Eine sozialistische Renaissance?
Anmerkungen zum politischen „Linksruck“ in Südamerika
Südamerika wendet sich dem Sozialismus zu – darauf zumindest lassen die Ergebnisse der jüngsten Wahlen schließen. Doch kann diese Entwicklung mit dem westlichen Konzept von „links“ überhaupt interpretiert werden? Die Staaten der Region entfalten eine erstaunlich wirtschafts-liberale und pragmatische Politik – auch aufgrund der momentanen Zurückhaltung der USA und günstige ökonomische Bedingungen.
„Will Latin America turn left?“ fragte das amerikanische Time Magazine kurz nach der Wahl von Chiles neuer Präsidentin Michelle Bachelet und brachte damit eine allgemeine US-amerikanische Besorgnis über einen „Linksruck“ in Lateinamerika zum Ausdruck. Das Düsseldorfer Handelsblatt konstatierte gar, dass die Wahl von Bachelet den „Linksruck in Lateinamerika zementieren“ würde: Neben Chile, Argentinien, Brasilien, Uruguay und Venezuela würde nun auch Bolivien bald von einem Sozialisten angeführt.
Tatsächlich gelten die Wahlerfolge der Präsidentschaftskandidaten Michelle Bachelet in Chile, Hugo Chávez in Venezuela, Lula da Silva in Brasilien, Néstor Kirchner in Argentinien, Tabaré Vásquez in Uruguay und Evo Morales in Bolivien in weiten Teilen Europas und den USA als Elemente eines einheitlichen Prozesses, der den Kontinent politisch deutlich nach links gerückt hat.
Teile der politischen Linken Westeuropas sind angesichts dieser Entwicklungen geradezu euphorisch gestimmt. Blickte früher Ché Guevarra mit heiligem Zorn von T-Shirts deutscher Kommunarden, so sind heute die Präsidenten Brasiliens und Venezuelas die neuen Popstars der Globalisierungsgegner. Folgerichtig eröffnete Chávez Ende Januar auch das größte Event der Globalisierungskritiker, das Weltsozialforum, in Venezuelas Hauptstadt Caracas. Venezuela finanzierte die Veranstaltung laut Medienberichten mit zehn Millionen Dollar.
Untaugliches Links-Rechts-Schema
Wenn in den Sozial- und besonders in den Politikwissenschaften der Untersuchungsgegenstand Lateinamerika behandelt wird, stellt sich häufig heraus, dass die Realität ungleich komplexer ist als sie auf den ersten Blick erscheinen möchte. Schuld daran ist zum großen Teil unsere westlich geprägte Perspektive, die unsere Wahrnehmung und Deutung gewisser Erscheinungen bestimmt und uns unter Umständen die nüchterne Sicht auf tatsächliche Entwicklungen verstellen kann. Erklärungsmodelle und Theorien, aus der Sicht der entwickelten Länder des Nordens formuliert, taugen oft nur sehr beschränkt zur Analyse der (politischen) Situation in Schwellen- und Entwicklungsländern. Das gilt besonders für das europäische Rechts-Links-Schema. Dieses hat – weit über 200 Jahre nach der Französischen Revolution – selbst in Europa an Aussage- und Erklärungskraft verloren. Dieses Konzept heutzutage bedenkenlos für eine Verortung politischer Führer in Lateinamerika zu verwenden, kann zu krassen Fehleinschätzungen und fehlgeleiteten Sympathien führen. In diesem Artikel soll deshalb der Frage nachgegangen werden, ob durch die erwähnten Präsidentschaftswahlen in Südamerika ein einheitlicher „Linksruck“ – möglicherweise gar eine sozialistische Renaissance – entstanden ist und welche Auswirkungen die aktuellen politischen Entwicklungen für die gesamte Region und ihre Stellung im internationalen System haben.
Die sozialistischen Präsidenten
In der Tat haben in den letzten Jahren Vertreter der klassischen Linken in mehreren wichtigen Staaten Lateinamerikas die Macht übernommen. In Brasilien, Chile und Uruguay regieren Präsidenten, die den Reihen der traditionellen sozialistischen Parteien der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterbewegung entstammen. Diese Parteien hatten teilweise noch bis in die frühen neunziger Jahre eine dezidiert sozialistische Programmatik, welche z.B. die Verstaatlichung des Bank- und Pensionswesens, Agrarreformen und die Nichtbezahlung der Auslandsschulden propagierte.
Entgegen dieser authentisch linken Programmatik ist Brasilien heutzutage geradezu ein Beispiel an liberaler Wirtschaftspolitik und disziplinierter Haushaltsführung. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva von der Arbeiterpartei (PT) gilt als absoluter Musterknabe des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank. Im Dezember erst kündigte Brasilien an, seine gesamten Schulden beim IWF vorzeitig zurückzuzahlen und wurde hierfür von IWF-Chef Rodrigo Rato in den höchsten Tönen gelobt.
Noch mehr sorgte Chiles scheidender Präsident Ricardo Lagos für günstige makroökonomische Daten, die sich an den Parametern geringe Inflation, (wenn überhaupt nur) niedrige Haushaltsdefizite und hohe Devisenreserven orientierten. Es gibt nicht das geringste Anzeichen für eine Änderung dieses erfolgreichen Kurses unter seiner Nachfolgerin Michelle Bachelet. Chile befürwortet die pan-amerikanische Freihandelszone (ALCA/FTTA) und schloss in den letzten Jahren bilaterale Freihandelsabkommen mit der EU/EFTA, China und schließlich mit den USA.
Auch Uruguay baut auf Stabilität und Haushaltsdisziplin und brüskiert seine Partner im Mercosur, weil es bereits Vorverhandlungen für ein bilaterales Freihandelsabkommen mit den USA führt. (Das Phänomen, dass Parteien der traditionellen Linken Lateinamerikas nachhaltig liberale oder orthodoxe Wirtschaftpolitiken verfolgen, ist im Übrigen nicht einmal neu. So war es die in Mexiko bis 2000 ununterbrochen regierende PRI (Partei der Institutionalisierten Revolution), die die mexikanische Volkswirtschaft über Jahre hinweg Schritt für Schritt liberalisierte und das Land an die USA und damit an die nordamerikanische Freihandelszone NAFTA annäherte.)
Die regierende klassische Linke in den genannten Ländern hat ihre Pläne für Armutsbekämpfung und eine Weiterentwicklung der Gesellschaft allerdings nicht aufgegeben. Ehrgeizige Infrastrukturprojekte und Investitionen in den Bereichen Gesundheit, Umwelt und Bildung zeugen davon. Man sucht gesellschaftspolitische Ziele allerdings nicht mehr auf Kosten unternehmerischer und wirtschaftlicher Freiheit zu erreichen. Wirtschaftspolitischer Pragmatismus ersetzt wirklichkeitsfremde Utopien. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Die genannten Länder weisen ein jährliches Wirtschaftswachstum auf, das sonst nur in China zu finden ist.
Ein weiterer Faktor fördert den Pragmatismus: Häufig sind die sozialistischen Präsidenten auf Koalitionen mit liberalen und bürgerlichen Kräften angewiesen, um Gesetzesvorlagen und den Haushalt im Parlament verabschieden zu können. Die Arbeiterpartei von Lula da Silva paktiert mit einer ganzen Gruppe moderater bis konservativer Parteien, während Chiles Sozialisten seit Jahren mit Christdemokraten, Sozialdemokraten und Sozial-Liberalen im Wahlbündnis Concertación de Partidos por la Democracia zusammengeschlossen sind.
Pragmatismus herrscht auch in der Zusammenarbeit mit dem regionalen Hegemon USA. Chile gilt Washington schlechthin als das Modell für die gesamte Region. Zu Uruguay unterhält man freundschaftliche Beziehungen. Brasilien wurde von Bush zum strategischen Verbündeten und natürlichen Führer Südamerikas erklärt.
Allerdings ist diese Kooperation mit den USA nicht bedingungslos. Im Vorfeld des zweiten Irak-Kriegs verweigerte Chile in der entscheidenden Abstimmung des UN-Sicherheitsrats –trotz intensiver US-Diplomatie – eine Zustimmung zum Krieg. Brasilien und Uruguay waren ebenfalls nicht in der „Koalition der Willigen“ vertreten. Die beiden Gründungsmitglieder des Mercosur haben zudem auf dem Gipfel der Amerikas vom letzten Herbst im argentinischen La Plata die Schaffung der von den USA favorisierten panamerikanischen Freihandelszone FTTA unter den gegebenen, für sie ungünstigen Bedingungen vorerst abgelehnt. Dies alles weist darauf hin, dass die sozialistischen Präsidenten eine enge und pragmatische, im Einzelfall aber realistisch-nüchterne Beziehung zu den USA suchen. Sie sind nicht mehr bereit, jeden Schritt, der aus Washington vorgegeben wird, automatisch mitzugehen.
Andere politische Phänomene: Chávez, Morales und Kirchner
Während die drei südamerikanischen Präsidenten des traditionellen sozialistischen Lagers die gängigen Charakteristika „linker Politik“ nicht unbedingt erfüllen, gibt es drei politische Führer anderer Provenienz, die sich nur schwer im Rechts-Links-Schema verorten lassen. Es handelt sich um Phänomene sui generis, die durch besondere lateinamerikanische Spezifika geprägt sind.
Venezuelas Präsident Hugo Chávez ist sicherlich die umstrittenste Person dieses Trios. Seine innenpolitische Machtbasis sowie sein gesamter außenpolitischer Einfluss gründen auf dem Rohstoff Erdöl. Venezuela stehen durch die weiterhin rapide steigenden Rohstoffpreise enorme Mittel zur freien Verfügung. Diese ermöglichen es dem Land, neben aufwendigen Sozialprogrammen auch eine expansive Erdöldiplomatie zu betreiben. Venezuelas Einflusshorizont erweitert sich zusätzlich, da die größten Volkswirtschaften Südamerikas, Brasilien und Argentinien, in der jüngsten Vergangenheit unter massiven Energiekrisen litten. Es ist offensichtlich, dass sich der Schlüssel zur Lösung dieses drängenden ökonomischen Problems im ölreichen Orinoko-Delta befinden könnte. Bedingt durch seine Rohstoffreserven ist Venezuela auf internationaler Bühne zudem nicht mehr irrelevant. Besonders die USA sind auf verlässliche Erdöllieferungen aus Venezuela angewiesen.
Hugo Chávez ist sicherlich alles andere als ein klassischer Linker oder gar ein Sozialist: Der ehemalige Oberstleutnant der Fallschirmjäger ist das authentische Produkt einer Erhebung von nationalistischen Armeeoffizieren. Ein Putschist, der heute noch gerne in Uniform auftritt. Sein Konzept der Bolivarianischen Revolution stellt eine diffuse Patchworkideologie dar, die maßgeblich vom argentinischen Antisemiten Noberto Ceresole beeinflusst wurde. Im Prinzip baut Chávez seine politischen „Glaubensinhalte“ aus den Einzelbausteinen Nationalismus, Antiamerikanismus, Antisemitismus, Antiliberalismus, Kollektivismus und lateinamerikanischer Dritte-Welt-Ideologie (Tercermundismo) der siebziger Jahre immer wieder neu zusammen. Von den Schriften eines Karl Marx wurde der nach eigenen Angaben gläubige Katholik und stramme Militär wohl nur sehr indirekt beeinflusst.
Seine völlige Missachtung demokratischer und rechtstaatlicher Strukturen lässt ihn auch nicht als demokratischen Linken erscheinen. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) kritisierte die Regierung in Caracas deutlich wegen des „aggressiven und angespannten Klimas“ im Verlauf der Wahlen zur Abgeordnetenkammer Ende letzten Jahres. Dem Aufruf der Opposition, die unfairen Wahlen zu boykottieren, folgten zwischen 75 und 83 Prozent der Wahlberechtigten. Dies gibt einen Hinweis darauf, dass die Popularität und die innenpolitische Machtbasis von Chávez nicht überschätzt werden sollten.
Seine Verbündeten auf internationaler Ebene (Argentinien, Bolivien, China, Kuba, Libyen und Iran) sucht Chávez nicht nach ideologischen Kriterien aus. Entscheidend ist einzig und allein ihre Opposition zu den USA. Wenn auch nichts anderes, so macht dies ihn offensichtlich so interessant für die von einer multipolaren Weltordnung schwärmende europäische Linke. Diese übersieht geflissentlich, dass Chávez sozialpolitische Reformen zum Großteil durch den ungebremsten Verkauf venezolanischen Erdöls in die USA finanziert werden. Sollte dieser Geldsegen versiegen, werden das bolivarianische Modell und die Popularität von Chávez bald an ihre Grenzen stoßen.
Evo Morales hingegen entstammt ebenso wenig der klassischen Linken. Seine Bewegung zum Sozialismus (Movimiento al Socialismo) trägt die europäische Ideologie zwar im Namen, ist aber in lateinamerikanischer Tradition ein buntes Bündnis miteinander konkurrierender sozialer Gruppen, welches schlussendlich nur den Zweck verfolgt, Morales Gefolgschaft für Abstimmungen zu mobilisieren. Keinesfalls handelt es sich um eine sozialistische Weltanschauungspartei. Persönliche und ethnische Loyalität und politischer Klientelismus spielen bei der Bildung einer politischen Bewegung in Lateinamerika meist eine größere Rolle als Inhalte oder gar Ideologie. Morales ist mehr als alles andere ein Indio-Führer. Die Indios bilden in Bolivien die große Bevölkerungsmehrheit. Sie machen 71 Prozent des Staatsvolks aus, was mit dem Anteil der Armen quasi deckungsgleich ist. Morales selbst entstammt der Ethnie der Aymara und bereits seine pompöse Amtseinführung in den Ruinen von Tiahuanaco nahe des Titicacasees gab einen Hinweis darauf, dass seine Weltsicht mehr vom Inka-Reich als von philosophischen Konzepten aus dem Europa des 20. Jahrhunderts inspiriert wird. Fakt ist, dass Morales eine Koalition mit linken und marxistischen Gruppen eingegangen ist, die nun die Einlösung seines Wahlversprechens fordern werden, den Rohstoffreichtum des Landes zu verstaatlichen. Es ist nicht verwunderlich, dass Morales dieses Versprechen bereits jetzt deutlich zurückgenommen hat.
Das dritte politische Phänomen stellt schließlich der argentinische Präsident Néstor Kirchner dar. Kirchner ist Mitglied der peronistischen Partido Justicialista und ein großer Bewunderer Peróns. In seiner Rhetorik und seinem gesamten Habitus bemüht er sich offensichtlich, seinem Idol zu gleichen. Der Militär Juan Domingo Perón war allerdings alles andere als ein klassischer Linker und wenn es etwas gibt, dass für den Peronismus inhaltlich geradezu konstitutiv war, dann ein expliziter Antikommunismus.
Auch Kirchner selbst war noch vor einigen Jahren alles andere als links, wovon besonders seine aktive Rolle bei der Privatisierung der Erdölvorkommen seiner patagonischen Heimatprovinz zeugt. Kirchners heute eher links anmutender Diskurs ist vielmehr dem enormen auf ihm lastenden Druck geschuldet, sich eine innenpolitische Machtbasis zu schaffen. Der Außenseiterkandidat Kirchner befand sich im Jahr 2003 in der Stichwahl mit dem Expräsidenten Carlos Menem, ebenfalls ein Peronist, und musste sich diesem gegenüber positionieren. Menem stand für die neoliberalen Wirtschaftsreformen seiner Amtszeit, die Dollar-Anbindung des argentinischen Pesos und die strategische Allianz mit den USA. Nach der verheerenden Finanzkrise von 2001 wurden in weiten Teilen der öffentlichen Meinung Argentiniens vor allem der IWF und die USA für den Zusammenbruch des Finanzsystems verantwortlich gemacht. Kirchner sammelte im Wahlkampf der Stichwahl alle gesellschaftlichen und politischen Sektoren, die dem liberalen Paradigma misstrauten und gewann.
Da Kirchner sich auch nach zwei Jahren keine verlässliche Parteistruktur schaffen konnte, ist er von der – selbst für Lateinamerika extrem anti-amerikanischen – öffentlichen Meinung abhängig. Seine Wirtschaftspolitik ist aber nach wie vor relativ marktwirtschaftlich orientiert. Keine einzige Privatisierung der öffentlichen Dienste wurde bisher rückgängig gemacht. Das Land trat auch nicht aus dem IWF aus, sondern bediente ganz im Gegenteil zu Beginn des Jahres die gesamten institutionellen Schulden des Landes bei der internationalen Finanzorganisation. In Sicherheitsfragen wird die Kooperation mit den USA fortgesetzt. Argentinien behielt selbst seinen Status als militärischer Verbündeter der USA außerhalb der NATO. Vielleicht wird sich auch für Kirchner ein argentinischer Sinnspruch bewahrheiten, der bereits in den Zeiten Peróns virulent war: „Der Peronismus ist ein Fahrzeug, das links blinkt und rechts abbiegt.“
Trotz alledem distanziert sich Argentinien in letzter Zeit immer merklicher von den USA und lehnt sich enger an Venezuela an. So förderte man auch den Beitritt Venezuelas zum Mercosur. Im Gegenzug kaufte Venezuela für knapp 1,5 Milliarden Dollar argentinische Bonds und lieferte verbilligtes Erdöl an Argentinien.
Pragmatische Sozialisten und antiamerikanische Populisten
Anhand des Beschriebenen können wir die Präsidenten der Region in zwei Gruppen einteilen:
Auf der einen Seite die Präsidenten der klassischen Linken, also Vertreter sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Parteien. Diese beherrschen sowohl das bevölkerungsreichste (Brasilien) als auch das wirtschaftlich dynamischste (Chile) Land des Kontinents. Sie entstammen zwar den traditionellen links-sozialistischen Parteien, denken jedoch unideologisch und pragmatisch. Sie implementieren insgesamt liberale und angebotsorientierte Wirtschaftspolitiken, bekämpfen die Inflation und befördern im Großen und Ganzen die Integration ihrer Volkswirtschaften in die globalisierte Weltwirtschaft. Ihre Länder beteiligen sich am Kampf gegen den internationalen Terror und kooperieren außenpolitisch mit den USA, ohne jedoch die eigenen Standpunkte und Interessen aus den Augen zu verlieren.
Auf der anderen Seite finden wir drei Politiker, die nicht dem Lager der klassischen Linken entstammen, sondern völlig unterschiedlicher politischer Provenienz sind (ein nationalistischer Militärputschist, ein Peronist und ein Indioführer). Da keiner dieser drei Präsidenten etablierte und verlässliche Machtstrukturen hinter sich weiß, instrumentalisieren sie einen rhetorischen Populismus, der sich hauptsächlich gegen „Neoliberalismus“ und das „Imperium“ USA richtet. Diesem mehr oder minder linken Diskurs lassen sie aber in sehr unterschiedlichen Graden Taten folgen. Eine gewisse Zusammenarbeit dieser drei Länder zeichnet sich zwar ab, doch nicht auf der Basis einer gemeinsamen politischen Ideologie. Was daraus jenseits von luftigen Ankündigungen entsteht, ist momentan sehr ungewiss.
Angesichts eines solchen Bildes wird man kaum von einem einheitlichen „Linksruck“ oder gar einer sozialistischen Renaissance sprechen können: Die regierenden sozialistischen Präsidenten in Chile, Brasilien und Uruguay sind moderne und moderate Pragmatiker, die es mehr mit Tony Blair als mit Karl Marx halten. Die Präsidenten Argentiniens, Venezuelas und Boliviens sind sicherlich keine Sozialisten, sondern machen in ihrem politischen Diskurs lediglich links- sozialistische Anleihen. Sie sind Populisten, deren politische Positionierung in gewissem Maße flexibel ist. Die Realisierung linker Gesellschaftsutopien ist sicherlich kein gemeinsames Anliegen von Chávez, Kirchner und Morales (besonders im Fall Kirchners liegen gar keine Indizien für geplante gesellschaftliche Systemveränderungen vor). Die authentischen Linken sind weder antiamerikanisch noch vertreten sie linke Politik. Die authentischen Antiamerikanisten hingegen sind in unserem Sinne keine Linken. Antiamerikanismus macht aus einem Populisten noch lange keinen Sozialisten. Vermutlich müssen sich Globalisierungsgegner Idole außerhalb der Region suchen.
Die sechs Präsidenten teilen keine ideologischen Grundlagen oder Werte, haben kein gemeinsames Konzept und sehr unterschiedliche Einstellungen zu Markt, Demokratie und Rechtsstaat. Gemeinsame politische Vorstellungen, die eine breite Allianz von Chile über Brasilien bis hin zu Venezuela ermöglichen würden, existieren ganz offensichtlich nicht. Die Gründe, warum sie gewählt wurden, gleichen sich allerdings: Sie müssen in ihrer Amtszeit die noch immer große Armut überwinden helfen und endlich breiten Schichten Zugang zu Gesundheit und Bildung ermöglichen. In der Tat herrscht auf dem gesamten Kontinent die Meinung vor, dass das neoliberale Modell nicht automatisch allen Menschen Wohlstand und Hoffnung brachte. Die Erwartungshaltung an die sechs Präsidenten ist groß.
Reaktionen in den USA
Sicherlich wird die wirtschaftliche und politische Kooperation in Süd-amerika in den nächsten Jahren punktuell ausgebaut werden. Die unvollendete Freihandelszone Mercosur hat diesbezüglich ein gewisses Potenzial, das momentan allerdings brach liegt. Die Tatsache, dass Venezuela seit Dezember Mitglied des Mercosur ist, ohne seine Zollsätze dem gemeinsamen Markt angepasst zu haben, wird eine Vertiefung und Weiterentwicklung des Mercosur eher lähmen als fördern.
Die offizielle Haltung der Vereinigten Staaten gegenüber der momentanen politischen Entwicklung in Lateinamerika ist so leise und profillos wie niemals seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Schwierigkeiten bei der Vollendung der panamerikanischen Freihandelszone ALCA/FTTA wurden schnell eingeordnet und selbst heftige rhetorische Attacken einzelner präsidentieller Amtsträger (Kirchner, Chávez) werden mit beispielloser Duldsamkeit ertragen. Unumwunden gibt man zu, man habe zu lange zu einseitig auf rigide Haushaltspolitik gesetzt und die soziale Entwicklung vernachlässigt. Darüber hinaus signalisiert man Verständnis für Pläne zur Armutsbekämpfung und Einkommens-umverteilung. Von Interventionen ist man weiter entfernt denn je. Das State Department will in Lateinamerika die Einsicht fördern, dass demokratische Regierungsform, Rechtsstaatlichkeit und wirtschaftliches Wachstum einander bedingen. Personelles Zeichen des „gentler touch with Latin America“ war die Berufung des moderaten Karrierediplomaten Tom Shannon zum Assistant Secretary for Western Hemisphere Affairs im vergangenen Herbst. Dieser nahm sogar an der schillernden Amtseinführung von Morales teil.
Der Fokus US-amerikanischer Außenpolitik liegt gegenwärtig im Nahen und Mittleren Osten. Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ist zum Dreh- und Angelpunkt amerikanischer Politik geworden. Folgerichtig erwartet Washington momentan nicht besonders viel von den Staaten Südamerikas. Lediglich die Kooperation bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus und des regionalen Narkoterrorismus sowie in Fragen der Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen wird seitens Washingtons unbedingt vorausgesetzt. Solange diese Bedingungen erfüllt sind, werden die Staaten der Region in allen anderen Belangen eine ziemlich „lange Leine“ haben. Die von gemäßigten Sozialisten regierten Länder werden diese Kooperation gewährleisten. Ebensolches scheint in Argentinien der Fall zu sein, wo man in den neunziger Jahren selbst Opfer terroristischer Anschläge zu beklagen hatte. Die geplante Legalisierung des Coca-Anbaus in Bolivien stellt zwar ein potenzielles Konfliktfeld mit den USA dar, doch hat Morales Washington bereits wissen lassen, dass er nicht daran denke, die Produktion und den Handel mit Kokain zu legalisieren. Wenige Wochen später führte Präsident Bush ein erstes persönliches Telefongespräch mit dem Indio-Präsidenten, in welchem er Morales seine Hilfe anbot. Im gleichen Atemzug machte William Francisco, der Leiter der Drogenbekämpfungsstelle der amerikanischen Botschaft in La Paz, eine geradezu revolutionäre Aussage: „Unser Kampf gilt nicht der Coca (Anm. d. Autors: Pflanze), sondern dem Kokain.“
Einzig die Unterstützung des iranischen Atomprogramms durch Venezuela könnte eine ernstzunehmende Verstimmung der USA zur Folge haben. Venezuela ist in dieser Frage innerhalb Lateinamerikas aber isoliert. Zudem sind Chávez populistische Sozialprogramme in hohem Maße abhängig von den Erdölexporten in die Vereinigten Staaten.
Befördert durch die nichtinterventionistische Haltung der USA und die günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen existieren große Chancen für die Staaten der Region, ausländische Investitionen zu werben, die demokratischen Institutionen zu stärken und die Grundlagen für ein nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum sowie die notwendigen sozialen und gesellschaftlichen Reformen zu legen. Sollten diese allerdings durch eigenes Versagen und angesichts der endemischen Korruption scheitern, entfiele die Möglichkeit, das „Imperium“ dafür verantwortlich zu machen.
PHILIPP FREIHERR VON BRANDENSTEIN, geb. 1976, ist Doktorand am Institut für Politikwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Stipendiat der Promotionsförderung der Hanns-Seidel-Stiftung.
Internationale Politik 4, April 2006, S. 96 - 102