Verteidigungsplänen erheblich steigen. Darum ist der Beschluss des Bundestags von größter Bedeutung, der die Bundesregierung verpflichtet, nach Ausschöpfen des Sondervermögens die Mittel bereitzustellen, die Deutschland für die Erfüllung der NATO-Streitkräfteziele in ihrer jeweils gültigen Version benötigt. Dem dient auch die beim NATO-Gipfel in Vilnius eingegangene Verpflichtung, dauerhaft mindestens 2 Prozent des BIP für Verteidigung auszugeben.

In der Mitte Europas gelegen, hat Deutschland ein elementares Interesse daran, dass die NATO ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit rasch und vollständig herstellt, die USA mit signifikanten Streitkräften in Europa bleiben und die Europäer gemeinsam militärisch handlungsfähig werden.

Eine mitentscheidende Voraussetzung dafür ist die volle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Sie muss „zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“, wie es Bundeskanzler Scholz vorgegeben hat. Das erwarten auch unsere Bündnispartner. Und das braucht Führung, Engagement, entschlossene Entscheidungen und einen langen Atem. Denn, so Verteidigungsminister Boris Pistorius, „der größte Teil der Zeitenwende liegt noch vor uns“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 14-21

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Mehr von den Autoren

Heinrich Brauß, Generalleutnant a.D. der Bundeswehr, ist Senior Associate Fellow der DGAP und war Beigeordneter NATO-General- sekretär für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung.