Brief aus...

01. Sep 2021

Eine Stadt am ­Limit

In Kairo, der am schnellsten wachsenden Großstadt der Welt, herrscht permanente Krisenstimmung.

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Bild: Zeichnung von Kairo
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Im Hochsommer, während einer in diesem Jahr ungewöhnlich lang andauernden Hitzewelle in Kairo, sahen die Menschen im Fernsehen zuerst die Bilder von den verheerenden Feuersbrünsten im östlichen Mittelmeerraum – und dann plötzlich von einem Großbrand im Zentrum der eigenen Stadt. Ein am Ufer liegendes, mehrstöckiges Restaurantschiff brannte lichterloh.

Eine riesige Rauchwolke hing über dem Nil –und erzeugte bei vielen sofort Katastrophenstimmung. Nicht auszudenken, welche Folgen es haben könnte, wenn das Feuer auf die Grünanlagen und die Häuser am Ufer übergreifen würde.



Ich kenne eigentlich niemanden in Kairo, der Vertrauen in das Krisenmanagement des Staates oder auch nur in die Feuerwehr hat. Es grenzt an ein Wunder, dass in einem der dichtbesiedelten Armenviertel nicht längst ein Großfeuer ausgebrochen ist, ausgelöst durch einen Kurzschluss oder die Explosion einer überhitzten Kochgasflasche. Ein Mitarbeiter des Kairoer Büros der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zeigte mir mal auf einem Satellitenfoto die schmalen Gassen eines solchen Viertels. Kein Feuerwehrauto käme da durch, erklärte er, und Wasserschläuche seien viel zu kurz für die manchmal mehr als zwei Kilometer langen Gassen. Da könne man einer Feuersbrunst eigentlich nur noch zuschauen.



Der Brand auf dem Restaurantschiff, bei dem zum Glück niemand zu Schaden kam, war noch nicht ganz gelöscht, da verschickte der staatliche Informationsdienst bereits Fotos, die zeigten, dass der Gouverneur von Kairo und der stellvertretende Innenminister an der Unglücksstelle ­eingetroffen waren. In der beigefügten Erklärung tauchte mehrmals das Wort Komitee auf; eines soll gebildet werden zur Untersuchung der Ursache, ein anderes zur Verbesserung des Katastrophenschutzes.



Also alles unter Kontrolle, so die Botschaft, aber viele meiner ägyptischen Freunde werden diese permanente Krisenstimmung nicht los. Die Stadt befindet sich am Limit. Bereits jetzt sollen in Al-Qahira al-Kubra, also im Großraum Kairo, 24 Millionen Menschen wohnen. Jeder vierte Ägypter lebt hier. Jährlich kommen schätzungsweise eine halbe Million Einwohner hinzu. Dem Marktforschungsinstitut Euromonitor zufolge ist Kairo die am schnellsten wachsende Großstadt der Welt.



Und alles andere nimmt ebenfalls zu: der Lärm, die Enge, die Luftverschmutzung, die Zeit, die die Menschen täglich in überfüllten Nahverkehrsmitteln verbringen, die Alltagsnöte generell. Derzeit steigen mal wieder die Preise, die viele schon heute nicht mehr bezahlen können. Bis September soll sich Benzin zum zweiten Mal in diesem Jahr verteuern. Ängstlich gucken die Menschen auf ihre Stromrechnungen, denn seit Juli gelten Preissteigerungen zwischen 8 und 26 Prozent.



Die nächste Hiobsbotschaft dann Anfang August: Präsident Abdel Fattah al-Sisi kündigt die Erhöhung der Preise für subventioniertes Brot an, zum ersten Mal seit viereinhalb Jahrzehnten. Welchen Sprengstoff solch ein Schritt birgt, zeigen nicht nur die tödlichen, sogenannten Brotunruhen von 1977, sondern auch die verzweifelten Versuche, die Preise seitdem nicht mehr zu erhöhen – stattdessen wurden in Abständen die Größe und das Gewicht der Brotlaibe verringert. Es sei unglaublich, sagte al-Sisi, dass man heutzutage für den Preis einer Zigarette fünf Fladenbrote kaufen könne. Damit hat er im Grunde recht, aber diese Erkenntnis hilft den Millionen von Menschen nicht, die nach der Teuerung dann am Brot sparen müssen. Eine der wichtigsten Losungen während der Revolution von 2011 am Tahrir-Platz lautete: „Brot, Freiheit, eine gerechte Gesellschaft“.  



In den Kaffeehäusern von Kairo wird erhitzt darüber debattiert. In den Medien dominiert dagegen die Erfolgspropaganda. Nur selten taucht im Fernsehen oder in den Zeitungen auch Unmut auf. Zum Beispiel, wenn den Menschen in ihre Straße eine Autobahn auf Brückenpfeilern gestellt wird, deren sechsspurige Fahrbahn nur wenige Zentimeter vor ihren Balkonen und Fenstern endet – so geschehen in Gizeh. Oder wenn im Stadtteil Heliopolis jahrzehntealte Bäume abgeholzt werden, weil Platz für noch eine Autobahnbrücke gebraucht wird. Darüber kann man sich gerade so noch öffentlich aufregen.

 

Die Menschen schweigen aus Angst

Bei Kritik an den politischen Verhältnissen drohen jedoch schnell Repressalien. Wie sehr dies die Menschen inzwischen eingeschüchtert hat, konnte ich jüngst bei der Arbeit an einem Radiobeitrag über das ägyptische Pendant zu den „Spätis“, den Berliner Spätverkaufsstellen, erleben. In Kairo ist es zwar (fast) nie zu spät zum Einkaufen, viele Supermärkte haben bis nach Mitternacht geöffnet, erst gegen zwei, drei Uhr wird es etwas ruhiger in den Straßen. Aber selbst dann leuchten überall kleine bunte Kioske – für alle, die dringend Getränke, Brot, Süßwaren oder Zigaretten brauchen oder die schnell ihre Mobilfunkkarten aufladen möchten. Viele dieser Kioske, auf Arabisch Kushk, sind rund um die Uhr offen.



Ich musste zwei Nächte lang mehrere Stunden durch die Stadt laufen, bis ich einen Kushk-Verkäufer fand, der bereit war, mir, dem ausländischen Journalisten, ins Mikrofon Fragen zu beantworten. Alle anderen hatten Angst, sie befürchteten, Schwierigkeiten zu bekommen, selbst bei diesem so harmlosen Thema. Als ich das einem ägyptischen Freund erzählte, erwiderte er traurig: „Aus Masr al-Mahrousa, dem von Gott beschützten Ägypten, ist Masr al-Makhrousa geworden, ein Ägypten, das zum Schweigen gebracht wurde.“



Jürgen Stryjak arbeitet seit 1999 als freier Journalist in Kairo und berichtet unter anderem für die ARD über 15 zumeist arabische Länder (@stryjakcairo). Sein jüngstes Buch: „Ägypten. Ein Länderporträt“ (2020).

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 114-115

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