Zurück in die Tyrannei
Seit sieben Jahren schon ist der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi an der Macht. Wenn es nach ihm ginge, würde er dieses Amt noch bis 2030 ausüben. Mit ihm steht das Militär wieder an der Spitze des Staates, alle Hoffnungen auf Demokratisierung haben sich in Luft aufgelöst – und in Gewalt
Im Sommer 2013 tauchte plötzlich das Wort „Sisimania“ in internationalen Medien auf. Kurz zuvor hatte das ägyptische Militär unter Führung des damaligen Verteidigungsministers Abdel Fattah al-Sisi den frei gewählten islamistischen Präsidenten Mohammed Mursi entmachtet. Mit Erstaunen beobachtete die Welt, wie al-Sisi, der neue starke Mann Ägyptens, bejubelt und gefeiert wurde. Bevor der General kam, wollte sie ihr Land verlassen oder sogar sterben, rief eine Ägypterin überwältigt von ihren Gefühlen ins Mikrofon eines Reporters. „Er ist kein Normalsterblicher wie wir. Er ist ein Geschenk Gottes, etwas Wunderbares. Wer ihn sieht, vergisst das Essen und Trinken. Ich könnte nur dasitzen und ihn anschauen.“
Al-Sisi kann diese plötzliche Popularität kaum überrascht haben. Dem Chefredakteur einer ägyptischen Zeitung erzählte er später im unveröffentlichten, aber geleakten Teil eines Interviewmitschnitts, dass er in einem Traum eine Uhr der Marke Omega am Arm hatte. Sie habe seinen Namen getragen. „Das bedeutete wohl, dass man mich eines Tages, wie die Marke Omega, auf der ganzen Welt kennen wird.“
Viele Ägypter hatten im Sommer 2013 die verkorkste Umbruchphase nach dem Volksaufstand von 2011 satt. Im Land herrschte Chaos, die Wirtschaft lag darnieder. Die Islamisten machten vielen Angst. Die Kandidaten der Muslimbruderschaft hatten die Parlaments- und mit Mursi auch die Präsidentschaftswahlen gewonnen; aber offenbar wollten die Islamisten das politische System nicht erneuern, sondern den Mubarak-Apparat nur übernehmen, um Ägypten nach ihren Vorstellungen umzugestalten. Abdel Fattah al-Sisi erschien in dieser Situation nicht wenigen im Land als Retter der Nation.
Bis zu jenem Zeitpunkt hatte er eine steile Militärkarriere hinter sich. Al-Sisi wurde am 19. November 1954 in einem Kairoer Innenstadtviertel geboren. 1977 machte er seinen Abschluss an der ägyptischen Militärakademie; er studierte Militärwissenschaften unter anderem in Großbritannien und besuchte bis 2006 das U.S. Army War College in Pennsylvania. Als Präsident Mursi ihn 2012 überraschend zum Verteidigungsminister ernannte, war al-Sisi bereits Chef des Militärgeheimdiensts.
Falls die Muslimbrüder in al-Sisi einen Verbündeten gegen den alten Militärapparat gesehen hatten, wurden sie bitter enttäuscht. Am 3. Juli 2013 war er es, der Mursi entmachtete und verhaften ließ. Dem Putsch gingen Massenproteste gegen Mursi unter Führung der Aktivistengruppe Tamarrod voraus. Später stellte sich heraus, dass die Sicherheitsorgane bei der Mobilisierung der Massen mitgeholfen hatten. Die Agentur Reuters belegte im Oktober 2013, dass „das Innenministerium eine Schlüsselkraft hinter dem Sturz des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens war“.
Zweieinhalb Jahre nach der Revolution von 2011 war also wieder das Militär an der Macht. Aber statt des versprochenen demokratischen Neubeginns folgten mehrere Massaker an fast ausnahmslos unbewaffneten Demonstranten. Beim dritten und blutigsten töteten Militäreinheiten und Sicherheitskräfte am 14. August 2013 auf dem Kairoer Rabaa-Platz mindestens 817 Mursi-Anhänger. Sarah Leah Whitson von Human Rights Watch erhob ein Jahr später schwere Vorwürfe gegen die Staatsmacht: Das Massaker bei der Räumung des Protestcamps sei eigenen Untersuchungen zufolge von höchster Stelle angeordnet worden. „Es fand vorher ein Treffen hochrangiger Vertreter von Regierung, Militär und Sicherheitsapparat statt. Daran nahmen der Innenminister, der Verteidigungsminister (al-Sisi) und die höchsten Kommandeure teil.“ Sie hätten den Einsatz geplant und damit gerechnet, dass es viele zivile Opfer geben würde.
Eine mögliche Erklärung für sein brutales Vorgehen lieferte al-Sisi Anfang 2018. Mit Blick auf die Revolution von 2011 sagte er mit drohender Stimme: „Was damals geschah, wird in Ägypten niemals wieder geschehen. Was damals scheiterte, wird auch jetzt erfolglos bleiben.“
Im bereits erwähnten geleakten Interviewmitschnitt hatte al-Sisi erzählt, wie ihm der frühere Präsident Anwar al-Sadat einst im Traum erschienen sei: „Sadat sagte mir, er habe früh geahnt, dass er später Präsident werde. Ich erwiderte, dass auch ich bereits weiß, dass ich einmal der Präsident von Ägypten sein werde.“ Im Juni 2014 gewann al-Sisi tatsächlich die Präsidentenwahl. Vier Jahre später wurde er im Amt bestätigt. Und 2019 ließ er das Volk über eine Verfassungsänderung abstimmen, die nicht nur die Verlängerung seiner jetzigen Amtszeit auf sechs Jahre erlaubt, sondern er soll sogar ein drittes Mal kandidieren dürfen. Al-Sisi müsste natürlich die Wahl 2024 gewinnen; aber niemand zweifelt daran, dass dies auch geschieht. Er wäre dann bis 2030 Präsident.
Die Wahlen 2018 fanden in einem Klima der Einschüchterung und Manipulation statt. Das Fernsehen zeigte in den Wochen zuvor endlose Programmschleifen mit Militärparaden, Marschmusik und Sprechern, die die Staatsmacht priesen. Kritiker kamen kaum zu Wort. Arbeitskollektive wurden geschlossen zur Wahl geführt. In Armenvierteln erhielten die Wähler nach der Stimmabgabe Kartons mit Nudeln und Butterschmalz, Polizisten holten Menschen aus Sammeltaxis, um sie zum Wahllokal zu scheuchen. Denn tatsächlich gehen immer weniger Menschen wählen, obwohl die Öffnungszeiten verlängert werden und Nichtwählern Strafen drohen. Zehntausende Regimekritiker landeten in den vergangenen Jahren im Gefängnis, unter ihnen Muslimbrüder, aber auch viele nichtislamistische Oppositionelle, Journalisten und Menschenrechtler.
Sein autoritäres Weltbild
Ägypten und sein Militär sind für al-Sisi im Grunde identisch. „Niemandem wird es gelingen, der Armee und der Polizei zu schaden“, erklärte er im September 2016, „wir werden es nicht zulassen, den Staat zu verlieren, denn dann wären wir alle verloren.“ Im Mittelpunkt dieses ganz und gar autoritären Weltbilds sieht er sich offensichtlich selbst. Gott habe ihn, erklärte er 2015, zu einem Doktor gemacht, der ein Problem diagnostizieren könne und der den wirklichen Zustand der Dinge verstehe. Staatschefs aus aller Welt, Geheimdienstexperten und „die größten Philosophen“, sie alle würden inzwischen verstehen, dass das, was er sage, rein, ehrbar und im besten Interesse sei. Niemand solle seine Geduld überstrapazieren: „Ich schwöre bei Gott, dass ich jeden, der dem Staat gefährlich nahe kommt, vom Erdboden verschwinden lassen werde.“
In einer anderen durchgesickerten Audioaufnahme verglich al-Sisi seine Landsleute, die Ägypter, mit Kindern. Die Armee sei wie ein Vater, der einen missratenen Sohn habe, welcher nichts begreife, erklärte er gegenüber Armeeoffizieren. Dieser unerhörte Vergleich – immerhin geht es um ein ganzes Volk – zeugt von Misstrauen gegenüber allem Zivilen. Das erklärt zum Teil die Militarisierung vieler Gesellschaftsbereiche unter al-Sisi, etwa der Wirtschaft und der Behörden. Der Präsident sagt, er müsse die Volkswirtschaft sanieren und vor allem den Terrorismus bekämpfen, den es ja tatsächlich gibt. Aber was könnte Extremisten mehr Zulauf verschaffen als staatliche Willkür und ein repressiver Polizeistaat?
Wer gehofft hatte, dass al-Sisi nach dem Militärputsch 2013 all jene mit ins Boot holt, die die Entmachtung der Islamisten begrüßt hatten, selbst wenn sie unterschiedliche politische Strömungen repräsentieren, der hatte sich getäuscht. „Das Regime denkt, dass es jetzt, nachdem es die Muslimbrüder erledigt hat, gegen alle anderen Widersacher vorgehen kann“, sagte ein Führungsmitglied der Sozialdemokratischen Partei Ägyptens im Interview, „es braucht keine demokratischen Kräfte oder irgendein ‚breites Bündnis‘.“ Das Land befinde sich unter al-Sisi auf dem Weg zurück in die Tyrannei.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2020; S. 7-9
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